Die kleine Zeitzeugin

Corona, war da was?

d'Lëtzebuerger Land vom 05.05.2023

Es war einmal. Als sich die Delphine in den Kanälen von Venedig tummelten und es plötzlich Vögel gab, irre, wo kamen die her? Sie zwitscherten sogar. Als der Himmel himmelblau war. Als wir uns über De Chirico Plätze bewegten bzw. auf Bildschirmen anderen dabei zuschauten wie sie sich über De Chirico Plätze bewegten. Einzelnen. Alles war groß und still. Ein großer Fried-Hof, über den einzelne Überlebende joggten. Als die Welt von einem plötzlichen Zauber befallen war, dieser Frühling war von grausamer Vollkommenheit. Nur wir, die Komischen, die Menschen, die von uns so genannten, klebten in einem Bann. In der Selbstverbannung.

Als die Luft rein war. Eine zeitlose Jahreszeit aus einem paradiesischen Bilderbuch, kein Wunder, wir spielten keine Rolle. Mensch war eingeschlossen, ausgeschlossen. Mensch ließ Hase und Wölfin in Ruhe und konnte nicht mal einander Wolf sein. Gab kaum noch Raubüberfälle. War niemand da. Man verbiss sich in sich selber.

Als wir in Waben, in Zellen lebten, in grauen Zellen, Einzeller*innen die einen, eingemauert in sich selber. My home is my prison. Autist*innen, ab und zu, je nach Bestimmungen, die Bestimmungen wechselten andauernd, stiegen sie in ein Auto und fuhren sich davon. Sie kamen nicht weit. Die anderen verdonnert zu einer unausweichlichen Gemeinsamkeit, Zwangsgemeinschaft, euphemistisch Familie genannt. Als Kinder zu Monstern erklärt wurden. Als Alte geschützt wurden, indem man sie allein ließ. Zu ihrem Besten. Ich war krank, und du besuchtest mich nicht. Sie starb, und wir trösteten sie nicht. Er war im Gefängnis, und wir besuchten ihn nicht. Wir waren alle im Gefängnis. Im Gefängnis unserer Angst. Noch nie war Menschenschaft so großräumig einem so radikalen Experiment unterworfen worden. Sich selber ausgeliefert.

Noch nicht so lang her. Und doch so lang her. Manchmal scheint es, als sei es vergessen. Corona, war da was? Jeder Mensch, der Schreckliches hinter sich lässt, will es hinter sich lassen. Wer je im Knast war, auf einer Krebsstation, im Krieg, eine traumatische Situation irgendwie überstanden hat, plaudert nicht unbedingt darüber, wie soll man die sirupartige Zeitlosigkeit in einer Gefängniszelle vermitteln? Wer kann das auch schon ansatzweise nachempfinden? Selbst die Vertrauten könnte das überfordern, man muss vorsichtig sein, die Menschen werden immer überforderter. Bald ist es eingemauert wie in einem Tschernobyl-Sarkophag und tief im Unterbewusstsein versenkt. Die Corona-Zeit war allerdings anders, war ja ein kollektives Erlebnis bzw. Nicht-Erlebnis. Ein kollektives Erlebnis der Vereinzelung. Die massenhafte Individualisierung. Dieses Kollektivtraumas sind wir entsetzlich müde.

Stürzen uns ins Leben. Und merken, dünnhäutig wie wir geworden sind, zugleich dickfellig und brutal empathielos, dass das gar nicht mehr so einfach ist. Leben, wie geht das eigentlich? Ausgehen, wie analog umständlich. Sich mit so Körpern konfrontieren. So viel reden mit so vielen. Über vieles. Small talken. Irgendwas mit irgendwem. Man könnte es auch unterlassen. Es ist beliebig. Ging ja lang genug ohne. Mit den Freund*innen? Denen, die noch da sind. Schnell war man entfreundet, brutal entfreundete man. Nach der ersten Phase der Überschwänglichkeit, als der Wert von Familie und Freundschaft beschworen wurde. Als man ewig am Handy klebte, als man das Alleinsein miteinander teilte wie die Entdeckung eines spannenden neuen Kontinents. Der wurde leider immer uninteressanter, es gab immer weniger zu sagen, kaum noch was. Dann kamen die Gräben. Die Lager. Die Kämpfe. Die Verwundungen, viele sind bis heute nicht verwunden.

Stellen erstaunt fest, dass die Kinder komisch geworden sind. Kleine Aliens, Weltfremdlinge, einander Entfremdete. Dass Jugendliche den Abstandsbann nicht mehr überwinden können. Nicht mehr so richtig wissen wie jung sein geht. Sie funktionieren nicht mal mehr richtig, warum, ist ja alles wieder normal? Nicht vergessen. Nicht vergeben. Raunt es in rechten Foren, ballt sich was zusammen.

Michèle Thoma
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