Türkei

Ein Regime mutiert

d'Lëtzebuerger Land vom 08.01.2021

Anfang November 2020 trat der türkische Finanzminister Berat Albayrak zurück. Der Schwiegersohn von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan wird für die tiefe Wirtschaftskrise im Land verantwortlich gemacht. Dabei hatte er nur die Wirtschaftspolitik betrieben, die Erdogan ihm vorschrieb und Wirtschaftsexperten einhellig als falsch bezeichnen.

Erdogans ideologisch motivierte Politik stößt zunehmend an ihre Grenzen. Die Inflationsrate liegt bei 15 Prozent und steigt, zehn Millionen Menschen sind arbeitslos, die Bürger flüchten zum US-Dollar. Da die Wirtschaft eigenen Gesetzen folgt und sich vom autoritären Gebaren eines Präsidenten nicht beeindrucken lässt, muss Erdogan eine wirtschaftliche Kehrtwende hinlegen. Denn die wirtschaftlichen Sorgen bereiten den Bürgern mehr Kopfschmerzen als die strikten Corona-Maßnahmen. Streiks brechen aus, gesellschaftlicher Protest nimmt zu. Da ein Rücktritt Erdogans nicht in Frage kommt, zieht das Regime aus Angst vor den unzufriedenen Bürgern die Zügel noch fester an. Das autoritäre Regime mutiert und seine faschistoiden Züge treten deutlicher in Erscheinung.

Ende letzten Jahres nutzte das Regime eine Forderung von internationaler Seite clever aus. Die Türkei ist seit 29 Jahren Teil der Financial Action Task Force. Seitdem bittet die FATF, das wichtigste internationale Gremium zur Bekämpfung und Verhinderung von Geldwäsche, Terrorismus- und Proliferationsfinanzierung, die Türkei darum, die vereinbarten Maßnahmen auch gesetzlich umzusetzen. Um dieser Forderung angeblich nachzukommen, hat nun das türkische Parlament ein Gesetzespaket verabschiedet. Doch darin fehlt tatsächlich eine der Kernmaßnahmen. Und zwar just jene, die die Kontrolle über die Finanzen einflussreicher Politiker regelt. Stattdessen gibt es einen Zusatz: Der türkische Staat nimmt sich die Freiheit, die Leiter ziviler Vereinigungen durch Treuhänder zu ersetzen. Ein perfektes Mittel zur Gleichschaltung kritischer zivilgesellschaftlicher Organisationen.

Zugleich verschärfen die Regierenden ihren ohnehin schrillen Ton gegenüber der Opposition. Während Erdogans Partei der Gerechtigkeit und Entwicklung vor allem der größten Oppositionspartei CHP (Republikanische Volkspartei) vorwirft, einen Aufstand provozieren zu wollen, greifen ihre stillen Koalitionspartner hauptsächlich die kurdisch-sozialistische und drittgrößte Partei des Landes, die HDP (Demokratische Partei der Völker), an. So behauptete Mitte Dezember der Vizepräsident der faschistischen MHP (Partei der Nationalistischen Bewegung), Semih Yalcin, dass HDP-Anhänger, immerhin sechs Millionen Menschen, Schädlinge seien, die vernichtet werden müssten – eine Äußerung, die in einem Rechtsstaat ein ernsthaftes juristisches Nachspiel hätte. Nicht aber in der Türkei, wo der Rechtsstaat seit einigen Jahren nur noch auf dem Papier existiert.

Türkische Behörden wehren sich seit Wochen gegen ein bindendes Urteil des Europäischen Gerichthofes für Menschenrechte (EGMR), der die Inhaftierung von Selahattin Demirtas, dem ehemaligen Vorsitzenden der HDP, als unrechtmäßig bezeichnet. Der Widerstand kommt von höchster Ebene. Trotz der Verträge, die die Türkei unterschrieben hat, behauptet Erdogan höchstpersönlich, die Entscheidungen des EGMR seien für sein Land nicht verbindlich und das Urteil sei politisch motiviert.

Nach außen zeigt die Türkei ohnehin nur noch die Zähne. Im Kaukasus zettelte sie im letzten Herbst einen Krieg an, in Syrien unterstützt sie dschihadistische Gruppen, in Libyenkonflikt ist sie das einzige Land, das keinen der Beschlüsse der Berliner Libyenkonferenz umsetzt, Zypern und Griechenland provoziert die Türkei ununterbrochen mit aggressiver Rhetorik.

Die Stimmung der türkischen Bevölkerung, so sehr die Bürger Erdogan auch satthaben, wird von dieser Politik beeinflusst. Eine neue Studie der Universität Bilgi zeigt, dass die überwiegende Mehrheit der Anhänger des Regimes, aber auch Oppositionelle, die USA und Israel als Hauptfeinde der Türkei ansehen. Russland hingegen wird als Freund empfunden. Die EU kommt ebenfalls schlecht weg: 79 Prozent der Befragten glauben, dass die Europäer die kurdische PKK unterstützen und die Türkei spalten wollen.

Kein Wunder, dass allmählich selbst Staaten wie Deutschland, die bisher stets auf Kompromisse setzten, ihre Geduld verlieren. So ignorierte Berlin vor einigen Wochen ein Auslieferungsgesuch des Nato-Verbündeten Türkei. Berlin lehnt es ab, den Journalisten Can Dündar auszuliefern, dem Erdogan vorwirft, ein Spion zu sein.

Europa bleibt aber vorsichtig. Obwohl Washington bereits Sanktionen gegen türkische Politiker und Bürokraten wegen ihrer Rüstungsgeschäfte mit Russland verhängt hat, zögert Brüssel noch, einen ähnlichen Weg zu gehen. Sanktionen, die auf die türkischen Verantwortlichen im Energiesektor abzielen, sollen erst auf der nächsten Sitzung des Europäischen Rats am 25. März, nach Amtsantritt des neuen US-Präsidenten Joe Biden, diskutiert werden.

Dass die EU-Politiker bis dahin schlauer aus Erdogans Rochaden werden, ist wenig wahrscheinlich. Denn ob das mutierende Regime Erdogans gefährlicher wird oder seinem Ende entgegentaumelt, wird auch in drei Monaten kaum klar zu erkennen sein..

Cem Sey
© 2023 d’Lëtzebuerger Land