Ihr Vorname leitet sich ab von dem litauischen Wort für Bernstein, jenem Harz urzeitlicher Nadelbäume, das mit der Zeit versteinert an die Ostseeküste gespült wird. Versteinert lässt uns mitunter auch das Leben selbst zurück, bis es sich eines Tages wieder verflüssigt und uns fühlen lässt. Gintarė war dreiundzwanzig, als ihr bester Freund sich auf tragische Weise das Leben nahm. Vor genau einer Woche feierte sie mit ihrem viertem, erstmals in Litauen produzierten Kurzfilm Sujip beim CinEast Festival Premiere. Darin meldet sich ein lebensmüder Mann bei einer telefonischen Beratungsstelle. Aus dem daraus resultierenden Gespräch zwischen zwei Männern, entwickelt Gintarė Parulytė eine mitreißende Parabel über Trauma und Erlösung. „Manche bedienen sich der Kunst als Therapie, wenn alles noch roh ist. Ich dagegen beginne erst zu schreiben, wenn ich mich von der rohen Wunde gelöst habe, wenn eine gewisse Heilung schon stattgefunden hat. Das gibt mir die notwendige schöpferische Distanz und Objektivität. Immerhin braucht das Ganze einen dramatischen Bogen. Es muss nicht alles genauso beschrieben werden, wie es geschehen ist, aber dafür kommt es dann von einem ruhigeren Ort.“
Einen ruhigen Ort gab es in Gintarė Parulytės Leben vermutlich länger nicht. Geboren in Litauen, als Tochter eines Architekten und einer Augenärztin, kommt sie nach der Wende im Alter von sieben Jahren mit ihren Eltern nach Luxemburg. Ein Luxemburger Architektenbüro, das Litauen besuchte, hatte ihrem Vater, der als einziger in seinem Büro Englisch sprach, einen Vertrag angeboten. „Hätten wir das Land sechs Monate früher verlassen, wären wir Flüchtlinge gewesen. Welch andere Realität!“, wundert sich Parulytė. Auf Limpertsberg, wo die junge Gintarė zur Schule geht, wird sie von anderen Kindern als „dreckige Russin“ beschimpft, ahnt, dass solche Kommentare wohl kaum auf ihrem eigenen Mist gewachsen sind, und wird Zeuge wie die eigenen Eltern anlässlich einer Spende für die Kosovaren im Don Bosco-Heim gefragt werden, warum sie als „Flüchtlinge“ denn spenden wollten. „Luxemburg ist heute ein offenes Land, die 90er waren dagegen knallhart“, erinnert sich die Künstlerin.
Mittlerweile gilt ihre Familie als Begründerin der litauischen Expat-Community in Luxemburg. So begleitete ihr Vater einst den Großherzog auf einer Reise nach Litauen. Gintarė Parulytė hat aber mit dem Begriff „Expat“ ihre Schwierigkeiten. „Dieses Wort verneint eigentlich, was es bedeutet, ein Migrant zu sein.“ Ihre frühen Jahre in Litauen verbindet sie mit der diffusen Angst, die eigenen Eltern (oder sie selbst) könnten ins Visier des KGB gelangen und gefoltert oder erschossen werden. „Jahrzehntelange Bedrohung, Gefahr, Folter und Todesangst traumatisiert, macht paranoid“, stellt sie rückblickend fest. Und doch: Sogar über ihr siebenjähriges „Ich“ habe sie vor einiger Zeit im litauischen Archiv eine KGB-Akte entdeckt.
Litauen war für sie dementsprechend lange kein eindeutig positives Herkunftsland. Auch wenn sie sich dankbar an die kulturellen Gewohnheiten erinnert, sowjetisches Erbe einer staatlich geförderten Hochkultur: „Es ist dort normal ins Kino zu gehen, ins Theater, in die Oper und die Kinder mitzunehmen. Mit drei Jahren habe ich Schwanensee gesehen. Im Kinderballett war ich dagegen nie. So habe ich bereits früh das Gefühl bekommen, der Erwachsenenwelt und der Kunst anzugehören.“ Sie beobachtet im heutigen Litauen eine „Kultur der Neugierde“ und etwas wie eine „stete Dankbarkeit“ seit der Wende, „zu allem Zugang zu haben“.
Nach ihrem Kommunikationswissenschafts-Studium in Brüssel entschloss sich Parulytė, Schauspielkurse zu besuchen und eine künstlerische Laufbahn einzuschlagen. Ihre Großmutter, die noch unter dem Sozialismus gelebt hatte, zeigte dafür wenig Verständnis: „Wir konnten damals nicht reich werden“, sagte sie, „und du willst im Kapitalismus Künstlerin werden?“ Dieser Vorwurf begleitete Parulytė lange Zeit und belastete sie. Auch die Eltern waren anfangs wenig amüsiert über die Karrierepläne ihrer Tochter. Parulytė verweist in diesem Kontext auf Bourdieus Habitus-Konzept, und die Idee, dass ein Klassenwechsel nie vollständig gelingt: „Meine Eltern wurden erst wohlhabend, als sie nach Luxemburg kamen. In der Sowjetunion waren ihre Berufe nichts wert.“
Parulytė hat vor Kurzem eine eigene Wohnung gekauft: in Vilnius. „Mein Vater hat damals für die Zwei-Zimmer Wohnung auf Limpertsberg ein Viertel seines Gehalts gezahlt.“ Mittlerweile geben die Luxemburger mehr als 40 Prozent ihres Gehaltes fürs Wohnen aus. „Ich bin eine der wenigen Luxemburger Künstlerinnen, die sich über viele Projekte erfreuen kann. Und doch überlebe ich kaum. Als Schauspielerin weiß ich nicht, wann ich das nächste Casting bekomme, wann mein nächstes Gehalt. Regisseurin und Autorin zu werden hat vieles verändert und mir Kontrolle gegeben. Meine Tage haben 24 Stunden, ich bin verdammt diszipliniert, ich habe ständig Ideen und die Kreation fällt mir leicht.“
Dass ihr neuester Kurzfilm dann in Litauen entstanden ist, ist eher Zufall. Als ihre Großmutter sterbenskrank wurde, reiste sie mehrere dutzend Mal in ihre frühere Heimat, pflegte sie bis zu ihrem Tod und kam so mit dem Land wieder in Kontakt. Irgendwann habe eine Kindheitsfreundin, mittlerweile Filmproduzentin, gemeint, sie solle doch einen Kurzfilm in Litauen drehen. Sie habe erst abgelehnt, meint Parulytė rückblickend: „Es gibt ein ungeschriebenes Gesetz, nachdem man vor einem Spielfilm erst zwei Kurzfilme drehen muss. Ich habe Kino nie studiert. Das hat mich lange gehemmt. Jetzt merke ich: Es ist eine Stärke, da ich sehr intuitiv bin und als Schauspielerin ein Feingefühl für Dialog und Sprache habe.“
Schließlich sei der Dreh in der Fremde zwar furchteinflößend, aber auch „magisch“, ja beinahe wie von göttlicher Vorsehung geplant gewesen. Das Drehbuch zu ihrem Film sei in nur drei Stunden entstanden. „Die Geschichte hat sich durch mich selbst geschrieben.“ Auf der Suche nach Locations (sie suchte einen Raum, in dem der Hauptdarsteller fehl am Platz wirke) seien ihr Fotos eines mit hellen Holzvertäfelungen und einer Bodenbedeckung wie ein Damenspiel ausgestatteten Bürozimmers geschickt worden. Bei der Besichtigung brach sie in Tränen aus: Es war das ehemalige Büro ihres Vaters, das sie oft als Kind besucht hatte.
Wegen der heiklen Thematik ließ Parulytė das Drehbuch von dem Psychotherapeuten Sacha Bachim gegenlesen. „Ohne grünes Licht“ von ihm, hätte sie den Film so nicht gedreht. „Mir war wichtig, dass es ein ethisch-korrekter Film würde. Dass Menschen, die schwarze Gedanken plagen, durch meine Arbeit ermutigt würden, Hilfe anzufragen“, erklärt die Regisseurin. Provokation liege ihr fremd. Dafür sei sie um „Horizontalität“ bemüht, zwischen Publikum und Darsteller, so wie das auch schon in ihrem gefeierten Stück Lovefool der Fall gewesen sei.
„Ich habe eine hohe Meinung vom Publikum“ meint Gintarė Parulytė. „Eine Person die „Ja“ zu meinem Stück oder Film sagt, sagt automatisch „Nein“ zu allem anderen an dem Abend. Also stehe ich in der Pflicht ihre Zeit sinnvoll zu gestalten.“ Wir gingen doch immer als Menschen ins Theater oder ins Kino. „Wir sind nie bereit für das, was wir sehen. Wir sitzen ungemütlich, der Rücken tut uns weh, wir fragen uns, ob wir den Wagen falsch geparkt haben, denken an die Spülmaschine, die wir ausräumen müssen. Folglich ist meine erste Sorge: Was kann ich tun, damit du dich als Zuschauer sicher fühlst? Ich will die Welt einfach zu einem freundlicheren Ort machen”, resümiert Parulytė.
Sujip, u.a. produziert von Red Lion, ist ein ruhiges, ausgesprochen gelungenes und spannendes Kammerspiel. Formal an ähnliche Produktionen wie The Phone Call erinnernd, geht Sujip inhaltlich einen ganz anderen, eigenwilligen Weg. Parulytės Filme werden immer reduzierter: weniger Figuren, weniger Aktion, mehr Essenz. „Mein Produzent hat mal gesagt: Im zweiten Film drei Menschen, im dritten zwei, im nächsten wahrscheinlich keiner mehr.“ Sie lacht. Und doch ist da ein Ernst. In einer Zeit, in der Streamingdienste mit Explosionen, Plot-Twists und Drehbuch-Formeln um Aufmerksamkeit kämpfen, geht Gintarė Parulytė einen anderen Weg: leise, aber kraftvoll. Das hat die litauischen Filmfestspiele überzeugt: Vergangenen Juni wurde Sujip mit dem Preis für den besten Kurzfilm ausgezeichnet. In Luxemburg hingegen wurde der Film nicht mal nominiert. Ein Plot-Twist.