„Ich mache mir große Sorgen über eine kognitive Verarmung der gesamten Bevölkerung und der nächsten Generation.“ Claude Meisch, Revue, 17.09.2025
Im Lycée Bonnevoie hat es am Dienstagmorgen gerade zur Pause geklingelt. Vier Schüler der Troisième générale Sektion Sozialwissenschaften – Sarah, 17 Jahre alt, Ryan, 19, Junior, 18 und die 17-jährige Ines – bleiben im Klassensaal. Auf dem Pult steht eine Handytribüne mit ihren vier ausgeschalteten Smartphones. Wie ist ihr Umgang mit KI? Alle benutzen sie, sowohl im schulischen als auch im privaten Kontext, um Texte zusammenzufassen, zu übersetzen, um ihr Fragen zum Alltag zu stellen. Sarah generierte letztens ein Bild für eine Powerpoint-Präsentation. Informierte sie die anderen und das Lehrpersonal, dass das Bild von einer KI stammt? Sie winkt ab. „Et war einfach vill méi einfach vir mech, wéi selwer eent ze sichen.“ Vor circa zwei Jahren haben sie begonnen, ChatGPT zu benutzen. Delegieren sie die Aufgaben? Ryan lacht: „Eher nicht.“ Ines holt sich in einem für sie schwierigeren Fach Hilfe, und schreibt den Text dann nochmal in ihren Wörtern auf. Außer im Fach Digital Sciences laute die Ansage vom Lehrpersonal: Benutzt die KI nicht. Einen richtigen Dialog und eine Auseinandersetzung darüber gebe es nicht. „Die Lehrer können unsere Schwächen und Stärken nicht mehr beurteilen, wenn wir sie einsetzen“, sagt Junior. „Wir lernen letztendlich wenig daraus“, sagt Ines. Da sie mit dem iPad arbeiten, ist das Copy-paste in die KI einen Klick entfernt. Um ihre zukünftigen Jobs machen sie sich keine Gedanken, da sie im sozialen Bereich arbeiten wollen. „Roboter können uns nicht ersetzen.“
Claude Meisch, DP-Bildungsminister, hat vor zwei Wochen den KI-Kompass vorgelegt, Richtlinien zum Thema KI in der Schule. Er ist durchaus gut gemeint, sieht Altersabstufungen vor, betont dass „mit“ KI gelernt wird, nicht „von“; es gehe hier nicht um eine Auslagerung von kognitiven Kompetenzen, sondern um einen intelligenten Gebrauch der Technologie. Der Kompass sieht vor, dass in der Grundschule ohne KI gelernt wird, Konzepte lediglich analog und spielerisch Anwendung finden; in den unteren Stufen der Sekundarschule findet eine begleitete Nutzung mit kritischer Reflexion im Fach Digital Sciences statt, bevor die Schüler die KI ab Cinquième als „Co-Agent“ selber kompetent nutzen sollen. Das Ganze wurde der Presse vorgestellt, bevor die Diskussionsrunden mit dem Collège des directeurs und den Gewerkschaften im November stattfinden.
Seit er Bildungsminister ist, hat Claude Meisch in öffentlichkeitswirksamen Aktionen mehr Geld in die Digitalisierung der Bildungslandschaft gesteckt. Das Projekt One to One, das Schüler/innen iPads zur Verfügung stellte, wurde 2017 ohne Konzept lanciert und nicht evaluiert. Nun wird zurückgerudert, denn Papier ist konzentrationsfördernder. Die Screen-Life-Balance, die die Nutzung der Smartphones einschränkt, war das Projekt der Rentrée 2024 und zeigt erste Früchte. Allerdings wurde hier mit Verweis auf die Schulautonomie keine nationale Strategie entwickelt, sondern Richtlinien, sodass jede Direktion ihre eigene „Stufe“ festlegen kann. Das trägt implizit zur Profilschärfung der Lyzeen bei, die sich seit Meischs Antritt verstärkt.
Mit der KI-Nutzung ist es nun ähnlich: Es gibt so viele unterschiedliche Herangehensweisen an ihre Nutzung, wie es Lehrer gibt. Manche benutzen sie bei der Vorbereitung für den Unterricht, manche nicht. Einige versuchen, sie sinnvoll in den Unterricht einzubauen, andere verzichten völlig darauf. Eine Studie, die von der Oxford University Press veröffentlicht wurde, zeigte auch in Großbritannien, dass die KI-Implementierung sehr stark zwischen Individuen, Lernphasen und Fächer variiert. Am Institut de Formation de l’éducation Nationale (Ifen) gibt es derzeit circa 20 Weiterbildungen zur KI, mehrere sind voll ausgebucht mit Wartelisten.
Mehr als 800 Millionen User nutzen ChatGPT wöchentlich. Seit Mai hat sich diese Zahl verdoppelt. Sekundarschullehrer erklären, seit zwei Jahren falle zunehmend auf, dass ihre Schülerschaft generative KI benutze. Bei Präsentationen stünden Schüler vor der Klasse, die ihren Text offensichtlich nicht kennen. Die klassische Hausaufgabe, einen Text zu schreiben, ist somit obsolet geworden. „Die eigenständige Schülerarbeit ist tot“, schrieb die Zeit vergangenen Juni, der New Yorker berichtete vom „Death of the Essay“, denn an den Unis stellt sich das Problem noch stärker. Die Theorie des KI-Kompasses und die Praxis, sie liegen Welten auseinander.
Auch nach einer Viertelstunde will der Ton während der Teams-Sitzung mit den Schüler/innen des Lycée Ermesinde nicht funktionieren. Nicht etwa, weil Boomer hinter dem Bildschirm sitzen, sondern weil Technologie auch mal ausfällt. Video am Computer an, Handy-Lautsprecher ebenso. Mehrere Jungs im Alter zwischen zwölf und 16 Jahren schauen aufmerksam in die Kamera. Robert, 14, schreibt selber Geschichten und nutzt ab und an KI um ihm Ideen zu geben, in welche Richtung sich der Plot bewegen könnte. Maëlle gibt an, sich während der Hausaufgabenhilfe bei Matheaufgaben unter die Arme greifen zu lassen. „KI wird zu meinem virtuellen Lehrer, wenn ich bei einer Übung Schwierigkeiten habe“, sagt er. Kommt sie während des regulären Unterrichts zum Einsatz? Auf den höheren Klassen kommt das in den branches interdisciplinaires, also den Fächern, in denen gemeinsam Fragestellungen erörtert werden, vor. Noah, 16, Kopfhörer um den Hals, ist skeptisch. „Alle dachten, dass KI eine große Revolution werden würde. Doch KI zitiert lediglich. Dann kann ich auch die eigentlichen Quellen benutzen.“ Radovan ist 16. Er meint, künstliche Intelligenz werde aufgrund ihres Mangels an Genauigkeit keine viel größere Rolle in der Welt einnehmen. „Wenn wir die KI für uns arbeiten lassen, kann das hilfreich sein. Doch wir müssen mehr überprüfen.“ Max ist zwölf und schreibt Artikel für die Schülerzeitung. Nachdem er sie fertiggestellt hat, lässt er die KI darüber laufen, um sie zu verbessern oder Synonyme zu finden. Der Einsatz halte sich generell in Grenzen, sagen die Jugendlichen. Wenige Minuten später entwickelt sich eine Diskussion über den Einfluss von KI auf den Arbeitsmarkt zwischen den Jungs.
Das grundlegende Wissen, dass KI auch halluzinieren kann und falsche Informationen ausspucken kann, ist nicht bei allen verbreitet. Insbesondere junge Schüler/innen, die auch außerhalb der Schule mit der Technologie konfrontiert sind, riskieren durch mangelhaftes Wissen eine unkritische Nutzung. Geistige Verarmung, Motivationsverlust und eine Verflachung des Lernens können Konsequenzen sein. „Wenn ich nicht ordentlich lesen kann, wie soll ich die KI dann hinterfragen?“, fragt Vera Dockendorf, Sprecherin des SEW, im Gespräch mit dem Land und zitiert das letzte Resultat der Pisa-Studie aus dem Jahr 2018. Damals waren schwache Lesekompetenzen bei einem Drittel der 15-jährigen Jungen und einem Viertel der Mädchen festgestellt worden.
Mehr als die Hälfte der 2 000 befragten Schüler/innen zwischen 13 und 18 der Oxford University Press Studie konnte nicht angeben, ob ausgespuckte Informationen fehlerhaft sind. Eine große Mehrheit gab jedoch an, sie fänden KI hilfreich bei der Entwicklung von Fähigkeiten. Wer kann ihnen den Umgang verübeln? Die Verführung ist groß. „Wenn sie können, werden die Schüler den einfachsten Weg gehen, und die Technologie zur Resultatsfindung nutzen“, sagt Mike Borschette, Direktor des Bouneweger Lycée. Er sieht großen Nachholbedarf in der Einstellung zum Technikgebrauch. „Es gibt für nichts eine nationale Linie. Aus diesem Grund wird auch der KI-Kompass nach hinten los gehen.“
Die Sinnkrise ist eine der Evaluierung. Wie soll sie vonstatten gehen? Mündliche Prüfungen nehmen bereits zu, Aufgabenstellungen ohne Technologie und in Präsenz. Im Saarland werden Teile von Prüfungen mit KI gestattet, andere müssen handschriftlich sein. Neben der Evaluierung ist es die Art und Weise, wie gelernt wird, die die KI langfristig zu verändern vermag. Schule bedeutet gemeinsames Lernen, unterschiedliche Niveaus, die sozial wertvolle Kompetenzen wie Toleranz, Geduld und Konsensbildung entwickeln. Das personalisierte Lernen, das KI als Co-Agent ermöglicht, kann die Bildungslandschaft individualisieren. Das ist ein demokratisches Problem, denn Schule lehrt auch Gemeinschaftssinn. In den Staaten gibt es bereits die – sehr teuren – Alpha Schools, die KI zwei Stunden pro Tag als personalisierte Lehrkraft nutzt. Den Rest des Tages arbeiten die Schüler spielerisch an ihren „Lebens- und Zukunftskompetenzen“. Statt Lehrer arbeiten dort pädagogische „Begleiter“. Gleichzeitig besteht die Gefahr einer KI-Bubble für Teenager, die „Freundschaft“ vermehrt mit Robotern suchen.
Die sozialen und kognitiven Graben zwischen jungen Menschen werden durch den Einsatz von KI eher zunehmen. Bildungsorientierte Familien, die ihren Kindern ohnehin schon die Wichtigkeit von Bildung vermitteln, können die Nutzung besser begleiten und ungesunden Tendenzen entgegensteuern. Die, die sowieso zurückbleiben, könnten noch stärker hadern. „Ein Lehrer soll mit seiner Klasse in die Rolle kommen, die soziale Diversität an sich als Motor zu nehmen und durch Diskussion Kompetenzen aufbauen“, sagt Tammy Muller, Co-Direktorin des Lycée Ermesinde. Ein herkulischer Akt.