In den 1970-er Jahren reisten die Luxemburger Majoretten zu internationalen Wettkämpfen. Ihre Auftritte waren der Höhepunkt bei jedem Dorffest. Seit vielen Jahren steht der Sport vor dem Aus

Ausgetanzt?

d'Lëtzebuerger Land du 17.02.2023

Ein dunkler Festsaal. Keine Lichtquelle. Volle Publikumssitze. Erwartungen geschürt von den ersten Teilen des Programms. Zum dritten Akt des Auftritts der Weidinger Majoretten glimmen plötzlich viele bunte Lichter im Dunkeln auf. Die Weidinger Majoretten wirbeln Leuchtstäbe auf der Bühne herum. So die Erinnerung von Patrick Comes. „Das war phänomenal“, sagt er. „Die Mädchen waren die Stars und die Jungs wollten das unbedingt sehen.“ Patrick Comes ist in Weidingen aufgewachsen, seine Kindheit war stark geprägt von den Majoretten. Sein Vater gründete und trainierte die erste Gruppe 1968. Heute möchte Patrick Comes die Geschichte der Majoretten in Weidingen aufarbeiten. Nach dem Tod seines Vaters letztes Jahr, hat er dessen Archive gesichert und plant nun, ein Buch über die Weidinger Majoretten zu schreiben – neben seiner Arbeit als Gemeinderat in Weidingen und seinem Engagement für verschiedene lokale Vereine.

Ein Fabrikgebäude nahe Dubrovnik. Etwa 20 junge Mädchen aus Differdingen und Umgebung in Formation, in Uniform, rot-weiß. Rund herum stehen und lehnen Männer in Arbeiterkluft an den Wänden im Hof der Fabrik. Das zeigt ein Foto aus den Unterlagen von Sylvie Hentges. Ihr junges Selbst ist eine der Differdinger Majoretten in dem Bild. „Die Arbeiter hatten Pause und da haben wir getanzt.“ Sylvie Hentges und zuvor ihr Vater waren die treibende Kraft hinter den Majoretten im Luxemburger Süden. Ihr Vater trainierte die erste Gruppe und sie selbst gründete und trainierte später zahlreiche weitere. „Das sind schöne Erinnerungen. Aber die Majoretten stehen vor dem Aus“, sagt sie.

Ende der 1960-er Jahre entstanden in Luxemburg die ersten Majoretten-Gruppen; nach dem Vorbild Frankreichs, wo die berühmte Marie Ange Brillet Kapitänin des Vereins in Nizza und nationale Meisterin wurde. Gekleidet in Uniform mit kurzen Röcken und hohem Hut, in der Hand einen Stab, den sie während der Choreografie immer wieder in die Luft und um den Körper wirbeln lässt. Dazu eine Trommlergruppe, die Stimmung und Takt angibt. Auch in Luxemburg waren die Majoretten sofort sehr beliebt, ihre Auftritte auf Kavalkaden und Festen gefragt. Knapp 20 Jahre lang hielt die Glanzzeit. Dann nahm das Interesse ab. Während die Jugendlichen sich in den Kölner Karnevalsvereinen noch immer darum reißen, mit den Funkemariechen zu tanzen, ziehen die Luxemburger Kavalkaden-Stars heute nur noch wenig Jugendliche an. Drei Vereine sind noch aktiv. Der Differdinger Verein hat wenige Mitglieder und ist kaum noch öffentlich aktiv. Die Escher Majoretten haben noch um die 30 Mitglieder, die Trommlergruppe wurde durch Musikstreaming-Anbieter und Lautsprecher ersetzt. Auch der neueste und inzwischen größte Verein, die Majorettes de Luxembourg in Luxemburg-Stadt, hat während der Pandemie zahlreiche Mitglieder verloren, zählt aber immerhin sieben Trommler.

In der Turnhalle in Clausen wuselt ein Gewirr an Stimmen und Beinen in allen möglichen Längen durch den Korridor. Sie warten, bis sie endlich in die Halle dürfen. Normalerweise trainieren die Kleinen und die Großen getrennt, aber so knapp vor dem ersten Auftritt des Jahres üben sie die Choreografien gemeinsam. Laure ist heute zum ersten Mal dabei, zusammen mit ihren Eltern. Sie ist drei Jahre alt und eine der Kleinsten. Während ihre Eltern und ihr Bruder auf der Holzbank am Hallenrand sitzen, mischt sich Laure unter die Majoretten. Die hüpfen zum Aufwärmen und marschieren im Rechteck in der Halle, wirbeln dabei den Stab in den Händen. Die Trainerin gibt den Takt an, indem sie mit ihrem Stab gegen die Wand klopft. „Eent, zwee, dräi und raus.“ Arme, Beine, Ausfallschritt, Arme schwingen. Eine Geräuschwolke aus Getrippel wogt durch die Turnhalle. Linkes Bein vor, Hände vor der Brust kreuzen, auf Sechs um die eigene Achse drehen, Stab vor die Brust. Die Älteren korrigieren die Jüngeren und Laure spielt unterdessen mit einem Ball im hinteren Teil der Halle. Auf Takt und Gleichschritt scheint sie noch keine Lust zu haben. Schnell bekommt sie zwei kleine Mitspieler. Ihre Mutter sagt: „Ich versuche meine Tochter zu überzeugen mitzumachen. Ich mag den Verein. Der Tanz ist sehr feminin aber die Gruppe ist gemischt, sie sind nicht alle super schlank.“

Dann tönt der erste Trommelschlag durch die Halle, die Musiker bereiten sich vor. Sobald die Trommeln losgehen, marschieren auch die Kleinen mit. Auf zwei gekreuzten Stäben werden sie in die Höhe gehoben, werfen verunsicherte Blicke zu den Erfahreneren. Ganz sicher sind sie sich ihrer Sache erst, als sie bunte Pompons aus einem großen Sack ziehen und zu ihrer eigenen Choreografie ansetzen – zu einer Pop-Version von Jingle Bells. So ganz sitzen die Bewegungen noch nicht. Viele verstohlene Blicke zu den Nachbarn und inmitten der Choreografie fangen sie zu diskutieren an, wer an welcher Stelle der Pyramide hockt – eine Chaospyramide. Dabei muss fünf Tage später die Choreografie für den Auftritt sitzen. Jedes Jahr ab September über sie die neuen Formationen. Im späten Winter fangen die Kavalkaden an, ein paar Monate später Wettbewerbe.

Die Majorettes de l‘Alzette haben 30 Mitglieder, darunter sieben Trommler und einige Knirpse. Vor der Pandemie waren sie 50. Doch nach der Unterbrechung sind viele nicht zurückgekommen. Für andere Vereine war die Pandemie der endgültige Todesstoß. Die Majoretten in Schifflingen und Petingen haben aufgehört, die Differdinger sind nur noch eine Handvoll. Denn zur Mitgliederabwanderung kamen die abgesagten Auftritte, für die die Vereine eine Gage bekommen. Ohne Auftritte haben sie nicht genug Geld.

Vor fünf Jahren haben Stéphanie Grüneisen-Theis und ihr Mann gemeinsam mit Freunden die Majorettes de Luxembourg gegründet. Sie war zuvor bei den Escher Majoretten, hat den Verein aber wegen interner Streitigkeiten verlassen. „Ich mache das, seitdem ich drei Jahre alt bin. Aufhören war keine Option“, sagt sie. Ihre Eltern haben sie zum ersten Training gezerrt. „Opa war Präsident bei den früheren Escher Majoretten. Mama hat Uniformen gewaschen.“ Heute, im neuen Verein, sind auch ihre drei Kinder dabei; Stéphanies Vierjähriger ist bei den Musikern, genau wie ihr Mann. Selbst die Jüngste mit ihren 18 Monaten trippelt beim Training in der Gegend herum: Die Majoretten sind Familientradition.

In den neugegründeten Verein in der Stadt sind einige Escher Majoretten mitgezogen. Die Majorettes de Luxembourg haben sich Inklusion auf die Fahne geschrieben. In der Gruppe tanzen und trommeln Majoretten mit und ohne Behinderung – in allen Körperformen. Die Uniformen haben sie modernisiert – Hut und Stiefel sind nicht mehr Teil davon. „Kinder sollen in dem Alter noch nicht so hohe Schuhe tragen, und damit wir alle gleich aussehen, verzichten wir auf Stiefel. Wir tragen jetzt schwarze Turnschuhe. Aber die Uniformen bleiben“, sagt Stéphanie. „Das gehört dazu.“ Die Mischung aus Jungen und Alten ist wichtig. Die Aufstellung in den Formationen: Groß, klein, groß, klein, groß. „Die Kinder werden oft angetatscht, dann heißt es: Oh, wie süß. Bei den Kavalkaden pfeifen Alkoholisierte Zwölfjährigen hinterher. Damit den Kindern nichts passiert, steht immer ein Volljähriger neben einem Kind.“

Über solche Probleme hat Sylvie Hentges nie nachgedacht. Falls die Fabrikarbeiter aus Dubrovnik oder sonst ein Publikum sich sexistisch verhalten haben, so weiß sie es nicht mehr. Für Sylvie Hentges waren die Majoretten das Größte. Als sie 15 war, wurde ihr Vater Trainer des ersten Luxemburger Vereins in Differdingen und natürlich war sie dabei. „Ich hatte noch keinen Stab, ich hatte nichts. Mein Vater hat mir eine Holzstange gegeben, mit zwei Schwämmen drauf, das war mein erster Stab.“ Ihr Vater war beim Militär und auch ihre Mutter war streng, erzählt sie. Sylvie hat Disziplin gelernt. 1970 wurde sie Tambourmajor der Differdinger Truppe. „Ich stand vor der Trommelgruppe mit so einem großen Stab und musste die anleiten.“ Eine alte Postkarte zeigt die Differdinger Majoretten vor der ehemaligen Kirche in Differdingen. Eine 20-köpfige Truppe mit Sylvie in der Mitte. Jemand hat mit Kugelschreiber ihren Kopf eingekreist. Ihr Vater schickte sie zum Trainingscamp hinter der französischen Grenze. Sie wurde von der französischen Nationalmeisterin trainiert, der Kapitänin des Vereins in Nizza, Marie Ange Brillet.

Für die Differdinger Mädchen in Sylvies Alter war der neu gegründete Verein grandios. Marie Ange Brillet und die französischen Majoretten haben starken Eindruck gemacht. „Viele Mädels in meiner Schule haben sofort Ja gesagt“, erzählt Sylvie Hentges. „Durch den Verein kamen sie endlich von zu Hause raus. Heute gehen die Mädchen schon mit zwölf Jahren allein raus, das war früher nicht so.“ Das Training fand in der Differdinger Sporthalle in Oberkorn statt, denn im Differdinger Turnsaal war zu wenig Platz für die große Gruppe. „Wir gingen immer von Differdingen nach Oberkorn zu Fuß.“ Die Differdinger Majoretten nahmen an Wettbewerben und Auftritten teil – in Belgien, Italien, Deutschland und Jugoslawien. Sie waren stolz, die Uniform zu tragen. „Das Einzige, was mich genervt hat, war der Hut. Da mussten wir einen Dutt drunter stecken und meine Haare waren so dick, die waren voller Haarnadeln. Der Hut hat gedrückt, ich hatte immer Kopfschmerzen. Außerdem trugen wir solche Unterhosen mit Spitze. Die waren schrecklich.“ Schon in den späten Achtzigern wurden die Uniformen modernisiert, die meisten Vereine entschieden sich für hautenge Gymnastikbodies und einen kurzen Rock. Während die ersten Majoretten aus dem Verein herauswuchsen und als Erwachsene nicht dabeiblieben, haben die Majoretten Sylvie Hentges weiter beschäftigt. Jüngere kamen dazu, sodass sie nach einigen Jahren die Älteste war. Bald darauf fing sie selbst mit Trainieren an. „Ich habe die Majoretten 50 Jahre auf dem Buckel“, sagt sie. „Ich bin die älteste Majorette von Luxemburg.“ Sie trainierte, choreografierte und plante Choreografien in der Freizeit. „Ich war immer mit Blättern unterwegs. Im Konzert oder beim Traubenfest zu Grevenmacher, als am Abend Bands spielten – ich hatte immer ein Blatt zur Hand.“ Davon hat sie heute noch mehrere Stapel. Kugelschreiber- und Bleistiftpunkte auf Papier, in verschiedenen Anordnungen – Skizzen für Formationen. Der Differdinger Verein hielt sich bis Anfang der 1990-er Jahre. Dann ebbte das Interesse ab und Uneinigkeiten in der Vereinsführung führten zur Schließung.

Während die Differdinger Glanzzeit damit am Ende war, gab es in Esch weitere drei Versuche, die Majoretten zu neuem Leben zu erwecken, zeitweise mit Erfolg. Sylvie Hentges selbst war bei einigen Vereinsgründungen im Süden dabei. Sie gründete die Escher Majoretten, die zeitgleich mit einem zweiten Escher Verein aktiv waren. „Wir waren die Blauen, und sie waren die Roten. Sie hatten nicht so viel Erfahrung wie wir, sie kamen aus dem Turnen.“ Nach 2010 jedoch war die Leidenschaft für die Blauen wie auch für die Roten am Ende. Doch einige Kinder wollten weitermachen und deshalb übernahm 2012 Tania Estevez den Escher Club von ihrem Vater. Der heutige Verein, die Majorettes de l’Alzette, besteht seitdem als einziger Escher Club mit den Vereinsfarben blau, rot und weiß. Auch Tania Estevez stammt aus einer Majorettenfamilie. Ihr Vater war Musiker und hat dann zeitweise den Escher Verein geführt, ihre Mutter sitzt heute noch bei den Trainings in der Sporthalle am Rand und unterstützt die Truppe. Tania selbst wurde als Kind von ihrer Cousine motiviert, auch Majorette zu werden. Inzwischen ist sie seit 20 Jahren dabei, war mit den Escher Majoretten auf Auftritten in Marseille, New York und in vielen deutschen Städten. Sie hat 2019 eine Föderation gegründet und versucht seitdem, die Majoretten beim Olympischen Komitee Luxemburgs zu registrieren, um Fördergeld zu erhalten – bisher ohne Erfolg.

Das Training in der Turnhalle der Escher Brillschule läuft koordinierter als das in Clausen. Die Trainer sind – ganz der Majoretten-Tradition des Südens nach – strenger und ehrgeiziger. Zweimal pro Woche trainieren sie, erst die Kleinen, dann die Großen. „Wir laufen, wir gehen nicht!“, ruft Tania durch die Turnhalle, während sich die Kinder aufwärmen. Für die Dehnübungen sitzen acht Kinder in exakt gleichen Abständen auf dem Holzboden unter der Anleitung von André. Ihn bildet Tania zurzeit zum Trainer aus. Doch während 2012 noch viel Interesse beim Nachwuchs war, möchten heute immer weniger Kinder Majoretten werden. Eine Trommlergruppe gibt es in Esch schon nicht mehr. „Wir haben alles versucht, um Teenager ranzukriegen. Das ist schwierig.“ Für die anstehende Saison stehen fünf Kavalkaden an. Mehr als für Auftritte werden sie inzwischen zum Grillen auf Stadtfesten angefragt. „Die Majoretten haben keine Zukunft“, stimmt Tania Estevez mit Sylvie überein.

In Weidingen tanzen die Majoretten schon seit Jahren nur noch auf dem Papier. Patrick Comes hat kopierte Zeitungsartikel, Fotos, Urkunden und andere Unterlagen in Klarsichtfolien in Ordnern abgelegt und angefangen, sie nach Jahren zu sortieren. Er erinnert sich an die Glanzzeit der Weidinger Majoretten. An die vielen Busfahrten zu Auftritten jedes Wochenende, mit dem lokalen Busunternehmen, dessen Besitzer auch im Verein war. Comes Vater hat die ganze Familie mitgenommen. Er zeigt ein Foto von der ersten Weidinger Majoretten-Gruppe, aufgenommen am 24. März 1968, als die lokale Kavalkade schon Tradition hatte. „Alle Mädels aus dem Dorf haben mitgemacht, meine Mutter war auch dabei.“ Im ersten Jahr liehen sie Uniformen aus, im zweiten ließen sie ihre eigene anfertigen und vier Jahre später auch eine offizielle Vereinsfahne. Er zeigt ein Foto der ersten luxemburgischen Meisterschaft 1972 und erinnert sich an die vielen Trainingsstunden im Saal der ehemaligen Erpeldinger Schule. „Da stand noch der alte Ofen in der Schule, es war im Winter kalt. Der Ofen musste zwei Stunden vorm Training angemacht werden, damit es beim Training warm genug war.“ Er erinnert sich an lange Tage, hastige Mahlzeiten, die omnipräsente Trommelmusik und einen Vater, der viel abwesend war, ganz eingenommen von seiner Aufgabe, die Weidinger Majoretten anzuleiten. „Mein Vater stand immer im Vordergrund. Ich war stolz, dass er das gemacht hat. Aber für mich selbst wollte ich das nicht.“

Als Gemeinderat und Vereinsmensch versucht Patrick Comes heute selbst, das Miteinander in Weidingen am Leben zu halten. „Meine Kinder sagen auch: Papa, du warst ja nie zu Hause.“ Doch so viel Glanz wie zur Zeit der Majoretten sieht er in Weidingen nicht mehr kommen. „Es ist schwierig, heute die Leute zu motivieren, sich in Dorfvereinen zu engagieren oder Feste zu organisieren. Wir sind eine Schlafgemeinde geworden. Die Leute arbeiten, kommen, gehen, und am Wochenende fragen sie sich: Muss ich mir das noch antun?“ In den Weidinger Majoretten war das halbe Dorf engagiert – und das ganze Land bewunderte die Truppe. Inzwischen ist das Rampenlicht erloschen.

Franziska Peschel
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