Vergangene Woche ist die Tripartite am Widerstand des OGBL gescheitert. Im Gespräch mit dem Land erklärt seine Präsidentin Nora Back, weshalb ihre Gewerkschaft so hartnäckig am Index festhält und wie sie die sozialen Ungleichheiten bekämpfen möchte

„Wir sind in der Opposition angekommen“

d'Lëtzebuerger Land vom 08.04.2022

D‘Land: Der OGBL hat am vergangenen Donnerstag als einzige der drei national repräsentativen Gewerkschaften die Tripartite-Vereinbarung nicht unterzeichnet. Haben Sie seitdem mehr Mitglieder verloren oder neue hinzugewonnen?

Nora Back: Wir gewinnen zurzeit eher neue Mitglieder hinzu. Wir befinden uns in einem komplexen gesellschaftlichen Kontext. Während der Covid-Krise waren wir ganz einvernehmlich. Wir sind Gewerkschafter und keine Virologen, deshalb haben wir uns den Corona-Maßnahmen nicht entgegengestellt, obwohl Mitglieder uns das vorgehalten haben. Doch jetzt traut die Regierung sich – nach dieser schwierigen Zeit –, uns in unserem Kern-geschäft anzugreifen: in Fragen der Umverteilung, der gerechten Verteilung von Arbeit und Kapital, der Löhne und der Kaufkraft. Als Gewerkschaft ist es unsere Aufgabe, ein Gegenwicht zu bilden, wenn politische Fehlentscheidungen getroffen werden.

Vom Premierminister und auch von vielen Anderen wurde der OGBL als Buhmann dargestellt, der die nationale Solidarität während des Ukrainekriegs aufs Spiel setzt. Ist diese Kritik in Ihren Augen berechtigt?

Dieser Diskurs ist infect. Wenn wir in Luxemburg eine Indextranche verschieben, stirbt dadurch nicht ein Ukrainer weniger. Der OGBL war eine der ersten Organisationen, die zusammen mit anderen auf der Place Clairefontaine gegen den Krieg demonstriert hat. Von denen, die jahrelang Geschäfte mit russischen Oligarchen gemacht haben, habe ich dort keinen gesehen. Wir werden jedenfalls keinen tiefgreifenden Einschnitt in unser Indexsystem dulden, auch nicht unter dem Vorwand, dass in Europa Krieg herrscht.

Regierung, Patronat und die beiden anderen Gewerkschaften haben in ihrer Vereinbarung beschlossen, dass bis 2024 vorläufig keine Indextranche mehr ausbezahlt wird. Als Kompensation soll ein Energie-Steuerkredit vor allem Haushalte mit niedrigen Einkommen finanziell entlasten. Was ist daran schlecht?

Die Vereinbarung ist nichts anderes als eine Index-Manipulation. Die Lohnstrukturen in Luxemburg basieren auf dem Index-Lohngesetz, unser Kollektivvertragswesen hat oft indexierte Parameter in den Verträgen. Der Index soll den Kaufkraftverlust der Menschen ex post kompensieren. Das kann man nicht einfach durch einen Steuerkredit ersetzen, den die Beschäftigten mit ihren Steuern auch noch selber bezahlen. Schon alleine deswegen ist die Vereinbarung schlecht.

Die Betriebe zahlen doch auch Steuern.

Ja, aber viel zu wenig. Die Haushalte tragen wesentlich mehr Steuerlast als die Unternehmen, das ist belegt. Wenn die Regierung für soziale Gerechtigkeit hätte sorgen wollen, hätte sie die Besteuerung der Betriebe und der hohen Einkommen erhöhen müssen. Stattdessen schenkt sie sämtlichen Betrieben eine Indextranche, auch Amazon und den großen Banken, die hohe Profite eingefahren haben. Hätte die Regierung kleinen und mittleren Betrieben oder auch großen energieintensiven Unternehmen, die wegen der steigenden Preise Probleme haben, selektiv geholfen, hätte der OGBL mitgemacht.

Darauf hätten Sie sich eingelassen?

Wir hätten ein Zugeständnis für die Indextranche im August gemacht, wenn die Regierung uns eine reelle Gegenleistung zugestanden hätte, die die Beschäftigten wirklich entlastet hätte. Darunter verstehen wir nicht einen Steuerkredit, durch den nur ein kleiner Teil der Menschen seine Indextranche zurückbekommt. Wir wären keinen Deal eingegangen, bei dem zukünftige Indextranchen hypothekiert werden.

Was wäre denn eine angemessene Gegenleistung gewesen?

Eine unserer Hauptforderungen war die Anpassung der Steuertabelle an die Inflation.

Es ist nicht das erste Mal, dass eine Tripartite scheitert und die automatische Lohnanpassung ausgesetzt wird. Ungewöhnlich ist aber, dass LCGB und CGFP die Vereinbarung mittragen, der OGBL jedoch nicht. Wie kam es zu dieser Entsolidarisierung?

Die drei Gewerkschaften sind geschlossen in die Verhandlungen hineingegangen und hatten einen gemeinsamen Forderungskatalog, der lange Zeit Bestand hatte. Eskaliert ist die Lage erst am Ende der letzten Verhandlungsrunde, als die Regierung ihr Package auf den Tisch gelegt hat, das für sie nicht mehr verhandelbar war, wie Premierminister Xavier Bettel klargestellt hat. Für mich war es eindeutig, dass dieses Package weit unter dem Mandat lag, das ich vom OGBL bekommen hatte. Die Vorgaben, die LCGB und CGFP ihren Verhandlungsführern erteilt hatten, hat das Package erfüllt, deshalb haben sie es angenommen. Ich habe dafür Verständnis. Wir sind hier nicht in einem Gewerkschaftskrieg, sondern in einer Auseinandersetzung zwischen Regierung und OGBL.

Ist die Einheitsgewerkschaft, von der der OGBL seit Jahrzehnten träumt, nun noch etwas weiter in die Ferne gerückt?

Es gibt in der Tat unterschiedliche Auffassungen darüber, was eine Gewerkschaft mittragen und bewirken kann und soll. Die Einheitsgewerkschaft ist vielleicht weiter in die Ferne gerückt, doch zum Greifen nah war sie auch vor der Tripartite nicht. Tot ist die Idee aber auch nicht. Der OGBL ist grundsätzlich gegen Spaltungen in der Gesellschaft und letztlich ist die Tripartite-Vereinbarung nichts weiter als eine Spaltung vun de schaffende Leit. Denn selbst wenn Haushalte mit einem Monatseinkommen von bis zu 4 000 Euro jetzt mehr erhalten als mit einer Index-Tranche: Wer sind wir, zu sagen, solche Hauhalte seien Großverdiener im Gegensatz zu jenen, die nur 3 900 Euro verdienen?

1982 gab es eine ähnliche Situation wie jetzt. Vor ziemlich genau 40 Jahren organisierten die Gewerkschaften einen großen Warnstreik mit 80 000 Teilnehmern. Gebracht hat er im Endeffekt wenig, denn der Index wurde trotzdem für zwei Jahre moduliert. Was wollen Sie jetzt tun?

Anders als LCGB und CGFP ist der OGBL schon der Meinung, dass der Generalwarnstreik von 1982 etwas gebracht hat. Es war eine Massenmobilisierung in einer Zeit, in der es notwendig war, dass die Arbeiter sich wehren. Das war ein historisches Ereignis. Die zehntausenden Demonstranten haben natürlich dazu beigetragen, dass politische Entscheidungen danach anders getroffen wurden, als sie ohne den Streik getroffen worden wären. Der Index wurde zwar manipuliert, doch das Indexsystem wurde durch den Generalstreik mit Sicherheit gerettet. Das System musste in der Geschichte immer wieder verteidigt werden. Heute sind wir wieder in einem solch historischen Moment.

Wird es wieder zu einem Generalstreik kommen?

Die Tripartite ist wegen der Regierung gescheitert. Xavier Bettel wollte nicht weiter verhandeln. Das war so nicht geplant, wir wurden selbst davon überrascht. Seitdem beraten unsere Gremien darüber, wie wir vorgehen sollen. Wir werden aber ganz sicher auf die Straße gehen und Aktionen durchführen, vorrangig am 1. Mai im Kulturzentrum Neumünster und an den Tagen, an denen die Gesetze zur Tripartite-Vereinbarung von der Kammer angenommen werden. Wir informieren jetzt erst einmal die Menschen mit Flugblättern, allen voran die Grenzpendler, weil vor allem sie in der Vereinbarung zu kurz kommen. Wir sind definitiv in der Opposition angekommen. Ich sage nicht, dass das immer gut ist, aber zum jetzigen Zeitpunkt ist es das Richtige.

1982 hatten die Gewerkschaften zumindest die Unterstützung der LSAP, die damals in der Opposition war. Heute stehen nur noch Linke, KPL und Piraten hinter Ihnen. Hat der OGBL sich unter Nora Back radikalisiert?

Ich glaube nicht. Der OGBL hat in der Geschichte immer wieder seine Oppositionsrolle erfüllt, in den vergangenen Jahren war es nur etwas weniger notwendig. Der Ras-le-Bol bei den Menschen ist aber gewachsen und er wurde auch politisch geschürt. Viele Menschen leiden, nicht mehr nur emotional wie in der Covid-Krise, sondern durch die Preisexplosionen inzwischen auch finanziell. Die Leute merken, dass sie ein bisschen gelinkt werden. Wir haben nach der gescheiterten Tripartite im Dezember nicht mehr nach einer neuen Verhandlungsrunde gefragt. Die nächste sollte erst im Juli sein, die Regierung hat uns aber schon im März zusammengerufen. Wir wussten, dass es nur um den Index gehen würde. Wir haben uns nicht radikalisiert, die Regierung hat uns provoziert. Sie wollte Sozialabbau betreiben zu einem Zeitpunkt, an dem es den Menschen wirklich schlecht geht.

Der Index ist vor allem dann gerecht, wenn die Einkommensunterschiede nicht zu groß sind, denn sämtliche Löhne werden um 2,5 Prozent erhöht. Die Reichen profitieren davon wesentlich mehr als die Armen. In einer Gesellschaft, in der die Ungleichheiten hoch sind - was in Luxemburg der Fall ist - trägt der Index nur noch zur Verschärfung dieser Ungleichheiten bei. Unabhängig davon, was Patronat und Regierung sagen: Ist das Index-System in seiner aktuellen Form noch zeitgemäß?

Der Index ist kein Instrument, um soziale Gerechtigkeit zu schaffen, sondern um den Kaufkraftverlust zu kompensieren, sowohl von niedrigen als auch von hohen Einkommen. Es ist ein rein mechanischer Automatismus. Der soziale oder gedeckelte Index wird immer wieder von Arbeitgeberkreisen ins Spiel gebracht, um den Index anzugreifen. Es ist ein populistischer Eintritt in die Diskussion, um die Geringverdiener aufzuhetzen, weil sie angeblich weniger vom Index haben als Besserverdiener. Wenn ausgerechnet Michel Reckinger oder Michel Wurth behaupten, der Index sei nicht sozial, zeigt das ja schon die Absurdität dieser Aussage. Denn wenn die Arbeitgeber auf einmal ihre soziale Ader entdecken, täten sie gut daran, für mehr soziale Gerechtigkeit in ihren Betrieben zu sorgen. Sie täten gut daran, die Schere zwischen niedrigen und hohen Löhnen in ihren Unternehmen zu schließen. Sie täten gut daran, bessere und sichere Arbeitsplätze zu schaffen. Die Regierung greift das Argument, dass der Index nicht sozial sei, jetzt auf, was genauso perfide ist. Denn sie hat die politische Vollmacht, um gegen die sozialen Ungleichheiten vorzugehen. Das tut sie aber nicht, sondern sie lässt es einfach zu, dass Prekarität und Armut steigen. Und jetzt soll der Index die Ungleichheiten aus der Welt schaffen, gegen die die Regierung jahrelang nichts unternommen hat? Dabei wäre die Steuerpolitik das geeignete Instrument, um gegen soziale Ungleichheiten vorzugehen.

Der Index ist doch ohnehin wirkungslos, denn seit 1996 die automatische Anpassung der Steuertabelle an die Inflation abgeschafft wurde, frisst die kalte Progression jede Lohnerhöhung gleich wieder auf.

Deshalb muss die Steuertabelle an die Inflation angepasst und gestreckt werden, um den Mittelstandsbuckel abzuflachen. Der Spitzensteuersatz muss erhöht werden und bei den niedrigen Gehältern muss die Besteuerung erst ab einem höheren Betrag einsetzen. Nur so kann man für mehr soziale Gerechtigkeit sorgen.

Immer wenn er eigentlich am dringendsten gebraucht wird, wird der Index eh ausgesetzt oder “verschoben”, ohne dass die Gewerkschaften etwas dagegen tun können. Ist das Engagement für den Index nicht doch nur ein Alibi-Kampf für etwas, das schon seit Jahrzehnten nicht mehr funktioniert?

Die Gewerkschaften haben sich in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder für die automatische Lohnanpassung eingesetzt und sie erhalten. Wenn wir Modulationen zugestimmt haben, dann nur, wenn wir ernsthafte Gegenleistungen erhielten. Das wohl wichtigste Beispiel war 2009, als wir das Einheitsstatut bekamen. Das war ein wirklicher sozialer Fortschritt fir déi schaffend Leit.

Wäre die Einführung einer Mindestbetrags für niedrige Löhne und eines Höchstbetrags für hohe Einkommen beim Index sinnvoll? Die KPL hatte das schon in den 1970-er Jahren gefordert.

Wenn wir ernsthaft darüber diskutieren, dass Haushalte mit sehr hohen Einkommen keine Index-tranche mehr erhalten und diese Lohnmasse dann auf die kleinen Einkommen verteilt wird, sind wir dabei. Aber solange es nur eine Alibi-Diskussion ist, um den Index anzugreifen, werden wir uns nicht darauf einlassen.

Die Einkommensunterschiede in Luxemburg sind trotz eines vergleichsweise hohen Mindestlohns enorm. Vor Sozialtransfers hat Luxemburg die zweithöchste Ungleichheitsrate in der EU. Nur dank staatlicher Hilfen kann sie etwas gesenkt werden, sie ist aber auch nach Sozialtransferts noch überdurchschnittlich hoch. In Belgien oder den skandinavischen Ländern mit einer hohen Syndikalisierung ist die soziale Ungleichheit wesentlich geringer. Müssten die Gewerkschaften in Luxemburg nicht neue Wege finden, um gegen Ungerechtigkeiten vorzugehen?

Wir brauchen mehr Kollektivverträge. Wir hätten bei der Tripartite auch gerne mit dem neuen Arbeitsminister darüber diskutiert. Wieso will die Regierung uns nicht ein besseres Gesetz gewähren, damit wir mehr sektorielle Tarifverträge verhandeln können? Auf diesem Weg können wir sicherstellen, dass keine Dumping-Löhne bezahlt werden und die Lohnungleichheiten nicht zu groß sind. Doch über 50 Prozent der Betriebe in Luxemburg haben keinen Kollektivvertrag. Sowohl die EU-Kommission als auch die OSZE empfehlen, die Tarifverträge zu stärken, wir sind hier also nicht in einem ideologischen Klassenkampf. Doch die Regierung unternimmt nichts in diesem Bereich, obwohl die Reform des Kollektiv-vertragswesens im Regierungsprogramm steht.

Der soziale Fortschritt hat in den vergangenen Jahrzehnten in Luxemburg stagniert. Weder eine Reduktion der Arbeitszeit, noch signifikante Lohnerhöhungen sind zu verzeichnen. Auch die tarifvertragliche Abdeckung und die betriebliche Mitbestimmung gehen seit 50 Jahren eher zurück. Macht das auf Konsens ausgerichtete korporatistische Lëtzebuerger Modell mit seinen unzähligen Tripartite-Gremien und dem Index überhaupt noch Sinn?

Im Moment ist es schwierig, diese Frage zu beantworten. Mein Vertrauen in den Sozialdialog wurde ein bisschen erschüttert. In einem Monat denke ich vielleicht wieder anders, doch zurzeit begleitet die Tripartite den Sozialabbau und die Umverteilung von unten nach oben. Niemand will Zustände wie in Frankreich mit den Gilets jaunes und dass es überall brennt. Wir wollen das auch nicht. Der Sozialdialog und der soziale Frieden sind uns wichtig, wir wollen nicht um jeden Preis Krawall. Aber manchmal ist das wahrscheinlich einfach notwendig, wenn der Kuschelkurs nicht mehr aufgeht. Und dieser Zeitpunkt ist jetzt gekommen. Die Tripartite ist damit aber nicht tot. Es kommt in jeder Familie vor, dass man sich mal streitet. Das bedeutet aber nicht, dass man nie wieder zusammenfindet. Der Angriff auf den Index stellt für mich einen viel schwereren Verstoß gegen des Luxemburger Sozialmodell dar, als die Verweigerung des OGBL, die Tripatrtite-Vereinbarung zu unterzeichnen.

Wie die politischen Parteien haben auch die Gewerkschaften Schwierigkeiten, neue Mitglieder zu finden. Laut Statec liegt das vor allem an den vielen französischen Grenzpendlern und daran, dass Gewerkschaften für junge Menschen nicht mehr attraktiv seien. Wie wollen Sie das angehen?

Die Statec-Analyse beruht auf falschen Daten. Die Zahl unserer Mitglieder sinkt nicht, sondern steigt beständig. Es stimmt aber, dass sie nicht so schnell wächst, wie die Zahl der Beschäftigten, und wir arbeiten jeden Tag daran, um das zu ändern. Was an der Statec-Studie ebenfalls nicht stimmt, ist die Aussage, dass der Anteil an jungen Menschen und Grenzpendlern zurückgeht. Genau das Gegenteil ist der Fall. Im vergangenen Jahr sind doppelt soviele Frauen wie Männer und doppelt so viele Grenzgänger wie Ansässige dem OGBL beigetreten; bei den 18- bis 35-Jährigen verzeichnen wir die höchste Zuwachsrate. Auch unser Staff besteht fast ausschließlich aus jungen Menschen, seitdem eine ganze Riege von altgedienten Gewerkschaftern geschlossen in Rente gegangen ist. Wir sind auf allen sozialen Netzwerken sehr aktiv und sprechen die Sprache der Jugend. Vielleicht hat der Generationswechsel dem OGBL gut getan, um sein zuletzt doch etwas verstaubtes Image loszuwerden.

Nach der Stahlkrise hat die Sozialstruktur in Luxemburg sich stark verändert. John Castegnaro und Jean-Claude Reding haben den OGBL für Grenzgänger geöffnet; André Roeltgen hat mit Ihrer Hilfe die Angestellten aus dem Pflegesektor mobilisiert. In welchen Sektoren kann die Gewerkschaft heute noch neue Mitglieder rekrutieren?

Der Dienstleistungsbereich rund um die Finanzindustrie ist die größte Herausforderung. Viele junge Akademiker kommen bei den Big Four und in anderen Unternehmen in diesem Sektor unter. In diesem eher gewerkschaftsfeindlichen Umfeld ist es schwer für uns, Fuß zu fassen. Damit das trotzdem gelingt, haben wir das Syndikat Dienstleistungen aufgebaut, wo inzwischen vier Mitarbeiter in Vollzeit tätig sind. Alle haben studiert, haben einen ähnlichen Background und sprechen die Sprache, die in diesem Sektor vorherrscht. Bei den Architektenbüros, wo Berufsanfänger total ausgebeutet werden, konnten wir bereits eine kleine Gewerkschaftsbewegung aufbauen. Die Plattformarbeit stellt eine weitere Herausforderung dar. Bei Stundenlöhnern und Scheinselbstständigen ist es aber nicht so einfach, weil sie häufig keine Arbeitsverträge haben oder manchmal nicht einmal wissen, wer ihr Arbeitgeber ist.

Kritiker werfen Ihnen vor, an einer Rhetorik der Kaufkraft und des Klassenkampfs festzuhalten, die „ideologisch“ und veraltet sei und nicht mehr den gesellschaftlichen Realitäten Rechnung trage. Die Gesellschaft ist in den vergangenen Jahrzehnten insgesamt liberaler geworden, auch in wirtschaftlicher Hinsicht. Müssen Sie ihren Diskurs überdenken?

Wenn es nur eine Frage von Terminologie oder Rhetorik ist, akzeptiere ich die Kritik. Doch wir wollen ja nur, dass die Menschen genug Geld haben, um über die Runden zu kommen und dass sie dezent leben können. Das ist unsere Daseinsberechtigung, das ist unser Programm. Den Vorwurf, wir seien ideologisch oder dogmatisch, kann ich nicht nachvollziehen, denn eigentlich sind wir ganz pragmatisch: Wir wollen einfach sichere Arbeitsbedingungen und gute Löhne, damit die Arbeitnehmer konsumieren können und ihr Geld in die Wirtschaft fließt. Wir sind ja nicht irgendwelche Hinterwäldler, die nicht wissen, wie das Wirtschaftssystem funktioniert.

Wie wichtig sind Konsum und Kaufkraft noch in Zeiten von Klimawandel, in denen immer mehr Menschen sich für Bescheidenheit und Verzicht entscheiden, um ihren Beitrag zur Rettung des Planeten zu leisten?

Die gerechte Transition und der Kampf gegen den Klimawandel beschäftigt die Gewerkschaften überall auf der Welt, weil dabei geht es auch um Umverteilung und Arbeitnehmerrechte. Der OGBL unterstützt die Energietransition, doch sie muss im Einklang mit der sozialen Frage stehen, denn sonst machen die Menschen nicht mit. Wenn das Benzin immer teurer wird und sie keine Alternative haben, weil der öffentliche Transport noch nicht leistungsfähig genug ist, geht die Rechnung nicht auf. Das gilt für Gebietsansässige, aber noch viel mehr für die Grenzpendler, auf die Luxemburg in hohem Maße angewiesen ist. Ähnlich ist es bei Mietern, die überhaupt keinen Einfluß darauf haben, ob ihr Vermieter nun mit Heizöl oder Holzpellets heizt. Wenn ihre Rechnung so teuer wird, dass sie sie nicht mehr bezahlen können, schaffen wir nur mehr Armut, was den Widerstand gegen Transition und Umweltschutz verstärkt, weil ganz oben weiter auf hohem Niveau Umweltverschmutzung betrieben wird. In diesem Bereich müssen die Gewerkschaften eng mit Industrie und Wirtschaft zusammenarbeiten, um ein Umdenken zu bewirken. Das Umdenken muss oben beginnen, damit es unten ankommt.

Beim Klimawandel wird dem OGBL auch deswegen eine ambivalente Haltung nachgesagt, weil Sie sich einerseits am Klimaprotest beteiligen, andererseits aber die Investitionspolitik des Fonds de compensation in Erdölkonzerne unterstützen. Wie passt das zusammen?

Wir unterstützen die Forderungen von Greenpeace und ASTM, doch an ihrer Demonstration mit Youth for Climate gegen die Investitionspolitik des Rentenfonds konnten wir uns schlecht aktiv beteiligen, weil wir dort im Verwaltungsrat sind. Wir haben ihnen aber Material und Logistik zur Verfügung gestellt. Ich möchte jedoch betonen, dass die Gewerkschaften die einzigen sind, die im Vorstand des Fonds de Compensation darauf drängen, aus Unternehmen auszusteigen, die in fossile Energien investieren und die Menschenrechte nicht achten, wohlwissend dass das wegen gesetzlicher Hürden nicht von heute auf morgen geht. Wir müssen das vielleicht besser nach außen kommunizieren, weil das offenbar nicht bei den Menschen ankommt.

Das Problem stellt sich auch im Bereich der Lieferketten.

Wir sind Teil der Initiative pour un devoir de vigilance, ich habe mich zusammen mit Kardinal Jean-Claude Hollerich für ein Lieferkettengesetz eingesetzt. Menschen- und Arbeitsrechte sind doch das Kerngeschäft des OGBL.

Braucht es angesichts der Globalisierung der Wirtschaft, die immer mehr von multinationalen Konzernen beherrscht wird, eine stärkere Internationalisierung des Gewerkschaftskampfes?

Wir haben Kooperationsverträge mit der FGTB und der CGT, wir sind Mitglied des Europäischen Gewerkschaftsbundes und kooperieren auch mit dem DGB, aber natürlich müsste die Zusammenarbeit noch besser sein. Häufig sind wir noch zu sehr im nationalen Denken verhaftet. Doch auch auf politischer Ebene wird die Großregion vernachlässigt. Als während der Pandemie eine Diskussionen über den Mangel­ an Pflegepersonal aufkam, haben wir uns mit den Gewerkschaften aus den Nachbarländern zusammengesetzt und über die Möglichkeit einer gemeinsamen Ausbildung und einer gerechten Verteilung medizinischer Fachkräfte beraten. Diese Diskussion müsste auch auf politischer Ebene geführt werden. Das ist nicht alleine unsere Aufgabe.

Luc Laboulle
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