Den Bürger/innen Verantwortung in der Pandemie übertragen, ist eine zivilisatorische Geste der Regierung. Noch immer aber kommuniziert sie nur das Nötigste

Übers Eis mit der Gesundheitsministerin

Covid-Testzentrum in Luxemburg
Photo: Sven Becker
d'Lëtzebuerger Land du 23.10.2020

Nur Minuten, bevor die Gesundheitsministerin am Mittwochnachmittag ihre Corona-Pressekonferenz eröffnete, machte die Meldung von einem „Cluster“ im Centre hospitalier de Luxembourg die Runde: In den Stationen für Unfallchirurgie und Gefäßchirurgie des CHL waren drei Mitarbeiter/innen und fünf Patient/innen Covid-positiv getestet worden, die Stationen wurde daraufhin geschlossen. Zwei Tage vorher hatte es Covid-Fälle am Hôpital de Kirchberg gegeben.

Corona-Infektionen in zwei Spitälern innerhalb von zwei Tagen – das erweckt nicht gerade den Anschein, als sei die Lage unter Kontrolle. Und im Laufe der Pressekonferenz wurde klar, weshalb Paulette Lenert sie einberufen hatte, statt wie jeden Mittwoch um diese Zeit per E-Mail eine „Rétrospective“ der Corona-Lage in der vergangenen Woche herauszugeben. In den
24 Stunden zuvor waren 416 Personen Covid-positiv getestet worden, so viele wie noch nie an einem Tag seit Ausbruch der Pandemie. Am 23. März, eine knappe Woche nach Ausrufung des Confinement, waren es 219 gewesen. Es sollte fast sieben Monate dauern, ehe diese Zahl vergangene Woche zweimal, aber zunächst nur um 20 bis 30 überschritten wurde.

Ist die Lage damit außer Kontrolle? Paulette Lenert will davon noch nicht reden. Aber ihre Botschaften sind widersprüchlich. Die letzten sieben Tage seien „alarmierend“ gewesen, die 1 280 in diesem Zeitraum gemeldeten Neuinfektionen waren immerhin 50 Prozent mehr als in der Woche zuvor. Und das Virus sei „überall ganz präsent“, erklärte sie am Mittwoch; das ergäben die landesweiten Abwasseranalysen. Im Frühjahr wurde: „Das Virus zirkuliert allgemein“ übersetzt mit: „Eindämmung ist nicht mehr möglich“ und der Lockdown verhängt. Heute sagt die Ministerin: „Wir haben das auf dem Radar.“

Dass Lenert freundlich-stoisch das Mantra wiederholt, das sie mit Premier Xavier Bettel am Samstag nach dem außerplanmäßigen Regierungsrat ausgegeben hat, „jetzt“ sei noch nicht der Moment für einschneidendere Maßnahmen, hat natürlich damit zu tun, dass die Regierung so lange es geht so viel Normalität wie möglich aufrechterhalten will. Ob erneuter Lockdown oder nicht, ist gar nicht die Frage; noch einmal will das niemand. Xavier Bettel selber lag daran, das zu versichern, als er noch vor der Kabinettsitzung vom Samstag zu RTL ging und erklärte, „das ist das Letzte, was ich als Premier machen will“. Schon weitere Einschränkungen hätten wirtschaftliche Folgen. Man muss gar nicht zum nächtlichen couvre-feu greifen wie Belgien nun zum ersten Mal seit der Nazi-Besatzung. Die Begrenzung der Öffnungszeiten in der Gastronomie wäre bereits ein Schaden. Und das zu einer Zeit, da Premier Bettel zwar wiederholt, „die Krise kostet, was sie kostet“, aber noch nicht ausgemacht ist, wer die bisherigen elf Milliarden Euro an öffentlichen Corona-Ausgaben tragen wird. Die Wirtschaft soll drehen. Hinzu kommt: Noch ist Oktober, die kalte Jahreszeit kommt erst. Zu viel Pulver zu früh zu verschießen, wäre nicht klug. Wer weiß schon, was im Winter womöglich nötig sein wird zu entscheiden und welchen gesellschaftlichen und vielleicht auch politischen Preis das hätte? Lange Einschränkungen könnten Hoffnungslosigkeit oder Wut in der Bevölkerung hervorrufen. In einem kleinen Land mit sehr heterogener Bevölkerung kann das niemand wollen. Eine liberale Regierung schon gar nicht.

Und so reicht die Regierung die Zuständigkeit für den Grad der Normalität vorerst an die Bürger/innen weiter. Das ist eine sehr zivilisatorische Geste. Dass die Menschen in den vergangenen sieben Monaten gelernt haben müssten, wie das geht, mit dem Virus zu leben, und dass die Einhaltung von Hygieneregeln etwas bringt, kann man ohne Weiteres annehmen. Bei Glatteis führen die Leute schließlich auch langsamer, versinnbildlicht Paulette Lenert das gerne.

Doch die Corona-Bürgerselbstverwaltung stößt an ein Problem: Die Regierung nimmt ihre Bürger/innen noch immer nicht für voll. Wie im Frühjahr geben Premier und Gesundheitsministerin das sympathische Krisenmanager-Elternpaar, das die Bevölkerung mit sanftem Autoritarismus durch die Pandemie zu bringen verspricht. Doch im Unterschied zum Frühjahr lässt sich jetzt das Versprechen, dass bald alles vorbei sei und anschließend die alte Freiheit und Kaufkraft winkten, nicht mehr so machen wie im Confinement. Die Sommerferien sind gelaufen, jetzt kommt der dunkle, kalte Winter mit den vielen Viren. Und noch immer ist kein Vakzin in Sicht.

Wer nicht nur für ein paar Wochen die Mitarbeit der Bevölkerung haben möchte, damit die Statistik besser wird, sondern über Monate, vielleicht bis es im Mai nächsten Jahres wieder wärmer wird, muss mehr tun als mit bürgernahem Charisma Solidarität zu predigen. Wer so viel Mitarbeit will, muss die Situation vollständig und in aller Transparenz erklären und erläutern, welche Optionen es gibt.

Das aber tut die Regierung nach wie vor nicht. Noch immer gilt offenbar, was Paulette Lenert Anfang März ein Stück klugen Krisenmanagements nannte: Kommuniziert wird nur so viel wie nötig. Doch während die Menschen draußen im Land sich daran gewöhnt haben, auf die Entwicklung der Covid-positiv Getesteten zu schauen, erfahren sie von der Regierung nun, so einfach sei das nicht. Paulette Lenert sagt, in ihrem Ministerium würden viele Parameter benutzt, um den Verlauf der Pandemie einzuschätzen. Die Beanspruchung der Krankenhäuser spiele eine Rolle, der Altersdurchschnitt der Covid-Infizierten auch. Doch worauf genau geschaut wird und wie alles zusammenhängt, sagt sie nicht; sie bringt nur Beispiele.

Falls die Regierung sich keine Blöße geben will, ergibt die sich aber auch durch ihre Zurückhaltung. Der größten Oppositionspartei ist zum Beispiel aufgefallen, dass die Gesundheitsministerin von einem wachsenden Anteil der als infiziert Erfassten nicht sagen kann, wo sie sich angesteckt haben. Dies zu erfahren, habe sie „entsetzt“, sagt CSV-Fraktionspräsidentin Martine Hansen. Die Ministerin sagt dazu, von Menschen mit vielen Kontakten ließen diese sich einfach nicht umfassend nachverfolgen; das sei die Erklärung. Aber funktioniert die Kontaktverfolgung noch gut? Wenn die CSV-Fraktionschefin daran öffentlich zweifelt, spielt sie auch ihre politische Rolle. Man erinnert sich jedoch, dass im Sommer der Direktor des Gesundheitsamtes einen Moment lang eingeräumt hatte, das Contact Tracing könne nicht mehr jedem Fall nachgehen. Ein paar Tage später behauptete die Ministerin das Gegenteil. Damals ging es um 50 bis 60 neue Fälle am Tag, keine hunderten wie jetzt. Paulette Lenert aber weicht Fragen, ab wann die Kontaktverfolgung überfordert ist, aus. Sie lässt nur wissen, dass die Armee nun auch beteiligt sei.

Zu hoffen ist natürlich, dass das Krisenmanagement in Wirklichkeit viel besser ist, als die Verlautbarungen vermuten lassen. Um gut durch den Winter zu kommen, braucht es jedoch mehr als die Bereitschaft der Bürger/innen, Anderen nicht zu nahe zu kommen und sich eine Maske überzuziehen, wenn erforderlich. Am Mittwoch überraschte die Paulette Lenert mit der Empfehlung an über 65-Jährige, besonders auf sich aufzupassen: Geht Luxemburg nun etwa den schwedischen Weg, ist „Herdenimmunität“ das Gebot der Stunde; vielleicht, damit die Covid-Ausgaben nicht noch weiter steigen?

Wahrscheinlich ist dem nicht so, aber Unrecht hat die Ministerin andererseits nicht: Wieso sollte nicht jede/r auf sich achtgeben? Doch das ist ein politisches Minenfeld, denn es führt zu der Frage, wo der Zuständigkeitsbereich der öffentlichen Gesundheit endet und der des Einzelnen beginnt. Auch in einer Pandemie. Es reicht aber nicht, den über 65-Jährigen pauschal besondere Achtsamkeit zu empfehlen. Einerseits haben auch ältere Menschen ganz verschiedene Lebenssituationen und benötigen an diese Situation angepassten Schutz und Selbstschutz. Andererseits zählen zur „Covid-Risikogruppe“, um bei dieser zu bleiben, nicht nur Menschen ab einem bestimmten Alter. Sondern zum Beispiel auch Diabetiker, die durchaus jung sein können, Menschen mit hohem Blutdruck, Krebskranke oder Menschen mit hoher Fettleibigkeit. Gibt es für sie alle noch weiterreichende Hinweise und Empfehlungen als die ganz allgemeinen, die da lauten, am besten daheim zu bleiben und online einzukaufen? Gibt es eine Kampagne, die sich an Diabetiker zu deren Schutz richtet? Wird vielleicht verstärkt versucht, Risiken aufzuspüren – zum Beispiel Bluthochdruck, über den vor Jahren eine Studie des Centre de recherche publique de la Santé besorgniserregend viele unbehandelte Fälle erhob (d’Land, 2.9.2011)?

Will die Regierung den Bürger/innen tatsächlich mehr Selbstverantwortung geben, hätte in einem solchen Gemeinschafts-Projekt auch eine Tracing-App Platz. Sie käme dann nicht in den Verdacht, ein Instrument eines Gesundheits-Überwachungsstaats zu sein, sondern eines für eine Gemeinschaft, deren Mitglieder sich gegenseitig schützen möchten. Selbst wenn nicht viele die App herunterlüden und nutzten: Sie wäre dennoch ein Beitrag zu einer Lösung.

„In den nächsten Wochen kommt es drauf an“, hatte Premier Bettel gegen Ende seiner Erklärung zur Lage der Nation gesagt. Er konnte damals noch nicht ahnen, wie recht er hatte: Lässt man Revue passieren, was die Modellierer von der Taskforce Research Luxembourg in den letzten Monaten simuliert haben, dann fällt auf, dass sie im Sommer zum Teil dramatische Szenarien entwarfen, die nicht eintraten. Dagegen wird in dem jüngsten „Update“, das am Montag auch öffentlich gemacht wurde, anhand der Dynamik von vergangener Woche geschätzt, bis Anfang Dezember könne die tägliche Fallzahl auf 370 steigen und dies der Beginn einer exponentiellen Zunahme sein. Vielleicht war es schon diese Woche soweit.

Peter Feist
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