Hetzer und Realpolitiker

d'Lëtzebuerger Land vom 13.11.2020

Ist der französische Präsident Emmanuel Macron geisteskrank? Wohl kaum. Aber sein Amtskollege in der türkischen Hauptstadt, Recep Tayyip Erdogan, scheint daran zu glauben. Zumindest in seinen öffentlichen Reden in den letzten zwei Wochen rief er Macron mehrmals dazu auf, einen Psychiater aufzusuchen. Angeblich, weil er islamfeindlich sei.

Erdogans Wortwahl war so unverschämt, dass fast alle Medien auf dem europäischen Kontinent und darüber hinaus über diesen ungewöhnlich undiplomatischen Auftritt berichteten. Auch das kam ihm zugute. Er hatte damit gerechnet und es gewollt. Denn solche Äußerungen kommen bei den Bevölkerungen in der islamischen Welt gerade gut an – auch in der Türkei. Und Erdogan braucht diese Menschenmassen für seine Außenpolitik.

Sicherlich erzürnt diese geschmacklose Attacke den französischen Präsidenten. Doch er antwortet nicht auf gleichem Niveau. Er weiß, was Erdogan dazu bewegt. Er kennt die außenpolitischen Ziele seines Gegenübers und ist dessen bewusst, dass Frankreich, mehr oder weniger willentlich, Erdogan in die Quere kommt. Es sind mehrere Schauplätze, die gerade von einem Kampf für Hegemonie zwischen der Türkei und Frankreich geplagt sind. Da ist zunächst einmal Syrien – dort fing alles an. Frankreich sieht Syrien seit Anfang des letzten Jahrhunderts als eigene Einflusssphäre. Noch vor dem Ersten Weltkrieg teilten Franzosen und Briten mit dem sogenannten Sykes-Picot-Abkommen die damaligen osmanischen Gebiete unter sich auf. Nach dem Krieg besetzten sie diese Gebiete. Die Grenze zwischen dem heutigen Irak und Syrien ist keine zwischen zwei verschiedenen Nationen, sondern das Ergebnis einer kolonialistischen Besatzung.

Türkische Konservative haben diese Niederlage nie verdaut und sehen diese Länder weiterhin als eigenes Gebiet, das eines Tages wieder ihres sein würde. Die arabische Bevölkerung beider Staaten sind nicht daran interessiert, aber das stört Ankara nicht. Denn einerseits hat die Türkei, Dank jahrzehntelanger Unterstützung durch den Westen, die zweitgrößte Armee in der Nato und andererseits glauben türkische Konservativen, die Herzen der Menschen durch die gemeinsame Religion erobern zu können.

Aber der unterschwellige Konflikt zwischen Paris und Ankara ist wesentlich größer als nur Syrien. Erdogan, der mit jedem politischen Erfolg von noch größerem Einfluss träumt, glaubt inzwischen, dass sein Land auch in Nordafrika gute Karten habe, den Einfluss der europäischen Mächte zurückzudrängen. Er mischt in Libyen mit Militärberatern und syrischen Söldnern aktiv im Bürgerkrieg mit. In anderen Ländern unterstützt er die Muslimbrüder mit allen Mitteln und bringt damit jeden Autokraten in diesen Staaten gegen sich auf.

Auch Frankreich hat in Nordafrika Ambitionen. In Libyen führen beide Staaten sogar einen Stellvertreterkrieg gegeneinander. Als vor einigen Wochen türkische Luftabwehranlagen in der Nähe von Tripolis von Kampfflugzeugen bombardiert wurden, deren Nationalität bis heute offiziell unbekannt ist, besteht sogar der Verdacht, dass die beiden Nato-Partner sich manchmal inoffiziell auch direkt bekriegen. Mehrmals standen auch ihre Kriegsschiffe im Mittelmeer gegenüber – mal vor der libyschen Küste, mal zwischen griechischen Inseln.

Seit einigen Wochen belastet die Beziehungen zusätzlich der Krieg im Kaukasus. Die Türkei unterstützt Aserbaidschan in Berg-Karabach mit High-Tech-Waffen, Militärberatern und ebenfalls mit syrischen Söldnern. Frankreich hingegen, beeinflusst auch von der starken armenischen Gemeinde im eigenen Land, steht auf der Seite Armeniens. Selbst in den Tiefen Afrikas, in Mali, in Tschad oder in Niger, unterminiert türkische Politik durch ihre Rückendeckung für islamistische Gruppen Frankreichs Hegemonie-Ansprüche.

Eigentlich spricht mittlerweile Frankreichs Präsident Macron wegen dieser Gemengelage ganz offen. Noch am vergangenen Montag warf er der Türkei im arabischen Sender Al Jazeera „kriegerisches Verhalten“ gegenüber ihren Nato-Partnern vor. „Ich stelle fest, dass die Türkei in der Region imperialistische Bestrebungen hat“, sagte er.

Macron weiß aber, dass Erdogan die Islam-Karte selbst in Frankreich spielt, wie nach der Ermordung des französischen Lehrers Samuel Paty geschehen. Als ob nichts passiert wäre, verzichtete Erdogan auf eine Verurteilung des islamistischen Täters. Stattdessen goss er Öl ins Feuer. Die Karikaturen von Charlie Hebdo meinend, sagte er in einer Moschee, „unser Gott befiehlt uns gegenüber Gottesleugnern Gewalt anzuwenden“. Dieser Satz ist ein offener Aufruf zur Gewalt und in Frankreich leben genug radikalisierte Muslime, die nur auf solche Aufrufe warten. Angesichts solcher Worte klingt Erdogans Aufruf, französische Waren zu boykottieren, wie ein Witz.

Inzwischen geben weitere europäische Länder den relativ milden Kurs gegenüber Ankara auf. Deutschland, von Erdogan ebenfalls als Islamophob und Nazi-Land beschimpft, nähert sich Paris. Dennoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass es zum endgültigen Bruch kommt, gleich Null. Denn auf der anderen Seite wartet Moskau nur darauf, dass der Westen die Türkei aufgibt. Dann wäre die Türkei dem großen Bruder im Norden ausgeliefert und das wiederum ist gegen die Interessen des Westens – auch Frankreichs.

Cem Sey
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