Die kleine Zeitzeugin

Sein Grab selber segnen

d'Lëtzebuerger Land vom 23.10.2020

In Bayern wurde eine tolle Idee geboren, eine Do-it-yourself-Idee, wie es in den Hobby-Büchern der Väter in den Fünfzigerjahren hieß. Dieses Jahr sollen die Menschen ihre Gräber doch verdammt noch mal selber segnen! Beziehungsweise vermutlich eher die derer, die ihnen nahestanden und die sie nie verstanden. Why not, ja, warum eigentlich nicht, man soll ja sein Leben selber in die Hand nehmen, sein Ableben erst recht, jede von uns, mit oder ohne Verhinderung, selbstständig sollen schließlich schon Zweijährige werden. Eigenverantwortlich, das neue Kultwort, schwappt gerade aus Schweden so über uns drüber, man kann nicht früh genug damit beginnen.

Man macht ja sowieso ziemlich viel selber, immer mehr, Mensch besorgt es sich selber, Mensch entsorgt sich selber, nur keine Umstände. Nur niemandem zur Last fallen. Keine Altlasten, werben Leute für sich selber auf Partner/innenportalen für die edel gereifte Zielgruppe. In den europäischen Großstädten war lang vor Corona jeder zweite Haushalt ein Single-Haushalt. Und warum auch nicht, warum sich lebenslänglich mit einer mäßig optimierbaren Familienbande abplagen, gefesselt an einen ehernen Ring? Die Facebook-Freund/innen besetzen wenigstens das Klo nicht. Und mit einem Klick sind sie weggezaubert, das ist viel märchenhafter als ewige Liebe.

My home is my office, lautet ein anderer Kultbegriff, das traute Beisammensein in Großraumbürobatterien, dieses Kulturerbe, geht dann wohl auch flöten. Jeder kann jetzt autonom mit sich selbst kuscheln. Und sich hinter der Maske was zunuscheln, sieht ja keiner, hört ja keine. Nicht mal Gott. Außer Guggelgott, aber mein Gott, was soll man gegen den tun? Er ist allgegenwärtig, allmächtig und allwissend. Aber er steckt eine wenigstens nicht in die Hölle. Außer vielleicht in die der Einsamkeit. Aber wahrscheinlich hat er auch schon ein Mittel dagegen, ich rede nicht von Chips! Höchstens von denen, durch die man sich in der guten alten Zeit knabberbaggerte. Damals, als Rudi Carrell noch lustig war. Oder von einem netten Robo-Buddy, mit dem man nicht dauernd so ein Gemecker hat.

Old-school-Gott, falls jemand sich erinnert, ist indessen schon seit eh und je in den gottverlassenen Gotteshäusern eingesperrt, niemand will mehr ein Oberhaupt voll Blut und Wunden. Mit lauter gruseligen Puppen, ein schon seit Jahren andauernder Gotteslockdown. Die Gottesmänner kann arme Sünderin im Not- oder Todfall zwar wehwehweh aktivieren. Kontaktlos natürlich.

Im Vorraum einer abgesperrten Wiener Kirche liegt eine Mitteilung an die Pfarrgemeine. Wegen Corona kann die Wallfahrt nach St. Corona nicht stattfinden. Herrgott, was ist das für eine Mutter Kirche, verstößt die Schäfchen aus dem muffigen Schoß, könnten ja ein paar Aerosölchen dort herum spu(c)ken. Die paar letzten Schäfchen scharen sich nicht, paaren sich schon gar nicht, stehen belämmert herum – maskierte Ebenbilder. In der Pestzeit gab es wenigstens noch geile Geißelungen, wüste Wallfahrten, Ekstase en masse, Heulen und Wehklagen. Das ist vollkommen out. Die Männer mit den spitzen Hüten sind so vernünftig geworden, abgesehen von ein paar Rebellen, sie schenken nicht mal mehr Weihwasser aus.

Die Evangelischen hingegen waren ja schon immer anti-Voodoo. Vernünftig. Realistisch. In den Niederlanden werden realistisch Kirchen verhökert oder verhuurt. Weil wer hat noch Bock auf katholische Geisterbahn, S&M kann man auch sonst wo haben, wenngleich nicht gratis? Oder auf leere protestantische Kirchenschiffe, da ist ja schon gar nichts los, Therapeutinnen und Sozialarbeiter haben den Job übernommen, die Kapitän/innen sind desertiert.

Realismus, Vernunft. Seien wir realistische Holländer, appelliert Ministerpräsident Rutte an das Selbstwertgefühl der Niederländer/innen, jetzt da Queen Corona wieder das Zepter schwingt. In der gleichen Woche kündigt der holländische Gesundheitsminister an, dass es jetzt auch legal ist, Kindern unter zwölf Sterbehilfe zu verabreichen. Vorausgesetzt natürlich, die Kinder wollen das. Vorausgesetzt, es ist der eigene, freie Wille der Kinder. Vorausgesetzt, es ist freiwillig und selbstbestimmt. Eigenverantwortlich.

Michèle Thoma
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