Die kleine Zeitzeugin

Besuch von Schschschiii

d'Lëtzebuerger Land vom 24.03.2023

Putin schaut schon ganz chinesisch, Lavrov macht ein langes Gesicht. Die chinesischen Antlitze sind hinter Masken verschwunden.

Der Raum, in dem die Pressekonferenz stattfindet, sieht auf eine gemütliche Art festlich aus, beinahe niedlich. Es geht um eine Menge Deals, dann kündigt der russische Präsident die Ausarbeitung einer multipolaren und demokratischen Weltordnung an. Er wirkt erschöpft. Wie nach einem seligen KO. Wie nach einem guten Orgasmus. Gefickt vom chinesischen Freund. Lavrov trägt die Totenmaske.

Was ist nur in Sergej gefahren?, war der luxemburgische Außenminister letztes Jahr von den Socken. Sergej, der noch zu seinem Sechziger in Steinfort auf seiner Geburtstagsparty war! Was war nur aus ihm geworden? Ein genauso Dienstältester wie er. Was war aus seinem Markenimage geworden, der Großer-Böser-Wolf-Bärbeißigkeit, dem erlesenen Zynismus, dem Intellekt, der Selbstironie, der Souveränität? Raue Schale, darunter sicher jede Menge russische Seele, gut getarnt allerdings. Russische Seele ist sehr beliebt, der nüchterne Westen lechzt nach russischer Seele. Jetzt redet der russische Außenminister wie ein Verrückter im Delirium, Hitler war ein Jude, wie Selensky, gibt präkomatöse Stammtischerkenntnisse von sich. Er watet durch den Blutschlamm von Schützengräben aus einem anderen Jahrtausend, er sitzt mit i-Phone und im T-Shirt mit dem Schriftzug eines Künstlers aus dem satanischen Wertewesten auf Bali und schaut verwirrt in die Kamera, er lässt sich auslachen in Indien. Er ist zum Komplizen eines anderen Verrückten geworden, eines der Zug um Zug strategisch vorrücken will. Ins Reich des Bösen. Um es zu erlösen? Geht es immer um Erlösung? Er sei gar nicht verrückt, sagen Expert*innen. Er sei so.

Schschschiii geht es pragmatischer an. Obschon auch er große Visionen, Pläne, Worte hat. Die Welt weiterentwickeln will er. Schschschi. So nennen die Journalist*innen den Herrn X. neuerdings. So ein Schlangenschschschiii. Neue historische Pläne hat er. Zusammen wachsen will er mit dem russischen Freund. Oder zusammenwachsen? Wie das wohl auf Chinesisch heißt? Chinesisch ist uns chinesisch, wir können nur rätseln. Welträtseln. Wir haben keine Ahnung, nur Ahnungen. Sie sind düster. Die China-Expert*innen beruhigen nicht. Die Russland-Expert*innen schon gar nicht.

Frieden und Dialog, sagt der Mann aus dem Reich der Mittel. China, beobachtend im Krieg, sagt die chinesische Sphinx, deren Augen man nicht sieht. Gut für die Menschheit, sagt Schschschiii, er schaut aus und drein als wüsste er was das wäre. Er braucht die Menschheit nicht zu fragen. Er schaut so sicher aus. Er ist sich so sicher. Der kleine Mann an seiner Seite ist sich auch so sicher an seiner Seite. Er hat jetzt einen großen Freund. Der kommt auf den Schulhof, und keiner traut sich mehr ihn zu hauen. Alle sind immer gegen ihn. Schaut, was ich für einen Freund habe! Er schaut zu ihm auf. Der große, so angenehm abgerundete Mann, keine Ecken und Kanten, schaut blicklos auf ihn herab. Wie eine große, schnurrende weise Raupe. Er wirkt nachsichtig, wohlwollend. Gütig beinahe. Wäre da nicht diese pädagogische Distanz. China wird immer auf der richtigen Seite der Geschichte stehen, sagt er. China wird auf der richtigen Seite der Geschichte dem russischen Präsidenten beistehen. Alles ist gesagt. Putin schaut stoned aus.

Beim Abschiedsgelage im schillernden Facettenpalast im Kreml tafeln der russische und der chinesische Präsident im tête-à-tête an einem runden Tisch vor einem Wandgemälde mit dem Heiligen Wolodymir dem Großen & Söhne. Vor diesem sowohl von Ukrainern als von Russen verehrten Einführer des Christentums und heiligen Großfürsten von Kiew prosten Putin und Xi einander zu, Putin schaut Xi bedeutungsvoll in die Augen. Xi prostet zurück.

Winke, winke, winkt der Friedensanstifter. Er steigt jetzt in ein Flugzeug, das in den Fernen Osten fliegt, der von hier ganz nah ist. Er ist von nirgends mehr fern.

Michèle Thoma
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