Türkei

Großmacht

d'Lëtzebuerger Land vom 03.06.2022

Kaum war bekannt geworden, Finnland und Schweden wären bereit, ihre Neutralität zugunsten der Nato aufzugeben, kam aus einer unerwarteten Ecke Widerspruch. Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan erklärte kurz angebunden, sein Land werde diesem Wunsch nicht zustimmen. Er warf den beiden Beitrittswilligen Unterstützung des Terrors vor. Damit war klar: Der Beitritt der beiden skandinavischen Länder in die Nato ist keine Formsache. Was hat aber eine Nato-Erweiterung im Norden mit der Türkei zu tun? Geht es da nur um die Kurden?

Die Antworten liegen in der komplexen Entwicklung der türkischen Innen- und Außenpolitik seit dem letzten Weltkrieg. Der Nato-Beitritt der Türkei war nicht selbstverständlich. Um überhaupt in das Bündnis aufgenommen zu werden, musste das Land im Korea-Krieg seine Treue beweisen. Danach nutzte die Nato die geografische Lage Anatoliens und gründete in direkter Nachbarschaft zur UdSSR große Stützpunkte. Es entstanden auch mehrere Abhörstationen auf türkischem Boden. Das Land war das Ohr und Auge der Nato.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion behielt die Nato den Stützpunkt Incirlik im Süden Anatoliens, der in militärischen Operationen im Nahen Osten eine entscheidende Rolle spielt. Die große Radaranlage im Osten der Türkei hingegen überwacht den iranischen, kaukasischen und russischen Luftraum. Deshalb glaubte Ankara lange, sein Beitrag werde im Westen geschätzt. Es wurde jedoch enttäuscht.

Nachdem die Europäer den EU-Beitrittsgesuch Ankaras widerwillig behandelt und auf die lange Bank geschoben hatten, wendete sich das Blatt. Die Demokratie war nicht mehr so wichtig. Es entstand ein autokratisches Regime. Seither orientiert sich die Türkei zunehmend nach Eurasien und tendiert zum Expansionismus. Das Land hat Potenzial dazu: Effiziente Wirtschaftsunternehmen und eine relativ gut ausgebildete und junge Gesellschaft. Es investiert in seine Armee, entwickelt eigene Waffensysteme. Es setzt seine Wirtschaftskraft, seine Militärs und die Religion erfolgreich ein, um in Asien und Afrika Einfluss zu gewinnen. In Syrien kontrolliert die türkische Armee in Kooperation mit Russland und mit diskretem Einverständnis der USA große Landesteile und integriert sie allmählich in das türkische Staatsgebilde.

Gleichzeitig kennen Ankaras Strategen die Bedeutung ihres Landes für die Nato und wissen, dass sie damit den Westen erpressen können. Sie provozieren Konflikte, um Zugeständnisse zu bekommen. Die EU zahlt dem Land Milliarden, damit es die Flüchtlingswellen abhält. Europäer und Amerikaner melden keine Einwände gegen eine dauerhafte Besetzung Nordsyriens. In Brüssel und anderswo übersieht man die Menschenrechtsverletzungen: Hauptsache, Ankara hört auf, an der Tür der EU zu klopfen.

Dabei ist Ankaras außenpolitisches Ziel, eine vom Westen unabhängige Großmacht zu werden. Die türkische Regierung sieht sich im Stande, vor allem den Europäern die Stirn zu bieten. Sie unterhält gute Beziehungen zu Ungarn und anderen europäischen Staaten, um die EU zu spalten. Putins Russland ist zwar Konkurrenz in der Region, aber eine realpolitische Kooperation hilft beiden Seiten – und das schafft Gegengewicht zur einzigen Macht, die die Türkei ernst nimmt, die USA.

Innenpolitisch nahm das Land eine entsprechend scharfe Kurve. Nach dem Scheitern der EU-Beitrittspläne und einer verlorenen Wahl in 2015, ging Erdogan eine Koalition mit den faschistischen Grauen Wölfen ein. Die Hauptopfer dieser Koalition wurden die Kurden. Die national-konservative Regierung beendete die Friedensverhandlungen, ließ kurdische Städte und Dörfer wochenlang mit schweren Waffen beschießen. Eine Kurdenfrage gebe es nicht, sagte Erdogan, sondern lediglich ein Terrorproblem. Die türkische Armee trägt die Gewalt auch in die Nachbarländer. Ankara sieht in der syrisch-kurdischen Organisation YPG, die gegen den IS mit dem Westen kooperiert, eine Terrororganisation, die von der hauseigenen PKK dominiert wird. Daher leben Kurden in Syrien und im Irak seit drei Jahren mit regelmäßigen türkischen Luftangriffen. Tausende Menschen verloren ihr Leben.

Die islamistisch-faschistische Koalition in Ankara ist fest entschlossen, diesen brutalen Kampf mit geeigneten Mitteln auch in Europa zu führen. Denn viele kurdische und türkische Oppositionelle flüchten nach Europa, wo sie sich frei bewegen und äußern können. Vor allem Schweden ärgert die Türkei seit Jahren, weil das Land vielen kurdischen Politikern und den dort ansässigen Kurden demokratische Freiheiten gewährt. Ankara weiß, dass Schweden und Finnland erpressbar sind, solange sie nicht in der Nato sind.

Die skandinavischen Länder werden also Opfer einer komplexen Mischung aus enttäuschten Erwartungen, Expansionsgelüsten und eines autoritär-faschistoiden Führungsstils in Ankara. Das Erdogan-Regime wird den Preis dieses Beitritts wahrscheinlich so hochtreiben, dass der Westen wieder einmal entscheiden muss: Geben wir mitsamt unseren Interessen die Türkei oder lieber unsere Werte auf?

Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg will in den nächsten Tagen Vertreter der drei Länder zusammenbringen und verhandeln. Dass sich das Problem mit dem Verkauf einiger F-16-Jets an die Türkei aus der Welt schaffen lässt, wie der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn glaubt, ist fraglich. Erfahrungen zeigen, dass eher, zusammen mit den Kurden in Europa, die viel gepriesenen europäischen Werte einmal mehr unter die Räder geraten werden. Das Regime in Ankara wird die Konfliktscheue des Westens weiter ausreizen und den nächsten Konflikt suchen.

Cem Sey
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