Die Luxemburger entdecken nach der Isolation Sportvereine als Orte der Geselligkeit

Unerwartete Gewinner

d'Lëtzebuerger Land du 23.10.2020

Aufwärmen: Die ersten Zuschauer/innen machen es sich auf aufgerollten Matten bequem, rutschen herum, um größtmöglichen Abstand zueinander zu halten, während sie sich – meist erfolgreich – unter Schmetterbällen wegducken. In der Sporthalle Henri Schmitz in Esch/Alzette spielte am Samstagabend der lokale Volleyballverein gegen die Besucher aus Walferdingen und es dauerte nicht lange, bis etwa 70 Schaulustige sich auf Stühle verteilten, die nach und nach hingestellt wurden, sauber socially distant. Niemand schien mit so vielen Besuchern gerechnet zu haben. Immerhin sind es „nur“ die Spiele Esch 3 – Walferdingen 1 und Esch 2 – Walferdingen 2. Trotzdem sind nicht nur die Stühle des Publikums, sondern auch die Bänke der Teams voll besetzt: „Zu diesen Spielen kamen vorher bestenfalls die Eltern. So viele Leute bei einem Match in der dritten Division zu haben, ist phänomenal“, sagt Steve Faltz, Sekretär des Escher Volleyballclubs (EVBC), bevor er selbst beim zweiten Spiel auf dem Feld steht.

Die gefüllten Tribünen verblassen jedoch verglichen mit der Eintrittswelle neuer Mitglieder beider Teams. In den vergangenen zwölf Monaten ist die Zahl der Mitglieder des EVBC von 130 auf 170 gestiegen, Tendenz weiter eindeutig steigend, sagt Faltz. Viele der Neueinsteiger/innen seien Menschen, die man sonst erfahrungsgemäß nicht erwarten würde. Vereine, die vorher Schwierigkeiten hatten, auch nur ein einziges Team zusammenzustellen, haben mittlerweile zweite und dritte Mannschaften. Besonders Anfänger, die sich vorher nicht getraut haben, sofort mit den „großen Jungs und Mädels“ auf einem Feld stehen, scheinen aktuell über ihren eigenen Schatten zu springen, um ein paar Bälle zu spiken. Mexx, Sekretär und Trainer des Volleyballvereins Walferdingen (RSR), bestätigt, dass Esch keine Ausnahme ist: 60 Leute hat der RSR in einem Jahr gewonnen. Der Verein ist damit in einem Jahr um die Hälfte gewachsen.

Pulsmessung Volleyball scheint also zu boomen, so what? Während den meisten Dachverbänden noch keine zuverlässigen Zahlen für das Jahr vorliegen, deutet eine stichprobenartige Umfrage bei verschiedenen Vereinen, groß und klein, an, dass es sich eher nicht um ein auf Volleyball beschränktes Phänomen handelt: Der Tischtennisverein DT Bissen stellt nach den eher rückläufigen Zahlen der vergangenen Jahre wieder deutlich wachsendes Interesse fest; vor allem bei Jugendlichen, sagt Präsident Christian Schaus. „So viele neue Mitglieder, dass es eine Herausforderung war, alles zu koordinieren“, hatte laut Tom Schumacher auch der Basketballverein Düdelingen. Der Präsident des Handballs Bartingen spricht unterdessen von „eher größerem Interesse als vorher“. Und es sind nicht nur Ballsportarten, die beliebt sind: Beim Bogenschützenverein Fine Flèche aus Walferdingen wurden in den vergangenen drei Monaten zehn neue Lizenzen eingetragen, und während der Karate-Club Lintgen einige Verluste langjähriger Mitglieder verbuchen musste, werden diese sofort von neuen abgelöst, sagt Trainer Jean-Claude Henry: „Es sind sowohl Rückkehrer als auch Anfänger, einfach weil sie Sport machen möchten.“ Normales Wachstum stellt laut der FLF auch der Fußball fest, wobei „normal“ relativ ist: etwa 5 000 neue Lizenzen jährlich. Während sich das Ausmaß des Wachstums also von Verein zu Verein unterscheidet, reicht die Bandbreite von „ein paar neuen Gesichtern“ bis „uns werden die Türen eingerannt“.

Das wachsende Interesse steht natürlich im – bisher nur angedeuteten – Kontext des Isolations-Jahres 2020. Eine Erklärung scheint auf der Hand zu liegen, wie Jean-Claude Henri vom KCL prägnant zusammenfasst: „Die Leute kommen und sagen: Allez, komm mir maachen eppes.“ Christophe Junker, gestionaire administrativ beim Volleyball-Verband FLVB, ergänzt: „Viele Leute, die bisher ein bisschen zu beschäftigt waren, um am wöchentlichen Vereinsleben teilzunehmen, scheinen zu uns zurückzufinden.“ Der Mensch ist und bleibt ein soziales Wesen, das nicht zum Nichtstun gemacht ist. Er sucht instinktiv Schutz in eben den kleinen Gruppen, die gegenwärtig notwendigerweise oft verwehrt bleiben, ironischerweise zum Schutz der Gruppe und von einem selbst. Sportvereine, immer schon Ecksteine der sozialen Kohäsion und Integration, können bei diesem mentalen Tauziehen zwischen Emotion und Vernunft helfen, indem sie in einem kontrollierten, übersichtlichen Umfeld das Bedürfnis nach Gesellschaft und Kooperation erfüllen, ohne sich zu großen Risiken auszusetzen. Denn jede der oben freudig verkündeten wachsenden Mitgliederzahlen kam mit der gleichen Einschränkung: „Wir müssen im Moment enorm aufpassen.“ Und aufpassen, das tun sie, wie der Besuch des Volleyball-Trainings in Walferdingen zeigt.

Neue Routinen Mit wachenden Mitgliederzahlen wächst die Verantwortung der Vereine. Um die Übersicht zu behalten, wird eine bewährte Strategie verfolgt. Das große, unübersichtliche „Problem“ wird auf kleinere heruntergebrochen. Soll heißen: Große Spielergruppen werden in mehrere kleine aufgeteilt, die sich nicht kreuzen. Gruppensportarten haben es da leichter. Die Teams bleiben unter sich. Zehn Minuten vor Trainingsbeginn sitzen die Spielerinnen des ersten Volleyball Damen-Teams Walferdingen mit Maske auf der Treppe vor den Umkleidekabinen. „Wir warten, bis die Mannschaft vor ihnen fertig ist, bevor wir das Team reinlassen“, erklärt Trainer Ben Angelsberg. Der Kontakt zwischen den einzelnen Teams wird dadurch minimiert.

Teilnehmende müssen sich vor dem Training anmelden, um komplettes Tracing garantieren zu können. „Lieber einer zu viel auf der Liste als einer zu wenig, wir sind da sehr streng“, sagt Mexx, der hinter einer dicken kinoleinwandartigen Abtrennung, die die Halle in Segmente einteilt, ein anderes Team trainiert. Die einzelnen Mannschaften sind während des gesamten Trainings komplett voneinander abgeschirmt, können sich nicht einmal sehen. Vor dem Aufwärmen messen die Trainer bei allen Anwesenden mit einem Infrarot-Thermometer die Körpertemperatur. Mit Fieber trainiert hier niemand. Nur auf dem Feld darf die Maske abgenommen werden, auf der Bank gilt: zwei Meter Abstand oder Maske. „Auch wenn es ziemlich einfach ist, die zwei Meter während der Matches immer einzuhalten, trage ich trotzdem eigentlich immer die Maske“, sagt Angelsdorf. „Als Trainer nimmt man eine gewisse Vorbildfunktion ein, nicht nur innerhalb des Teams, sondern auch in den Medien.“ Alle Schutzmaßnahmen, die hinter den Kulissen streng eingehalten werden, verhindern keine Kritik, wenn sie nicht nach außen hin sichtbar sind. „Wir wurden am Anfang der Einschränkungen als Sport mit einem hohem Risiko eingestuft“, erinnert sich Angelsberg, während er demonstrativ einen unsichtbaren Ball direkt vor seinem Gesicht fängt. Da ist Optik wichtig.

Grätsche Dennoch ist nicht alles rosig. Viele Vereine kämpfen aktuell mit akutem Trainermangel, der durch die vielen neuen Mitglieder verschärft wird. Insbesondere Anfänger müssen oft individuell betreut werden, und die Schutzmaßnahmen erschweren dies. Gleichzeitig schreibt die Buvette, wichtige Einnahmequelle für die Vereine und Versammlungsort der Spieler und Zuschauer, bei den vielen Vereinen rote Zahlen oder erlaubt bestenfalls, die Kosten aufzufangen. Die Getränkeausgabe muss sich an dieselben Regeln halten wie Gastronomiebetriebe: Es darf nur im Sitzen getrunken werden und es gelten die gleichen Sperrzeiten. Laut Christophe Junker ist das ein zweischneidiges Schwert: Einige Leute bleiben länger sitzen als vorher, andere trinken und essen nichts vor Ort. Tom Schumacher berichtet von ähnlichen Erfahrungen beim Basketball Düdelingen: „Wir halten uns über Wasser, aber finanziell kann es so nicht ewig weitergehen.“

„Man sucht Geselligkeit, und hier findet man sie“, sagt ein Zuschauer des ersten Matches am Samstag in Esch. Sportvereine scheinen aus diesem Grund für eine ganze Reihe Leute ein Ort der Begegnung geworden zu sein, des sicheren Kontaktes mit Spieler/innen, Zuschauern, Menschen. Die aktuellen Einschränkungen erlauben ein kontrolliertes, aber relativ „normales“ Funktionieren der Sportvereine; ob das so bleibt, oder ob zukünftige Einschränkungen dies wieder erschweren, bleibt abzuwarten. Das Vereinsleben, das in den letzten Jahren ein bisschen ins Stolpern gekommen ist, könnte demnach einer der unerwarteten Gewinner in einer Pandemie sein, während der sozialer Kontakt nicht mehr selbstverständlich ist.

Misch Pautsch
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