Seit 2017 gibt es für die Grundschule Regionaldirektionen, die eine Schnittstelle zwischen Ministerium und Schulalltag bilden. Das Land hat die zweitgrößte im Norden einen Tag lang begleitet

Nach dem Rechten schauen

Szene in der Grundschule Diekirch
Foto: Sven Becker
d'Lëtzebuerger Land vom 24.03.2023

Früher hießen sie Inspektoren, und wenn einer von ihnen in die Schule kam, dann war die Lage ernst. „Es gab noch zwei Klassen, wo die Kinder aufgestanden sind, als ich reinkam – ich habe sie vor Kurzem gebeten, das nicht mehr zu tun“, erzählt Gérard Roettgers. Diese Zeiten seien vorbei. Roettgers, stechend hellblaue Augen, ist Direktor der DR14, der zahlentechnisch zweitgrößten Regionaldirektion Nord des Landes, die die Gemeinden Aerenzdall, Bettendorf, Bourscheid, Colmar-Berg, Diekirch, Erpeldingen/Sauer, Ettelbrück, Feulen, Reisdorf, Schieren, Tandel, Vianden und das Schulsyndikat Sispolo in Park Hosingen und Putscheid einschließt. Es geht um die reibungslose Schulorganisation von 4 198 Schüler/innen der Zyklen 1 bis 4, und um 638 Beamte und Angestellte.

Montagmorgen, wöchentliche Teamsitzung in Diekirch. Roettgers und zwei seiner Kodirektoren, Patrick Lepage und Luc Reis, schauen gebannt auf die vielfältige Tagesordnung, die Punkt per Punkt mit großer Routine abgearbeitet wird. Wer geht in zwei Wochen an welchem Tag zu welchem Stagiaire? Eine Mutter kommt nach einer längeren Elternzeit wieder, sie benötigt Weiterbildungen. Der Bauer einer kleinen Gemeinde zögert noch, ob er sein Grundstück für eine neue Schule hergeben will, da geht es nur schleppend voran. Wenn in einer Gemeinde die Anzahl an Kindern steigt, oder sich der Sozialindex verändert, hat das einen Einfluss auf die Lehrstundenanzahl, die ihr zugute kommen. Das wiederum hat eine Reorganisation der Lehrposten zur Folge. All das braucht Management. „Das Ganze ist ziemlich komplex geworden, sodass die Gemeinden den Durchblick nicht immer haben“, meint Gérard Roettgers.

Auf einer Kaffeetasse auf dem Tisch steht „Mir schaffen zäitspuerend an effektiv duerch gutt Kommunikatioun op alle Niveauen“. „Unser neues Leitbild“, entgegnet Roettgers. In dem Gebäude in Diekirch finden auch Psychologen, Pädagogen und Logopäden Platz, denn der Bereich für Kinder mit besonderen Bedürfnissen (Eseb) wurde in den letzten Jahren deutlich ausgebaut. Nota bene: Wenn in der Schule alles rund läuft, stattet man diesen Räumen eigentlich keinen Besuch ab. Insgesamt sind die Direktionen mit der Aufgabe betraut, die schulische Qualität und Organisation zu sichern und bei Problemen zu vermitteln. Dabei können sie als Kompromiss bezeichnet werden, da es immer noch an politischem und vor allem gewerkschaftlichem Willen mangelt, Schuldirektoren in den Grundschulen einzuführen. Brennt es, vor allem zwischen Eltern und Lehrpersonal, gibt es zwar in jeder Schule den sogenannten Schulpräsidenten, der ein paar Stunden in der Woche mit übergreifenden Aufgaben betraut ist – über Weisungsbefugnis verfügt er jedoch nicht.

Die erste Visite des Tages führt nach Ettelbrück, in den Zy-klus 4. Luc Reis, der 23 Jahre lang als Grundschullehrer tätig war, bevor er in die Regionaldirektion wechselte, soll sich den Fall von zwei Schülerinnen anschauen, die für eine sogenannte orientation anticipée in Frage kommen. Das bedeutet, dass sie aufgrund einer Zyklusverlängerung bereits das Alter erreicht haben, das sie zum Eintritt ins Lyzeum befähigt. Wir sitzen hinten in der Klasse, die Lehrerin bringt die Hefte der Schülerinnen. Es liege nicht nur an einem Fach, dass Elena* und Sandra* von einem früheren Eintritt profitieren könnten, sagt sie einleitend. Die Schülerinnen kämen an ihre Grenzen und das werde ihnen bewusst. Es wäre oftmals einfacher für Sekundarschullehrer, die Schüler früher in Empfang zu nehmen – da könnte man noch mehr an Lerndefizit auffangen, erklärt Luc Reis. In Elenas Akte finden sich Diagramme mit Kompetenzsockeln, sie liegt in den Hauptfächern deutlich unter dem Durchschnitt. „Et ass jo keng Onéier, an de Modulaire ze goen“, sagt Reis. Um wen geht es denn? Elena dreht sich schüchtern um und winkt uns zu. Die Entscheidung, ob Elena und Sandra frühzeitig im régime préparatoire anfangen, liegt bei ihren Eltern. Sind diese nicht einverstanden, wird der Fall in einer commission d’orientation behandelt.

Auf den Tabellen der vom Liser veröffentlichten Dokumentationen zum Sozialindex der Gemeinden, die im Mai 2022 erschienen, leuchtet die Stadt Ettelbrück rot auf, was professionelle Prekarität der Eltern und eine andere Muttersprache als Deutsch und Luxemburgisch angeht. Laut Bildungsbericht 2021 werden hier weniger als 25 Prozent der Schüler/innen ans Gymnasium orientiert. Nur in Wiltz, Larochette, Vianden und Differdingen sind es weniger. „Der Gedanke, dass eine internationale Schule einen anderen Weg darstellt, spielt immer öfter in die Überlegungen rein“, sagt Luc Reis.

Als das neue Schulgesetz 2009 gestimmt wurde, hatte das auch eine Reform des Inspektorats zur Folge. Die 23 Bezirke der Inspektoren wurden abgeschafft und von 15 Regionaldirektionen ersetzt, nachdem der Staatsrat 2012 Einwände gegen einen ersten Gesetzentwurf formuliert hatte. Die Direktoren werden von Bildungsminister Claude Meisch (DP) ernannt, der damit auch die immer größer werdende Arbeitslast der Inspektoren eindämmen wollte. Hinter vorgehaltener Hand wirft man dem Verwaltungsorgan vor, ein Wasserkopf zu sein, wie so viele organisatorische Neuerungen des liberalen Schulministers. Tatsächlich ist in den letzten Jahren im Bildungsministerium eine Vielfalt an neuen Strukturen entstanden – Elteren an der Schoul oder das Observatoire national de la qualité scolaire, um nur zwei zu nennen – deren Konsequenzen man noch nicht bewerten oder absehen kann. Sie wecken mitunter den Eindruck des Aktionismus – damit man ja dem Minister nicht vorwerfen kann, er habe in seinen Regierungsjahren Däumchen gedreht. (d’Land, 26.05.2017) „Es braucht eine gewisse Zeit, bis Reformen in der Schule ihren Effekt entfalten“, sagt Patrick Lepage, Kodirektor.

Am Nachmittag steht ein Besuch in der Grundschule Feulen an, um der Unterrichtstunde eines Ersatzlehrers beizuwohnen. Der Direktor soll dem Unerfahrenen beim Unterricht zuschauen und Feedback geben. „Wir müssen auch mal Entscheidungen aus dem Bauch heraus treffen, für die wir gerne mehr Zeit hätten“, sagt Gérard Roettgers auf dem Weg dorthin. Er betont, dass er bei einer Schulvisite immer nur eine Momentaufnahme sehe, ein Foto, und die Direktoren somit dem Lehrpersonal vertrauen müssten, das tagtäglich den „Film“ seiner Schüler und gegebenenfalls Stagiairen sieht. Derweilen ist in Feulen heute für die Französischstunde eine Wiederholung des passé composé an der Reihe, die Schüler/innen sollen ihn in einem Text vom Imperfekt unterscheiden. Der Stagiaire liest den Kindern den Text vor. Nach einem ersten Eindruck erklärt Roettgers ihm hinten im Saal, Kinder lernten am besten, wenn sie selber entdecken, und eine gute Lektion sei eine, in dem der Lehrer didaktisch nicht besonders präsent sei. Aus dem Arm schütteln könne man solchen Unterricht nicht. Um in der Grundschule zu ersetzen, braucht es einen vierwöchigen Stage. Im Norden haben im laufenden Jahr 17 ihn bisher abgebrochen und 19 ihn geschafft. „Mir wénken net jiddereen duerch, ëmmerhi sinn et Kanner, op déi mer d’Leit lassloossen“, stellt Roettgers klar.

Der Aufgabenbereich der Schule allgemein, und somit auch jener der Direktoren, scheint kontinuierlich zu wachsen. Dieser Verantwortung musste man auch schon vor mehr als einem Jahrhundert moralisch gewachsen sein: „Die Erfüllung dieser schweren Pflicht, welche ja in allererster Beziehung der Schule und damit dem materiellen, moralischen, intellektuellen und kulturellen Aufblühen unseres Ländchens zugute kommt, setzt höhere Bildung und lautere Charaktereigenschaften voraus, welche den Inspektor über das gewöhnliche Niveau hinausheben und seinen Worten in unterrichtlicher und erzieherischer Beziehung den Stempel der Wahrhaftigkeit, zum mindesten der Glaubwürdigkeit aufdrücken sollen. Es sind dies treffliche Eigenschaffen, die noch lange nicht jedem Sterblichen eigen sind, und welche durch eine lange Übung in idealem Streben erworben werden müssen“, beschrieb die Wochenzeitung Die Neue Zeit – Les Temps Nouveaux die Figur des Schulinspektors in 1911.

112 Jahre später, der gleiche Konferenzsaal in Diekirch, dieses Mal sind auch die Kodirektorinnen Nathalie Heftrich und Vicky Witry anwesend. Letztes Jahr sei öfter die Frage aufgeworfen worden, ob manche Themen und Anliegen überhaupt noch in die Zuständigkeit der Schule fielen. Einfühlungsvermögen werde immer wichtiger, da zunehmend Bindungsprobleme bei den Kindern festzustellen seien, sind sich die Kodirektoren einig. Gründe hierfür sehen sie in einer Reihe von Dingen, etwa Zeitmangel seitens der Familien. Sie nehmen sich allerdings in Acht vor zu starker sozialer Stigmatisierung: Viel Zeit in externen Betreuungstrukturen oder am Tablet allein seien nicht monokausal verantwortlich für diese Veränderung. Trotzdem werde Empathie in ihrem Beruf und auch für das Lehrpersonal immer wichtiger: „Et ass wichteg, dem Kand d’Gefill ze ginn, du bass gesinn“, sagt Roettgers. Denn das Dorf, das im oft bemühten Sprichwort die Kinder großziehen soll, das gebe es nicht mehr. „Die Schule muss mehr denn je eine Struktur bieten, einen Rahmen“, erörtert Patrick Lepage.

Was die Art und Weise angeht, wie unterrichtet wird, habe sich viel getan. Die Lehrkräfte, die es noch machen wollen wie vor 30 Jahren, stießen an ihre Grenzen, weil das nicht mehr funktioniere. Auch um eine fundamentale Diskussion, wie Schule und externe Betreuungsstrukturen ineinander greifen, käme man nicht mehr herum. „Die Frage, ob die zwei freien Nachmittage in der Woche noch zeitgemäß sind, stellt sich“, fügt Gérard Roettgers hinzu. Allzu stark will sich hier jedoch niemand positionieren – zu keinem Thema.

Am Nachmittag fahren Gérard Roettgers und Vicky Witry in eine Schule nach Gilsdorf. Auf den Schreibtischen liegen Übungsblätter mit dem Gesicht des Premiers Xavier Bettel darauf. „Hien ass de Politiker vu Lëtzebuerg“, erklärt eine Schülerin. Hinten im Saal stehen eine Reihe Pokale aus Lego, „einzigartig im Land“, sagt ihr Lehrer grinsend. Denn zwei der oberen Klassen in Gilsdorf haben am vergangenen Wochenende hohe Plätze bei der sogenannten First Lego League in Belgien erreicht. Sie haben Roboter programmiert, die sogar besser als die aus den Oberschulen waren. Roettgers tritt vor die Klasse und verkündet: „Mir sinn an der Direktioun ganz houfreg op iech“.

*Alle Schülernamen wurden geändert.

Sarah Pepin
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