Yuri Radchenko befasst sich als Historiker mit der Shoah und ist Mitbegründer des Zentrums zur Erforschung interethnischer Beziehungen in Osteuropa.
Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine musste er seine Heimatstadt Charkiw verlassen

„Wir kennen nur einen Feind“

d'Lëtzebuerger Land vom 22.04.2022

Sie leben derzeit in Czernowitz in der Westukraine, wo Sie in Sicherheit sind. Welche Neuigkeiten erreichen Sie aus Ihrer Heimatstadt Charkiw?

Yuri Radchenko: In Charkiw ist die Situation katastrophal. Es bestehen vor allem Probleme für ältere Menschen, die nicht evakuiert werden können und deswegen in ihren Wohnungen ausharren müssen. Es ist eine Tragödie. In einigen Häusern gibt es weder Elektrizität noch Wasser noch Internet. Und wir sprechen hier von Gebäuden von durchschnittlich 16 Stockwerken. Vor allem die Gemeindearbeiter fallen aber immer wieder durch ihren Mut auf. Das Stadtzentrum wurde völlig zerstört und dennoch haben die Gemeindearbeiter die Straßen gereinigt und Hindernisse beseitigt. Selbst während der Schießereien und den Bombardements haben sie ihre Arbeit nicht eingestellt. Einige sind dabei umgekommen. Es gibt auch Freiwilligengruppen, die unabhängig Geld für Menschen in Not sammeln. Aber es bleibt ein harter Krieg. Viele Orte, die noch bewohnt sind, sind nur schwer zugänglich. Die Gefahr, erschossen zu werden, ist einfach zu groß.

Historiker sind es in der Regel gewohnt, der Zeit im Archiv zu begegnen. In Charkiw wurde das Stadtarchiv durch Angriffe schwer beschädigt. Wie ist das für Sie, wenn da plötzlich die Geschichte in den eigenen Alltag einbricht?

Ja, eine interessante Frage. Ich versuche jedenfalls weiter zu forschen und auch zu unterrichten. Als Freiwilliger helfe ich älteren Menschen aus der jüdischen Gemeinschaft, Essen, Geld und Medikamente zu besorgen. Ich habe aber auch vor zu schreiben, denn vor dem Krieg hatte ich begonnen zu den Beziehungen zwischen ukrainischen Juden, Karäern und Muslimen während der Nazi-Okkupation von 1941-1944 zu forschen. Die Schwierigkeit besteht allerdings nun darin, die Ergebnisse drucken zu lassen, da viele Autoren entweder an der Front kämpfen oder evakuiert wurden. Manche sind tot. Das ist jetzt unser Alltag. Ich denke, für einen Historiker ist es ein Fluch, in einer Epoche zu leben, in der sich alles verändert. Das ist zwar nicht neu: Viele Historiker mussten ähnliche Dinge erleben oder waren auf der Flucht. Aber während der ersten Tage war ich einfach nur schockiert. Zwei Tage vor Kriegsausbruch habe ich in Charkiw noch eine Ausstellung besucht. Am 23. Februar, am Tag vor dem Angriff, saß ich zu Hause und habe ein Examen vorbereitet. Spät abends ging ich einkaufen, aber das eingekaufte Essen habe ich erst eine Woche später gegessen: Gleich am nächsten Tag begannen die Lieferengpässe. Meine Online-Rabbinats-Kurse am Schechter Rabbinerseminar in Jerusalem musste ich leider unterbrechen. Ich kann jetzt nicht zwei Tage pro Woche von morgens bis abends Hebräisch lernen. Der Krieg hat mein Leben verändert, sowohl psychologisch als auch meine Situation betreffend. Aber immerhin gibt es die Möglichkeit zu schreiben.

Gab es eigentlich rückblickend einen Zeitpunkt in der Vergangenheit, an dem sich dieser Krieg noch durch Verhandlungen hätte vermeiden lassen können?

Von einem jüdisch-religiösen Standpunkt aus betrachtet, sollte man sowieso stets die Möglichkeit zu Verhandlungen nutzen und auch jegliche Option ins Auge fassen, um einen Krieg zu verhindern. Die Lage im Donbass hatte sich weitgehend entschärft. Die aktive Phase des Krieges fand in den Jahren 2014-2015 statt. Ab dem Frühjahr 2014 war der Krieg nurmehr ein Stellungskrieg und seit 2015 konnte man im Grunde von einer Deeskalation sprechen. Aber Aussagen von Polit-Clowns wie Wladimir Schirinowski, der vor seinem Tod den Angriff auf die Ukraine in der Duma vorhersagte, lassen den Schluss nahe, dass der russische Einmarsch seit Langem geplant war. Wir hätten also gutgetan, den Warnungen amerikanischer und europäischer Geheimdienste Glauben zu schenken. Leider warnte man uns seit mindestens sechs oder sieben Jahren vor einem Angriff Putins. Es war wie in der alten Fabel Der Hirtenjunge und der Wolf. Niemand rechnete mehr mit einem Angriff. Ich selbst habe noch, während die ersten Raketen bereits auf Charkiw flogen, ins Stadtarchiv angerufen, da ich einen Termin hatte und mich über die Öffnungszeiten erkundigen wollte. Natürlich hat niemand geantwortet. Ich denke, wir kommen nicht drum herum, miteinander zu reden. Die Frage ist mit wem? Meiner Meinung nach ist Putin übergeschnappt. Dabei ist das, was gerade geschieht, nichts Neues. Das, was wir derzeit in der Ukraine sehen, ist dasselbe wie das was man vorher auch schon in tschetschenischen oder syrischen Städten beobachten konnte. Natürlich hoffe ich, dass sich Leute finden lassen, die mit Putin „können“. Aber meiner Meinung nach ist er dazu gar nicht in der Lage. Er ist unfähig zur Diskussion. Er ist krank. Er sitzt an seinem Büro und spricht mit Menschen aus zehn Metern Entfernung. Es gibt wohl in Russland eine Partei der Kriegsbefürworter und die Partei derer, die zu Verhandlungen bereit sind. Ich denke mal, dass es besser ist, mit Letzteren zu kommunizieren. Das oberste Ziel muss es sein, das Morden zu beenden. Jeden Tag sterben Menschen. Aber können solche Gespräche überhaupt produktiv sein? Ich kann ihnen es nicht sagen.

Sie haben in der Vergangenheit über ukrainische NS-Kollaborateure geforscht, über Stepan Bandera etwa oder Andrei Melnyk, dessen Grab in Luxemburg [auf dem Bonneweger Friedhof] Sie aufgesucht haben. Nun begründet Russland seinen Angriffskrieg mit der angeblichen Denazifizierung der Ukraine. Wie stehen Sie dazu?

Die russische Propaganda ist einfach nur dumm und primitiv. Sie hätten wenigstens mit kreativeren, propagandistischen Stereotypen aufkommen können. In der Ukraine gibt es, wie in vielen anderen europäischen Ländern auch, radikale Bewegungen. Aber sie haben vor dem Krieg keine große Rolle gespielt. Antisemitismus beispielsweise ist nicht sonderlich verbreitet, selbst unter radikalen Nationalisten. Man muss hier unterscheiden zwischen konservativen und liberalen Nationalisten einerseits und unideologischen Individuen andererseits, die einer Gruppierung wie dem Azov-Regiment beitreten, weil man auf diesem Weg schnell eine Waffe oder eine militärische Ausbildung erhält. Vor dem Krieg wurden Begriffe wie „Nazis“ und „Nationalisten“ synonym verwendet. Dabei hat selbst Putin sich einmal als „wahrhaftigen russischen Nationalisten“ bezeichnet. Für Russen ist es also nicht verboten, sich als Nationalisten zu bezeichnen. Für Ukrainer hingegen schon. Dabei gibt es diese „nationalistischen Bataillone“ gar nicht. Sie wurden nach und nach in die reguläre ukrainische Armee eingegliedert und entwaffnet. Es gab auch den Versuch, die Bataillone der ukrainischen Arme entgegenzustellen, da die angeblich aus „normalen Ukrainern“ bestünde und daher offen für Verhandlungen sei. So langsam gesteht die russische Seite ein, dass man die Ukraine verkannt hat und es eine dumme Idee war, die Kontrolle über ein riesiges Land mit 40 Millionen Einwohnern übernehmen zu wollen.

Trotzdem verwirrt die Geschichte eines Azov-Bataillons, das 2014 einer maroden ukrainischen Armee zur Hilfe eilt, auch in Westeuropa mit seinem Nazi-Image…

Der Fall Azov ist schon bemerkenswert. Aber soweit ich das sehe, und ich bin kein Spezialist auf dem Gebiet der verschiedenen Bataillone, hat sich Azov politisch entwickelt. Natürlich war es zu Beginn eine rechts-radikale und ziemlich neonazistische, russischsprachige Gruppierung in Charkiw. Ab dem Moment aber, wo das Bataillon als Regiment in die reguläre Armee eingegliedert wurde, haben sich die Dinge geändert. So pflegte Azov zum Beispiel ganz gute Beziehungen zu Hennady Kernes (2010-2020), dem ehemaligen jüdischen Bürgermeister von Charkiw. Oder zu Arsen Avakov (2014-2021), dem armenisch-stämmigen früheren Innenminister. Seit 2014 dienen zudem nicht nur russischsprachige Ukrainer bei Azov, sondern auch ukrainisch sprechende sowie Tschetschenen und Aserbaidschaner. Offensichtlich hat es trotz verschiedener Ethnien und Nationalitäten nie Probleme gegeben. Natürlich stellt sich die Frage, was das für Symbole sind, die von Azov benutzt werden und inwiefern man mit ihrer Bedeutung vertraut ist. Ich würde Azov jedenfalls nicht als neo-nazistisch bezeichnen. Aber die Geschichte des Regiments gehört nach dem Krieg aufgeschrieben.

Dass die russisch-orthodoxe Kirche den Krieg gutheißt, ist bekannt. Wie reagieren andere religiöse Vertreter in Russland und wie in der Ukraine?

Was die jüdische Gemeinschaft in Russland anbelangt, so ist die Sache schon sehr kompliziert. Man beschwört zwar immer wieder den „Frieden“. Aber um es mit einem jiddischen Sprichwort auszudrücken: Man sitzt mit dem Hintern auf zwei Stühlen. Die Aussagen Kyrills klingen fast schon so, als sei er das Oberhaupt einer satanischen Sekte; mit Christentum hat das jedenfalls nichts zu tun. Auch viele Imame unterstützen diesen Krieg. Das trifft im Besonderen auf Salah Mezhiev zu, den Großmufti von Tschetschenien, der den Krieg sogar als „Dschihad“ bezeichnet hat. Die jüdischen Vertreter sagen dagegen lieber nichts. Ganz anders in der Ukraine, wo man eine große Einheit spürt und die Oberhäupter sowohl der Christen wie der Muslime und Juden sich zusammentun. Alle sind patriotisch und unterstützen die Ukrainer. Dass die Ukraine das Opfer ist, darüber gibt es keine Diskussion. Aber in Russland ist das Ganze weniger eine Frage der Religion als vielmehr der politischen Zugehörigkeit. Es taucht in der russischen Propaganda auch immer wieder diese „Kadyrow-Armee“ auf. Dabei eignet die sie sich höchstens als Militär-Polizei, auf dem Schlachtfeld taugt sie jedenfalls nichts. Auf ukrainischer Seite kämpfen dagegen mit großem Erfolg tschetschenische Kadyrow-Gegner aus der Diaspora. In der Ukraine herrscht Einheit. Den Menschen dort ist es egal, wo man herkommt. Wir kennen nur einen Feind.

Schließt dieser Krieg Risse, die es womöglich vorher in der ukrainischen Gesellschaft gab?

Die Ukraine war nie wirklich ein getrenntes Land. Von den pro-russischen Leuten sind viele ausgewandert oder verstummt. Einige, darunter Mitglieder der Partei der Regionen [der Partei Wiktor Janukowytschs, des früheren pro-russischen Premierministers] haben sogar ihren Standpunkt geändert. So ist der frühere Gouverneur Mychajlo Dobkin, in Charkiw geblieben und hält das Geschehen dieser Tage in fast schon journalistisch anmutenden Posts fest. Das hat durchaus etwas Komisches. Ich kenne auch Leute, die die Maidan-Proteste kritisch beäugten und sich über einen lustig machten, wenn mal wieder von einem Angriff Putins die Rede war, – jetzt aber pro-ukrainisch geworden sind. In der Ukraine ist es unmöglich, pro-russisch zu sein. Das wäre der politische Tod. Erst recht in der jetzigen Situation.

Frédéric Braun
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