Großbritannien

Neue Steuer soll soziale Löcher stopfen

d'Lëtzebuerger Land vom 17.09.2021

Mit 319 gegen 248 Stimmen stimmte das britische Unterhaus am Mittwoch letzter Woche einer von der Johnson-Regierung vorgestellten Erhöhung der Sozialversicherungsbeiträge zu. Ab April 2022 sollen die Beiträge zur National Insurance um 1,25 Prozentpunkte steigen, wie Premierminister Boris Johnson am Tag zuvor im Parlament bekannt gab – von zwölf auf 13,25 Prozent. Da Arbeitgeber/innen ebenfalls einzahlen müssen, stellt es in Anstellungsverhältnissen sogar eine doppelte Steuererhöhung um 2,5 Punkte dar. Obendrauf werden neue Steuern auf Dividenden gesetzt. Johnson will so umgerechnet 14 Milliarden Euro pro Jahr zusätzlich für das krisengeplagte Gesundheitssystem NHS und den Sozialpflegesektor einnehmen.

Die umstrittene Erhöhung, die den Brit/innen eine der höchsten Steuerlasten seit dem Zweiten Weltkrieg bescheren würde, rechtfertigte Premier Johnson mit der nicht vorhersehbaren Corona-Pandemie. Sie verschlimmerte viele bereits bestehende Probleme im NHS. So verdoppelte sich die durchschnittliche Wartezeit für Operationen und manche aufwändigeren Behandlungen von 25 auf fast 44 Wochen. Zu den Maßnahmen gehört auch eine neue Obergrenze für die Mitbeteiligung an den Pflegekosten von bis zu 86 000 Pfund, umgerechnet 100 000 Euro.

Die Überlebenschancen für Patient/innen mit Krebs und Herzleiden gehören im Vereinigten Königreich seit langem zu den niedrigsten in Europa. Die Sozialpflege ist seit Jahrzehnten mangelhaft und unterbezahlt. Viele Brit/innen erhalten entweder zu wenig oder eine mangelhafte Pflege – oder sie müssen für Pflege den finanziellen Ruin in Kauf nehmen. Doch viele fragen sich, ob die Steuererhöhung tatsächlich die jahrzehntelangen Probleme insbesondere im Pflegesektor zu lösen vermag. In den nächsten drei Jahren sollen von den umgerechnet 42 Milliarden Euro an neuen Einnahmen erst einmal nur sechs Milliarden in den Pflegesektor fließen. Der Rest würde benötigt, um den Behandlungsrückstand im Gesundheitssystem zu verringern. Erst danach sollen größere Finanzanteile in den Pflegebereich gehen. Dies halten viele aufgrund des sich stets verteuernden NHS-Systems für unwahrscheinlich. Das hat Geschichte. Der Denkfabrik Institute of Fiscal Studies zufolge hielt das britische Gesundheitssystem sich zwischen 1982 und 2020 nur insgesamt zwei Jahre lang an ein vom Staat vorgegebenes Budget. Laut Medienberichten hat der NHS nun vor, 42 Exekutivposten neu zu besetzten. Die Gehälter für diese Posten beziffern sich auf umgerechnet 314 000 Euro pro Jahr. Das ist Geld, das zur direkten Versorgung von Patient/innen fehlt und durch die Besteuerung von Niedriglohnempfänger/innen eingenommen wird. Die Wohltätigkeitsorganisation Health Foundation rechnete vor, allein der Pflegesektor benötige umgerechnet mindestens 10,8 Milliarden Euro pro Jahr, um richtig zu funktionieren.

Der parlamentarische Hinterbänkler Jake Berry, der auch Vorsitzender einer lauten Gruppe konservativer Abgeordneter aus dem Norden des Landes ist, fasste seine Sorgen über die Steuererhöhung so zusammen: „Ein Fass ohne Boden wird nicht besser, wenn es das Logo des NHS trägt.“ Er forderte Johnson auf, Einzelheiten seines Plans zu veröffentlichen, um Verschwendung zu verhindern. Labours Parteiführer Keir Starmer bezeichnete die Maßnahmen wiederholt als Heftpflaster für eine klaffende Wunde. Die Arbeiterpartei und Gewerkschaftssprecher/innen kritisieren, dass die Steuer vor allem jüngere Generationen belaste, etwa Supermarktangestellte und Krankenpfleger/innen, während für reichere Bürger/innen, die mehrere Häuser besitzen, keine weitere Besteuerung ihres Vermögens anfalle. „Wir fordern, dass jene mit breiten Schultern die Kosten tragen“, sagte Starmer.

Johnson konterte, dass die 14 Prozent mit den höchsten Einkommen etwa die Hälfte der neuen Kosten tragen würden. Des Weiteren müssten alle Beschäftigten, auch solche im Rentenalter (ebenfalls eine Neuerung), die neue Steuer zahlen, solange sie erwerbstätig seien. Doch Fragen Keir Starmers, bis wann denn die Wartezeiten der NHS reduziert würden, und ob in Zukunft niemand mehr sein Eigenheim für Pflegekosten opfern müsse, ließ Johnson unbeantwortet. Mit wenigen Ausnahmen musste er sich auch die Kritik nahezu aller Verbände des britischen Pflegesektors gefallen lassen. Sie fordern nicht nur Geld, sondern eine komplette Überarbeitung des Sozialpflegesystems.

Johnson ist bekannt für einen Hang zum Bombastischen. Dazu gehört die Fortführung umstrittener Milliardenprojekte wie der Höchstgeschwindkeitsbahn HS2 oder der Londoner Ost-West-Verbindung Crossrail. Tatsächlich hat seit Jahrzehnten keine Regierung, ob von Labour oder Tory geführt, mehr als leere Versprechen zum Pflegesektor gemacht. Johnsons Versuch, dieses Problem anzugehen, ist mutig; es mit großen Summen zu lösen, ist jedoch riskant und die Art der Besteuerung extrem fragwürdig. Der Druck auf seine Regierung, in überschaubarer Zeit vorzeigbare Ergebnisse zu liefern, wird immens sein. Vielleicht betont die Regierung deshalb, dass sich die Wartelisten erst mal verlängern werden, bevor sie besser werden können.

Noch muss die Steuererhöhung durch verschiedene parlamentarische Prüfstadien, doch bleibt es dabei, könnten die Entscheidungen der letzten Woche Boris Johnsons politische Zukunft besiegeln – mehr noch als sein Handeln beim Brexit und die danach entstehenden Probleme oder die hohen Todeszahlen durch Corona und sein Vorgehen in der Pandemie. Nach den Entscheidungen der letzten Woche ist die die Begeisterung für die Konservativen gesunken. In Umfragen fielen sie zum ersten Mal um fünf Prozentpunkte auf 33 Prozent, während Labour einen Punkt gewann und nun bei 35 Prozent steht. Die Tories könnten weiter nach unten rutschen, falls eine geplante Senkung der Sozialhilfe (Universal Credit) Konsequenzen für die Ärmsten im Land hat und zum gleichen Zeitpunkt nicht nur der 1,25-prozentige Zuschlag auf Sozialversicherungsbeiträge greift, sondern obendrein viele Lokalregierungen ihre Steuern (Council Tax) im April nächsten Jahres ebenfalls um bis zu 4,99 Prozent erhöhen. Damit wollen sie übrigens nichts anderes als die Sozialpflege finanzieren, für welche sie die unmittelbare Verantwortung in den Kommunen tragen.

Daniel Zylbersztajn-Lewandowski, London
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