Der nationale Mobilitätsplan ist mehr als nur ein Plan. Er ist ein Referenzwerk. Seine Ideen zum Radverkehr sind auch „politisch“

Ehe der Stau kommt

Kundgebung für eine fahrrad- gerechtere Hauptstadt
Photo: Sven Becker
d'Lëtzebuerger Land du 06.05.2022

Am 22. April stellte der grüne Mobilitätsminister François Bausch den Plan national mobilité 2035 vor. Eine Woche später erklärte er dem Tageblatt, die nächste Regierung könne „alles ändern, was sie will. Das ist klar. Ich persönlich meine aber, dass das ein Fehler wäre“.

Darin mag auch politisches Eigenlob stecken. Doch der PNM2035, wie er abgekürzt auf der Titelseite der knapp 200 Seiten langen Buchversion genannt wird, ist ein Referenzdokument, wie es in Luxemburg bisher keines gab. Seit der Jahrtausendwende produzierte der Transportminister jeder Regierung ein „Mobilitätskonzept“. Unter der vorigen Regierung schrieb François Bausch die Mobilitätsstrategie MoDu seines CSV-Vorgängers Claude Wiseler zu MoDu 2.0 weiter. Sein „Mobilitätsplan“ geht einen Schritt weiter. Er soll ein Werzeugkasten sein, mit dem MoDu 2.0 sich umsetzen lässt.

Den Plan aufzustellen, war aufwändig. Mit sämtlichen Gemeinden wurde ermittelt, welche in Teilbebauungsplänen (PAP) festgelegte Bauvorhaben es dort gibt und mit wie vielen Einwohnern und wie vielen Arbeitsplätzen in den nächsten 15 Jahren zu rechnen ist. Es wurden die Bewegungen von Autos, Bussen, Zügen, Fahrrädern und Fußgängern im ganzen Land und über die Grenzen hinaus betrachtet, wie sie 2017 in der letzten großen Verkehrsstudie erhoben worden waren, und daraus ein „Mobilitätsverhalten“ abgeleitet. Um schließlich zu simulieren, wie die vorhandene Infrastruktur und die bestehenden Angebote sich effizienter nutzen lassen. Und welche zusätzliche Infrastrukturen zu schaffen sinnvoll wäre, wenn der Mobilitätsbedarf um 40 Prozent gegenüber 2017 zunimmt. 2035 könnte es soweit sein, falls das BIP-Wachstum bis dahin im Jahresschnit drei Prozent betrüge. Vorhersehen lässt sich das natürlich nicht. Doch falls es kleiner ausfällt, bliebe zur Umsetzung lediglich mehr Zeit.

Wenn die Zahl der täglichen Déplacementer dann von zwei Millionen auf 2,8 Millionen zugenommen haben wird, sollten höchstens sechs Prozent mehr als heute im Auto getätigt werden, dagegen mindestens 89 Prozent mehr im öffentlichen Transport, empfiehlt der PNM. Außerdem sollte das Fahrrad bis dahin zum „vollwertigen und zweitwichtigsten“ Individual-Verkehrsmittel werden, kurze Wege sollen überdies viel öfter als heute zu Fuß erledigt werden. 2017 hatte sich gezeigt, dass fast ein Drittel aller Wege zwischen einem und fünf Kilometer im Auto zurückgelegt werden und mehr als ein Fünftel der nicht mal einen Kilometer langen.

Weil der PNM2035 ein Plan zur Umsetzung ist, handelt er vor allem von Infrastrukturen. Viele davon sind bereits bekannt. Von anderen hat der Mobilitätsminister schon erzählen lassen. Sei es, um politischen Konsens herzustellen, sei es, um zu zeigen, dass es vorangehe: Der Ausbau der Straßenbahn etwa, die in Luxemburg-Stadt nicht nur nach Hollerich, sondern von dort weiter über Merl zum CHL verlängert werden könnte. Eine weitere Verbindung sieht der PNM entlang der Arloner Straße vor, sowie eine zusätzliche auf dem Kirchberg entlang des Boulevard Konrad Adenauer. Die Tram-Verlängerung aus der Hauptstadt nach Leudelingen wäre Teil der „Express-Tram“ nach Esch und Belval. Sie soll auch die neu zu bebauende Industriebrache Esch-Schifflingen kreuzen.

Wieder andere Infrastrukturvorschläge sind neu. Etwa jener, die Nationalstraße N7 bis Diekirch auf zwei mal vier Fahrspuren zu erweitern und sie damit zu einer leistungsfähigeren Nordstad-Umgehung zu machen. Oder, was die Eisenbahn betrifft, zwischen Differdingen und Käerjeng ein „Gleisdreieck“ zu schaffen, das die Linien 60 und 70 verbinden würde. Passagiere aus Differdingen könnten 15 Minuten eher in Luxemburg-Stadt sein, wenn sie über Käerjeng und Dippach reisten, statt über Esch und Bettemburg. Das soll die Bahn attraktiver gegenüber dem Auto machen: Wegen der sehr schlechten Anbindung Differdingens, immerhin die drittgrößte Stadt des Landes, ans CFL-Netz, fahren von dort besonders viele mit dem Auto. Im PNM steht, entlang eines „Mobilitäts-Korridors“, den die CFL-Linie 60 (Luxemburg-Esch-Rodange) mit der Autobahn A4 bildet, fänden zurzeit drei Viertel aller 294 000 täglichen Bewegungen per Auto statt. Bis 2035 sollte dieser Anteil auf höchstens 56 Prozent gesenkt werden, andernfalls würden die Straßen und Autobahnen im Süden hoffnungslos verstopft. Denn die Zahl der Fortbewegungen in der Region werde bis dahin voraussichtlich um 45 Prozent zugenommen haben.

Entlang von Korridoren, die Bahnlinien, Autobahnen und Nationalstraßen zusammenfassen, betrachtet der PNM alle Verkehre über Land. Er unterscheidet außerdem ländliche und urbane Räume, und in Letzteren drei Ballungsräume. Den um die Hauptstadt (963 000 Bewegungen 2017, voraussichtlich 1,36 Millionen 2035); den um Esch-Belval und den urbanen Süden (2017: 537 000; 2035: 797 000) sowie die Nordstad (2017: 101 000; 2035: 151 000). Zusammengerechnet, finden fast drei Viertel aller Fortbewegungen innerhalb dieser drei Agglomerationen statt und fast die Hälfte in der Agglomeration Hauptstadt plus Speckgürtel. Woraus unter anderem folgt: Wer eine effizientere Nutzung der Verkehrsangebote will, dabei weniger Auto- und mehr Radfahrer und Fußgänger, kann schon eine Menge erreichen, wenn es gelingt, einen Wandel in den drei Agglomerationen anzuschieben. Nicht zuletzt im Großraum Hauptstadt: Lediglich neun Prozent aller Fortbewegungen dort führen aus der Agglomeration heraus. Andererseits bestehen innerhalb dieser zum Teil enorme Unterschiede im Mobilitätsverhalten. Von und nach Bridel beispielsweise wird mehr Auto gefahren als von und nach Clerf.

Was einer der Gründe ist, weshalb der Mobilitätsplan viel mehr Fahrradverkehr andenkt: Dessen Anteil an den Fortbewegungen insgesamt sollte von den bei der großen Erhebung 2017 gezählten zwei Prozent auf elf Prozent steigen. Was, weil der Mobilitätsbedarf insgesamt wächst, einer Zunahme der täglichen Radfahrten von 36 000 um zusätzliche 274 000 entspräche. Oder 760 Prozent mehr pro Tag. Das ist der „politischste“ Vorschlag in dem Plan.

Auf künftige Straßenbauten bezogen, ist er zum Thema Radwege sehr klar: An Autobahnen, Schnellstraßen und Landstraßen sollten sie parallel „en site propre“ verlaufen, innerhalb der Orte „physisch“ vom Auto- und vom Fußgängerverkehr getrennt sein. Teilen sollten Rad- und Autofahrer sich eine Straße möglichst nur, wenn dort nicht schneller als 30 Stundenkilometer gefahren werden darf. Der PNM hebt hervor, ein Radweg sei nur dann als sicher einzustufen, wenn auch Kinder ihn gefahrlos benutzen könnten.

Wie politisch diese Frage ist, erläutert der Mobilitätsplan nicht im einzelnen, und das war auch kaum zu erwarten gewesen. Der Frage, wie gefährdet Radfahrer sind, ist das Mobilitätsministerium aber schon nachgegangen, intensiv sogar. Schon ehe 2017 die Strategie MoDu 2.0 herauskam, wurde in seinem Auftrag jede einzelne öffentliche Straße und jeder öffentliche Weg von einem niederländischen Expertenbüro untersucht. Und je nach Risikoträchtigkeit entweder grün (kein Risiko), rot (noch okay) oder schwarz (wirklich gefährlich) markiert. Die Radfahr-Lobby ProVëlo (damals noch Vëlos-Initiativ) prüfte die Farbvergabe nach. Die große Karte mit der landesweiten Gefährlichkeitsanalyse wurde einer zweiten überlagert, die Korridore mit besonders nützlichen Radverbindungen zeigte. Diese „Fahrtauglichkeitsbilanz“ wurde allen Gemeinden zugestellt: Sie sollten ihre kommunalen Radfahr-Bemühungen entsprechend priorisieren können. Die Internetseite veloplangen.lu wurde eingerichtet. Sie macht den Gemeinden zusätzliche Empfehlungen. Doch wie d’Land aus dem Mobilitätsministerium erfuhr, hat seit die Risikobilanz vor sechs Jahren erschien, keine einzige Gemeinde etwas auf diese Bilanz hin unternommen.

Schon möglich, dass der Mobilitätsplan bei den Wahlkämpfen nächstes Jahr als Argumentations-
hilfe benutzt wird. Über die Jahre wurde Mobilität für sämtliche Parteien zu einem immer wichtigeren Thema. Einen Mobiltätsplan aufstellen zu lassen, versprachen im Wahlkampf 2018 alle. Wobei die Bezeichnung „Plan national de mobilité“ damals nicht die Grünen erfanden, sondern die DP..

Peter Feist
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