Jean Ehret sucht an der Luxembourg School of Religion & Society einen lebendigen Dialog über Gott. Wissenschaftspolitisch bleibt das Institut hierzulande ein Außenseiter

Gott, Kunst und Quantenphysik

Jean Ehret vor den Gemälden des Künstlers Maxim Kantor
Photo: Olivier Halmes
d'Lëtzebuerger Land du 28.04.2023

Zwei Wochen vor den Wahlen 2013 wurde Jean Ehret Direktor des Centre Jean XXIII. Zwischen den Zeilen deutet er an, er gehe mit dem Zeitgeist. Vielleicht weil er meint, die Zeichen der Zeit zu deuten wisse: „Damals hielt unser Dekret fest, dass unser Haus vor allem ein Ort ist, an dem geforscht und Wissen vermittelt wird sowie ein Dialog zwischen unterschiedlichen religiösen Gemeinschaften stattfindet – und nicht mehr nur Priester ausgebildet werden sollen.“ Ehret verstand, dass die katholische Kirche ihre Machtposition eingebüßt hatte, noch bevor die CSV auf der Oppositionsbank landete. Es war ihm wichtig, sich von einer selbstreferenziellen bekenntnis-
orientierten Theologie zu distanzieren und den Dialog über Religion mit der Gesellschaft zu suchen. 2015 wurde das Vorhaben institutionell konkreter: Die Luxembourg School of Religion & Society (LSRS) wurde gegründet. Sie ist heute international mit der Universität Tübingen, Potsdam, Amsterdam und Turin vernetzt. Aus theologischen Fachkreisen aus dem Ausland vernimmt man, die Forschungsprojekte der LSRS würden mittlerweile „gehyped“.

Jean Ehret ist ein adrett gekleideter Professor: weißes Hemd, rote Krawatte, blaues Jackett. Sein Kopf verrät, dass er in einem Alter angekommen ist, in dem bereits mehr als ein Haar grau ist. Wir sprechen Anfang April über Zoom. Am Tag zuvor rief Ehret an und verkündete, nicht bedrückt, sondern heiter: „Ech hunn de Covid.“ Eine gewisse Heiterkeit scheint sein Wesen zu durchziehen; dem Typus des insichgekehrten Religiösen entspricht er nicht. Vielleicht hat sie ihn akademisch weit gebracht: Er hat nicht einmal promoviert, sondern zweimal. 2005 legte er eine erste Dissertation an der Universität Metz mit dem sperrigen Titel Art de Dieu art des hommes. L’esthétique théologique à l’ère du pluriel du beau et du singulier de l’art in französischer Sprach- und Literaturwissenschaft vor. Vier Jahre später seine zweite im Fach Theologie: Verbum vitae. Études sur le rapport entre la foi et la vie chrétiennes. Seine Preisterweihe wurde 1992 vollzogen, später wurde er zudem zum Bischofsvikar für akademische Angelegenheiten ernannt. Er stammt aus einer Minetter Arbeiterfamilie, „doheem gouf d’Tageblatt gelies an de Papp war am OGBL“. Zu seinem rastlosen Geist gesellen sich exzentrische Charakterzüge, er wollte vom Land-Fotografen auf seinem Motorrad abgelichtet werden. Ein Kenner des katholischen Milieus meint, gerade Ehrets Exzentrik würde in diesem Umfeld als Ventil wirken.

Nachgedacht wird an der LSRS über unterschiedliche Themen: Über Erinnerungsarbeit, Antisemitismus und interreligiösen Dialog im Rahmen der Übersetzung ins Deutsche des literarischen Werks von Elie Wiesel (Überlebender des Holocausts und Friedens-Nobelpreisträger). Über Vertrauen in nahezu all seinen Dimensionen: seiner privaten, öffentlichen, politischen, institutionellen, ökonomischen und religiösen. Aus philosophischer Sicht sind Publikationen über „Grenzen“ angedacht sowie über „Glauben“ in einer Ära der fake news und Verschwörungstheorien. Professor Alberto Ambrosio hat unlängst eine Monografie über Mode und Religion vorgelegt. Und das Kolloquium Living Thought(s), Thinking Life, Facing Global Challenges brachte Studierende aus unterschiedlichen Disziplinen zusammen.

In der Bibel wird von Wunderheilungen, Erscheinungen und der leiblichen Auferstehung von Toten berichtet. Wie vereinbart Jean Ehret akademischen Anspruch und seinen katholischen Glauben? Über Zoom versucht er den Odem des Absolutheitsanspruchs zu verscheuchen: „Ein Mensch aus dem 21. Jahrhundert sollte nicht in den Kategorien von vor 2 000 Jahren denken.“ Die Kirche müsse die Entwicklungen in den Geistes- und Naturwissenschaften in ihre Beziehung zu Gott integrieren. Wenn er das zu manch anderen Christen sage, klinge dies „fir si e bësse knallhart“. Wer behaupte, Gottes Wort beziehe sich auf eine bestimmte äußere Realität, der müsse „sehr, sehr vorsichtig sein“. Da schreibe man möglicherweise Gott „etwas zu, was ihm gar nicht zukommt“.

Die religiöse Sprache sei nicht so eindeutig wie andere Formen des Sprachgebrauchs, sie sei deutungsoffener: „Verschiedene Sprachanwendungen haben verschiedene Funktionen. Wenn jemand Krebs hat und Sie würden beispielsweise sagen, Gott habe es so gewollt: Was heißt das? Man solle sich der Krankheit einfach ergeben? Oder, dass man die Realität der Erkrankung anerkennen muss, um gleichzeitig gegen sie anzukämpfen und ein Zeugnis der Hoffnung zu geben? Vatikan II hat festgehalten, dass in der Theologie der Adressat und seine Interpretationsmöglichkeiten immer mitbedacht werden sollen. Wir betreiben heute also eine kontextabhängige dialogische Theologie. Deshalb kommt es nicht nur darauf an, was ich predige, sondern auch wie es wahrgenommen wird. Da ist in der katholischen Kirche aber noch Luft nach oben.“

Auf Gott selbst habe Jean Ehret keinen Zugriff, meint er. So wie andere Menschen auch nicht: „Seine Essenz kann kein Mensch voll und ganz durchdringen. Gott ist immer größer als das, was wir über ihn sagen können. Also sollte man bescheiden bleiben.“ Dennoch könnten Menschen sich ihm annähern: „Mee mir hu grouss Imaginären, ech schaffen an deem vum Chrëschtentum, dat ass eng Satzung, dat ass mäi Gleewen, an hei bestinn ech op ee substantivéiert Verb, wëll et verdäitlecht, dass ech mech op den Härgott ausriichten.“ Es gehe um eine Beziehung, und darum wie man sein Leben vollzieht. Und dabei sei der Gottesbegriff nicht unerheblich, denn er leite und orientiere den Einzelnen – ein negatives Gottesbild führt zu anderen Lebenseinstellungen wie ein positives. Ehret wirft eine Redewendung ein, die er öfter in seinen Vorlesungen gebraucht: „Es gibt keinen Gott, der euch die Verantwortung abnimmt, für das, was ihr über ihn sagt.“

Zwei Wochen nach dem Zoom-Gespräch: Besuch im Centre Jean XXIII. Jean Ehret ist nicht anwesend; er ist in Paris an einer Tagung über Elie Wiesel. Die Woche davor war er an der Universität Uppsala; er reist häufig mit seinen intellektuellen und religiösen Fragen von Konferenz zu Konferenz. Der FünfzigerjahreBau hat nur zwei Stockwerke und liegt am Rande des Kirchbergs ins Grüne eingebettet. Im Hintergrund strecken sich die Antennen des RTL-Gebäudes wie Speere in den Himmel. Im Innenhof des katholischen Zentrums befindet sich eine Kapelle. Eigens für sie hat der Residenzkünstler der LSRS, Maxim Kantor, eine Serie großer Tableaus angefertigt: Leicht abgemagerte Gestalten mit überdimensionierten Köpfen sind auf ihnen zu sehen; Menschen- und Rinderschädel neben Vögeln. Auf einem Flyer steht erläutert: „Kantor has painted saints struggling with God and searching for God, creating a space where the divine presence is not realized in art, but can be experienced (…)“. Die Person am Empfang kommentiert das Werk mit „et ass e bësse speziell“. In einem Seitenflügel des Zentrums befindet sich das Priesterseminar. Zehn Seminaristen bereiten sich hier auf das Priesteramt vor. „Zwei von ihnen stammen aus Luxemburg, die meisten aber kommen aus aller Herren Länder“, erklärt die Empfangsperson.

Rolf Tarrach, Quantenphysiker und ehemaliger Rektor der Uni.lu, ist Ehrenprofessor an der LSRS. „Ich glaube nicht an Gott, aber mich interessieren Religionen aus gesellschaftspolitischer Perspektive. Als Wissenschaftler kann ich nicht übersehen, dass es global betrachtet Milliarden von Gläubigen gibt“, erläutert er auf Nachfrage. Er wolle verstehen, weshalb Religionen Menschen begeistern können, etwas, das die Wissenschaftskommunikation kaum vermöge. Jean Ehret kennt er seit 2010, als er eine Konferenz unter dem Titel Dieu et la Science organisierte. Sie seien heute befreundet. Allerdings unterscheiden sich ihre Auffassungen über Theologie, Rolf Tarrach beispielsweise findet, das Fach Theologie habe nichts an einer Universität verloren: „Die Theologie ist zwar eine Form von Wissen, beruht aber auf keiner wissenschaftlichen Methode, arbeitet nicht empirisch und schon gar nicht wie die Naturwissenschaften mit Kontrollgruppen.“ Müsste dann nicht auch die Philosophie außeruniversitär gelehrt werden? Die Philosophie verfahre logisch, „sie hilft zu denken“, erwidert Tarrach. In Luxemburg hat sich Rolf Tarrachs Position durchgesetzt. Wie in Frankreich und Spanien gibt es keine theologischen Lehreinheiten an der Universität. Vor allem in protestantischen Ländern ist dies anders: Hier begannen protestantische Gelehrte gegen Ende des 19. Jahrhunderts religionsbezogene Lexika und Enzyklopädien anzufertigen; an die Politik vermittelten sie ein Bild des vernunftgeleiteten Forschungswillens. Die LSRS finanziert sich jedoch über das Hochschulministerium und kann, wie andere Forschungseinrichtungen oder Unternehmen auch, Anträge beim FNR einreichen.

Im Januar hat Rolf Tarrach einen Vortrag an der LSRS gehalten, der verdeutlichen sollte: Die Quantenphysik ist bizarr, man könne sie zwar experimentell und mathematisch nachweisen, aber nicht wirklich verstehen. Nicht minder bizarr seien religiöse Erzählungen, wenngleich von ihrer Natur her nicht wissenschaftlich nachweisbar. Zur Veranschaulichung nimmt er ein Meeres-Wunder aus dem alten Testament. Als Moses und die Israeliten auf der Flucht vor den Ägyptern sind und die Streitkräfte des Pharao sie fast eingeholt haben, da geschieht ein Wunder: Das Meer teilt sich, bildet eine Schleuse und die Isrealiten gelangen trockenen Fußes ans Ufer, während ihre Verfolger ertrinken. „Die Quantenphysik erlaubt, dank der Wellen-Teilchen-Dualität, eine analoge Metapher zu der biblischen Erzählung: im Doppelspalt-Experiment geht das Teilchen als Welle durch die Spalten, um dann auf der anderen Seite wieder als Teilchen wahrgenommen zu werden. So überquert jeder Israelit das Meer als Welle, um dann am anderen Ufer wieder als Mensch anzukommen“, erläutert Tarrach.

Damit reiht sich Rolf Tarrach in eine lange Liste von Quantenphysikern ein, die über Religion publiziert oder nachgedacht haben. Werner Heisenberg schrieb in seinem Artikel Positivismus, Metaphysik und Religion, die Quantentheorie „ist so ein wunderbares Beispiel dafür, dass man einen Sachverhalt in völliger Klarheit verstanden haben kann und gleichzeitig doch weiß, dass man nur in Bildern und Gleichnissen von ihm reden kann“. Ähnlich sei es auch mit der Sprachlosigkeit religiöser Erfahrungen. Sein Schüler Hans-Peter Dürr veröffentlichte Bücher mit den Titeln wie Liebe: Urquelle des Kosmos. Ein Gespräch über Naturwissenschaft und Religion. Am wildesten trieb es Wolfgang Pauli. Er beschäftigte sich mit christlicher und hinduistischer Mystik, Alchemie sowie Parapsychologie und stellte die Frage: „Werden wir auf höherer Ebene den alten psychophysischen Einheitstraum der Alchemie realisieren können, durch Schaffung einer einheitlichen begrifflichen Grundlage für die naturwissenschaftliche Erfassung des Physischen wie des Psychischen? Wir wissen die Antwort noch nicht.“

An der LSRS sucht Jean Ehret nicht nur nach Antworten auf seine Fragen, sondern will auch einen gesellschaftspolitischen Anspruch realisiert wissen: „Mäi grousst Uleies ass, dass d’Kierch net sektär gëtt, mee ee konstruktiven Deel vun eiser Gesellschaft“. Sich abkapselnde Gruppierungen gewinnen allerdings in den letzten Jahren an Terrain. Auf Cents etablierte sich das konservative Institut du Verbe Incarné und in Belval, mit der Unterstützung von Kardinal Hollerich, die Gemeinde Verbum Spei, dessen Konzept der „Freundschaftsliebe“ eine Hintertür öffnen kann, um Missbrauch innergemeinschaftlich zu rechtfertigen. Ihr Gemeinschaftsgründer, Marie-Dominique Philippe, wurde 2016 zudem von der Zentralbehörde für Ordensgemeinschaften des Missbrauchs beschuldigt. Diese Gemeinden stehen zumeist weit rechts und zählen auf den Zuspruch von Franzosen adligen Ursprungs.

Jean Ehret nimmt Kardinal Hollerich in Schutz und meint, „diese konservative Gruppierungen haben Zulauf, weil in Luxemburg Konservative leben“. Und nicht weil Kardinal Jean-Claude Hollerich in diesen Religionsgemeinschaften die Zukunft des Katholizismus sehe. Man solle nicht die Pluralität der Kirche übersehen: Die italienischsprachige Gemeinschaft halte beispielsweise an einer klassischen Liturgie fest, und sei zugleich offen für unterschiedliche Lebensformen. Damit unterscheiden sie sich von den Gruppierungen französischer Prägung. Die Kirche habe „eine Spagataufgabe“ zu meistern, um „die Einheit der Kirche zu bewahren“. Er sieht aber auch soziologische Gründe für den Aufschwung der Konservativen: „Es fällt auf, dass Konservative ihre Mitglieder stärker an sich binden.“

In einer E-Mail reicht der Theologe Ehret die Bitte nach, das „&“ im Namen der Luxembourg School of Religion & Society nicht durch „and“ zu ersetzen. Es handele sich dabei nämlich um ein Zeichen, das ein Band zwischen Religion und Gesellschaft verdeutlicht, ein Band das „hin und her schwingt“ und auf eine „dynamische Beziehung“ verweise. Das nächste christliche Fest, das im Kalender ansteht, ist Pfingsten. Er, der darin geübt ist, Zeichen zu deuten und biblische Inhalte zu aktualisieren, er, der sich in Kunst und Philosophie auskennt, wie interpretiert er Pfingsten? Fährt an Pfingsten der heilige Geist in die Gläubigen? „Wenn man den Geist als die Fähigkeit zu kommunizieren deutet – weil an Pfingsten steht ja die Glossolalie-Erfahrung im Zentrum – dann steht an diesem Fest das Thema der Sprachaneignung im Raum. Eine Sprachaneignung, die es ermöglicht, dass man sich über Grundlegendes austauschen kann, beispielsweise darüber, was es heißt, Mensch zu sein.“

Stéphanie Majerus
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