Gesundheitswesen

Die Ärztemauer

d'Lëtzebuerger Land du 23.03.2006

Kommenden Mittwoch trifft sich die Krankenkassen-Quadripartite wieder. Dann werden die Vertreter von Regierung, Gewerkschaften und Patronat, von Krankenkassenunion UCM, Ärzteverband AMMD und Krankenhaus-Dachverband EHL (Entente des hôpitaux luxembourgeois) vor allem über das Klinikwesen sprechen. Dass es auf Potenziale zur Steigerung von Qualität und Effizienz sowie zum Einsparen von Kosten „durchleuchtet“ werden soll, hatte die Quadripartite schon auf ihrer Frühjahrssitzung vor einem Jahr beschlossen; immerhin betragen die Krankenhauskosten sogar ohne Ärztehonorare mehr als 50 Prozent der jährlichen Ausgaben der Krankenkassen – im OECD-Vergleich ist das die Spitzenposition.

Ein paar Reformansätze hat man unterdessen erkannt, andiskutiert oder umzusetzen begonnen: Ein vor kurzem aus der Taufe gehobener wissenschaftlicher Beirat soll im Ausland erprobte medizinische „Best practices“ ermitteln, auf ihre Übertragbarkeit auf Luxemburg überprüfen und „Handlungsempfehlungen“ an die Ärzte erarbeiten. Was die Medikamentenverschreibung angeht, sollen die Ärzte – nicht nur in den Kliniken, aber auch dort – seit Anfang dieses Jahres, wann immer das die Behandlungsqualität nicht senkt, anstelle Originalpräparaten auf „Nachahmeprodukte“(Generika) zurückgreifen, die nicht mehr dem Patentschutz unterliegen und deshalb preiswerter sind. Die Kliniken sollen so bald wie möglich eine „Einkaufszentrale“ bilden und über sie von Medikamenten über Implantate bis hin zu Desinfektionsmitteln und Wattetupfern alle Verbrauchsmittel einkaufen und so bessere Preise bei ihren Lieferanten erzielen.

Vorangetrieben werden soll die Einrichtung computergestützter Patientenakten. Auch die getroffenen Diagnosen und die am Patient angewandten Therapien sollen in Datenbanken eingehen und erfasst werden nach dem modernsten Klassifizierungsschema der Weltgesundheitsorganisation, welches das Diagnose- und Behandlungsverhalten in den Kliniken weitaus präziser zu ermitteln erlaubt, als das zurzeit noch gebräuchliche System hier zu Lande und eigentlich die Voraussetzung ist für Bemühungen zur Steigerung von Qualität und Kosteneffizienz.

Erkannt wurde auch, dass im speziellen Fall des Luxemburger Krankenhaussystems viele dieser Modernisierungen nur funktionieren, wenn die Klinikärzte sie mittragen. Denn nach wie vor gilt die „liberale Medizin“ mit freier Arzt- und Behandlungswahlfür den Patienten und Entscheidungsfreiheit für den Mediziner. Er kann Generika verschreiben, kann auf bestimmte Behandlungen verzichten, kann „Handlungsempfehlungen“ des Wissenschaftsbeirats folgen, muss es aber nicht. Deshalb soll es in jedem Spezialdienst sämtlicher Häuser „médecins responsables“ als Bindeglied zwischen Ärzten und Klinikdirektion geben.

Diese Idee ist mittlerweile fast ein Jahr alt, doch einen Konsens darüber, wie die Funktion dieser Ärzte verfasst sein soll, dürfte es auch auf der Quadripartite-Sitzung nächste Woche nicht geben. Seit einiger Zeit schon liegt ein Vorschlag der AMMD dazu vor, den offenbar auch der Gesundheitsminister nicht ablehnt: „Alle“ seien einverstanden, nur die Krankenhaus-Entente habe sich noch nicht geäußert, meinte Mars Di Bartolomeo am Montag am Rande einer Pressekonferenz. „Der Ball“ liege nun bei der EHL. Deren Verwaltungsrat wird wahrscheinlich einen Gegenentwurf erarbeiten, will sich aber erst nach der Quadripartite mit der AMMD treffen.

Dieser Dissens wäre nicht so interessant, berührte er nicht Kernfragen der Gesundheitsversorgung und ihrer Finanzierung sowie ein durch politische Entscheidungen der Vergangenheit krank gemachtes System. Geht es allein darum, durch straffe Führung innerhalb der Krankenhäuser Qualitäts- und Kostendämpfungsmaßnahmen durchzusetzen, stehen die Chancen dazu schon rechtlich nicht gut. Das im Sommer 1998 nach fünf Jahre langen Debatten verabschiedete Krankenhausgesetz ist, was klinikinterne Hierarchiebildung betrifft, extrem diplomatisch und sieht lediglich vor, dass jede Klinik sich ein internes Reglement geben soll. Weiter reichende Bestimmungen zu erlassen, hätte bedeutet, am Grundsatz der „liberalen Medizin“ zu rühren. Diesen hat auch der im Sommer letzten Jahres durch ministeriellen Erlass in Kraft getretene neue ärztliche Deontologie-Kodex bekräftigt: „L’exercice de la médecine est personnel“, sagt sein Artikel 7, und: „Le médecin ne peut aliéner son indépendance professionnellesous quelque forme que ce soit“. Das heißt, nicht nur jene Mehrzahl der Krankenhausmediziner, die sich zu 80 Prozent aus Freiberuflernmit eigener Praxis zusammensetzt, die an den Krankenhäusern per „agrément“ als Belegärzte arbeiten, müssen „unabhängig“ bleiben, sondern auch die mit einem Arbeitgeber.

Verständlich ist es daher, dass der Vorschlag der AMMD „médecins coordinateurs“ einsetzen und nicht etwa regelrechte Chefarztposten schaffen will. Ein solcher Koordinator wäre primus inter pares. Dass die Krankenhaus-Entente diese Idee so nicht teilt, dürfte nicht nur damit zu tun haben, dass eine Politik, die eine Klinikdirektion vertritt, im Grunde nur bei klaren Unterstellungsverhältnissen durchgesetzt werden kann: „médecins coordinateurs“ gibt es in den meisten Kliniken schon. Aber geht es nach der AMMD, erhielten die Koordinatoren ziemlich umfangreiche Zuständigkeiten gegenüber ihren Direktionen: sie würden über Budget- und Investfragen ebenso mit entscheiden wie über die Einrichtung von Diensten und deren Spezialisierung. 

Dahinter steht ein politisches Vorhaben – mehr Einfluss auf Ausrichtung und Arbeitsweise der Kliniken zu gewinnen. Das hatte die AMMD schon 2003 versucht, als ein großherzogliches Reglement in allen Kliniken „Conseils médicaux“ einführen sollte: nach dem Vorbild der belgischen Medizinerräte reklamierte die AMMD für diese auch hier zu Lande ein Vetorecht gegenüber strategischen Entscheidungen der Klinikdirektionen. Die EHL wehrte das mit dem Hinweis darauf ab, dass belgische Krankenhausärzte zwischen 54 und 83 Prozent ihrer Honorarsumme an ihre Klinik abführen, die freien Belegärzte hier zu Lande dagegen null Prozent. Weshalb eine Mitentscheidung per Veto nicht legitimiert sei. Um Veto-Fragen geht es heute nicht. Sondern darum, ob über die „médecins coordinateurs“ klinikübergreifend eine horizontale Hierarchieebene eingeführt werden könnte, über welche vor allem die großen Krankenhäuser stärker und spezialisierter kooperieren. Je nach Bedarf, meint die AMMD, sollten Ärzte, aber auch Pflegepersonal zwischen verschiedenen Krankenhäusern pendeln. Das garantiere Effizienz, bestmögliche Patientenbetreuung und dem Arzt einen ausreichend hohen Verdienst.

Abgesehen davon, dass sich die Frage stellt, wie alltagstauglich ein solches System wäre, ist der Vorstoß des Ärzteverbands ein ziemlich großer Stein in die Wasser der Gesundheits- und Sozialpolitik. Denn die Einkommensfrage der Klinikmediziner ist der Schwachpunkt im System. Dieses krankt nach wie vor fundamental daran, dass die geltende Arzttarifnomenklatur denjenigen belohnt, der viele abrechenbare medizinische Akte leistet, aber sie enthält ansonsten keine Vergütung auf eine Leistung für das öffentliche Gesundheitssystem. Mehr noch: die Nomenklatur steckt voller Ungereimtheiten, wie etwa der, dass ein Chirurg für die Operation eines Bruchs mit Hodenhochstand 25 Prozent mehr verdient als ein Urologe, oder ein Kardiologe für eine Diagnosemaßnahme mit einem Echografen besser bezahlt wird als ein Radiologe. Die Liste ließe sich fortsetzen. Bei jeder Neuverhandlung der Nomenklatur versuchen AMMD und UCM, die eine oder andere Ungerechtigkeit auszugleichen und reißen das nächste Loch auf. Wenn Klinikmediziner nicht nur im Patienten- sondern auch im Eigeninteresse etwas tun, das nicht nötig ist, aber Geld bringt, dann schon mal deshalb.

Gleichzeitig aber unterliegen die freien Mediziner durchaus einem Ausbeutungsverhältnis: Wer 24 Stunden Bereitschaftsdienst leistet und auch nachts telefonisch erreichbar ist, erhält das nicht extra vergütet. Doch wenn der betreffende Arzt nachts zweimal geweckt wurde und anschließend nicht mehr schlafen kann, anderntags im Operationsaal einen Fehler macht und vom Patienten oder dessen Angehörigen daraufhin verklagt wird, hilft der Verweis auf das „System wie es ist“ kaum. Und wenngleich noch nicht vor Gericht,wohl aber in den Kliniken oder der asbl Patientevertriedung sich Reklamationen der Patienten häufen, der neue Deontologie-Kodex ausdrücklich eine Partnerschaft Arzt-Patient vorschreibt, kann man von immer anspruchsvolleren Patienten ausgehen.

Wie aber lässt sich ein Versorgungssystem finanzieren, das im Grunde Leistungen der Privatmedizin zum öffentlichen Kassentarif und bei gleichzeitig noch immer geringfügigen Krankenversicherungsbeiträgen bietet? – Politische Vorgaben hat der Gesundheits- und Sozialminister bisher noch kaum gemacht. Nur die, dass in den Kliniken vor allem an „variablen Kosten“ für Medikamente oder Implantate gespart werden müsse. Für „Unsinn“ hielt Mars Di Bartolomeo jede Debatte über die Kosten für das paramedizinische Personal. Doch die machen 60 Prozent der Klinikkosten aus, folgen per Kollektivvertrag der Gehälterentwicklung der Staatsbeamten, während die variablen Kosten nur rund 20 Prozent betragen und zu rund der Hälfte für immer teurer werdende Krebstherapien entstehen.

Strukturell will der Minister, wie es scheint, die Frage der Klinikleistungen in erster Linie über die Neufassung des Spitalplans klären und ganz neu festlegen, wer wo welche Dienste anbieten soll. Das ist sicherlich nötig, denn der von den CSV-LSAP-Koalitionenin den 90-er Jahren ausgegebene Grundsatz: „Le privé doit être traité comme le public“ und die anschließend massiv betriebenen Ausbauten und Ausrüstungen der Kliniken haben insbesondere in der Hauptstadt zum Konkurrenzkampf zwischen Centre hospitalier und Hôpital de Kirchberg geführt und brachten beide ins Finanzdefizit.

Der Spitalplan wird aber nicht die Frage nach Bedeutung und Honorierung ärztlicher Leistungen für das öffentliche Gesundheitssystem beantworten. Nötig ist eine Fundamentaldiskussion des Systems insgesamt. Um so mehr, als fraglich ist, ob sich die Einnahmen der Krankenkassen so entwickeln werden, wie noch im letzten Herbst geschätzt. Denn zum einen steigt die Arbeitslosigkeit. Zum anderen ergab schon im Herbst 2004 ein Gutachten der Generalinspektion der Sozialversicherung, dass an 75 Prozent der 2002 und 2003 neu geschaffenen Arbeitsplätzte nur der Mindestlohn verdient wird, und während der Debatten zum Staatshaushalt 2006 im Dezember letzten Jahres hielt man fest, dass die Lohnsteuereinnahmen des Staates 2005 überwiegend nur wegen der Indexbindung der Löhne und Gehälter gewachsen waren.Eine „Rentenmauer“ droht dem Sozialminister vorerst nicht – aber womöglich eine Kranken- und noch wahrscheinlicher eine Ärztemauer. 

Peter Feist
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