Das Bildungsministerium finanziert ein Sprachlernprogramm für die Vorschulen, dessen Wirkung ausgerechnet für nicht-luxemburgischsprachige Kinder nicht erwiesen ist

Kampf um Fördermittel

d'Lëtzebuerger Land vom 20.11.2020

Ist ein Hund ein Dalmatiner, hat er Punkte. Aber nicht alle Hunde, die Punkte haben, sind Dalmatiner. Das Beispiel falscher Schlussfolgerungen bildete 2004 den Titel eines Aufsatzes in der Fachzeitschrift Education Week über pädagogische Programme. Der Autor zeigte darin auf, dass nicht jedes Lehrprogramm, weil es Elemente evidenzbasierter Methoden beinhaltet, deswegen automatisch nachweislich Resultate bringt. Der Autor macht darin aufmerksam auf eine Unsitte, die nicht nur im Bildungswesen um sich greift: Unterrichtsmaterialien werden als wertvoll angepriesen, weil sie angeblich auf anerkannten Methoden beruhen, ohne dass sie je selbst geprüft worden oder ihre Wirksamkeit wirklich nachgewiesen seien.

Der Service de coordination de la recherche et de l,innovation pédagogiques et technologiques (Script) in Walferdingen hat ein Programm veröffentlicht, über dessen pädagogischen Wert und Wirksamkeit sich diskutieren lässt: Es heißt Sila, wurde von der Diplom-Psychologin Sylvie Bodé entwickelt und soll das phonologische Bewusstsein von Kindern im ersten Zyklus stärken. Es beinhaltet Lautspiele, Reime und Sprechübungen. Es baut auf das phonologische Bewusstsein als eine Vorläuferkompetenz der Lesefähigkeit auf: Können Schüler Laute und Silben in einer Sprache erkennen, fällt es ihnen tendenziell leichter, diese zu lernen und zu lesen. Dem Script zufolge ist Sila eine Weiterentwicklung eines Programms, das schon 1998 an Spillschoulen eingesetzt wurde, und das Script empfiehlt es mit dem Hinweis, es beruhe auf „internationalen Trainingsprogrammen, eigenen Forschungsresultaten und einen breiten Austausch mit Lehrer/innen des Cycle 1“.

Elemente des Sprachlernprogramms, das wiederum auf einem Ansatz aus Deutschland respektive Dänemark basiert, waren in Deutschland getestet und evaluiert worden, allerdings waren die Ergebnisse durchwachsen: „Our findings indicate strong intervention effects on children,s phonological awareness and letter knowledge. However, this advantage did not result in better reading skills in general.“ Für die Luxemburger Variante kamen Sylvie Bodé und Alain Content kam zum Ergebnis, dass nach sechs Monaten Lesen und Schreiben im ersten Zyklus nach dem Förderprogramm „no training effects were found in a pseudoword spelling task for the entire training group“. Dann analysierten die Forscher eine Unterguppe, die sie „Schüler mit Risiko“ nannten, aus der alle Kinder, die zuhause kein Luxemburgisch sprechen, entfernt wurden; mehr als ein Drittel. Mit dem Fazit: „Only at-risk children, which had the lowest performance on preschool phonological awareness measures, showed significant training effects“. Im Klartext: Die gemessenen Lerneffekte gelangen unter Ausschluss von Kindern, die Sprachförderung besonders nötig gehabt hätten.

Lerninterventionen, die sich bedingt wirkungsvoll erweisen, gibt es auf dem Bildungsmarkt viele. Aber das Script baut sein Sila auf diese Methode auf und investiert darin reichlich (Steuer-)Gelder. Obwohl die ihm zugeschriebene positive Wirkung nicht für alle erwiesen ist. Dabei gibt es hierzulande einen Ansatz zur phonologischen Sprachbildung, dessen Wirkung wissenschaftlich belegt ist; das Script kennt ihn, das Programm wurde ihm als Projekt vorgestellt; die Luxemburger Professorin für mehrsprachige kognitive Entwicklung, Pascale Engel de Abreu, die zu Kognition und mehrsprachigem Lernen forscht, hatte es dem Script angeboten.

Es handelt sich um Lauter lëschteg Lauter (Lala), ein Sprachlernprogramm, bei dem Fünf- und Sechsjährige unterschiedlicher (sprachlicher) Herkunft auf spielerische Art und Weise Laute und Buchstaben (kennen-)lernen. In vorgegebenen Sprachspielen werden Sinne, wie Reden, Hören, Sehen und Singen, angeregt und die Kinder so an Luxemburgisch und Deutsch herangeführt. An dem Programm, das drei Jahre lang an acht Vorschulen getestet wurde, haben rund 200 Kinder teilgenommen, die eine Hälfte lernte mit dem Standard-Curriculum (Kontrollgruppe) und die andere mit dem Lala-Programm. Vor und nach der neunmonatigen Teilnahme an den zwei Programmen wurde die Lesefähigkeit getestet und evaluiert: Jene Kinder, die gezielt mit Lala gefördert wurden, schnitten in Lesetests deutlich besser ab als die Kinder der Kontrollgruppe. Kinder der Lala-Gruppe waren zudem viel besser darauf vorbereitet, Deutsch lesen zu lernen. Außerdem erzielten Kinder, welche zu Hause kein Luxemburgisch reden, große Fortschritte, obwohl das Lala-Programm in luxemburgischer Sprache appliziert wurde (siehe Frontiers in Psychology, 29.9.2020).

Weil das Konzept unter Lehrkräften regen Anklang fand, startete Pascale Engel de Abreu auf Anraten der Uni Luxemburg und des Fonds national de la recherche (FNR), der das Forschungsprojekt mitfinanziert hatte, eine Firma, um die Methode für den Luxemburger Bildungsmarkt zu entwickeln und zu verkaufen. Eigentlich eine optimale Startposition, um das 2018 mit dem FNR-Innovationspreis gekrönte Konzept landesweit einzuführen und endlich eines der Hauptprobleme im mehrsprachigen Schulsystem anzugehen: den Übergang vom Luxemburgischen zur Alphabetisierung in Deutsch, bei dem insbesondere nicht-luxemburgischsprachige Kinder oft das Nachsehen haben. Neben dem Script hatte auch das Erziehungsministerium ausdrückliches Interesse bekundet.

Die Geschichte ist da aber nicht zu Ende. Denn während Vorgespräche liefen, kamen anonyme Vorwürfe gegen Engel de Abreu auf, ihre Datensätze seien gefälscht oder manipuliert worden. Die Luxemburger Agentur für Rechercheintegrität (Lari) nahm daraufhin Ermittlungen auf. Waren es Neid oder Nebenbuhler? – Jedenfalls kam Entwarnung am 29. April 2020 per Pressemitteilung: Es seien keine Belege für wissenschaftliches Fehlverhalten in Form von Daten-Fabrikation, Falsifikation oder Plagiat gefunden worden. Alle Zweifel über die Richtigkeit, Integrität und Verlässlichkeit der Daten und Ergebnisse seien damit ausgeräumt, teilte Lari mit.

Die Wissenschaftlerin sah sich jedoch nicht nur ungerechtfertigten Vorwürfen und Gerüchten gegenüber; das Script machte plötzlich einen Rückzieher und entschied sich gegen eine Zusammenarbeit. Stattdessen bringt es nun, einige Monate später, sein eigenes Programm Sila heraus. Dem Tageblatt, das Anfang Oktober über den Fall berichtete, sagte Script-Direktor Luc Weis, man sei sich nicht einig geworden. Das Gesamtpaket habe „nicht gestimmt“.

Mittlerweile ist die Politik auf den Fall aufmerksam geworden. In seiner Antwort auf die parlamentarische Anfrage von Martine Hansen, schulpolitische Sprecherin der CSV, beharrt Bildungsminister Claude Meisch (DP) auf der Effizienz des Programms und beruft sich auf Studien, die sich allerdings auf das bereits erwähnte deutsche Programm beziehen „mit äquivalenter Programmstruktur zum Sila-Programm“, so als seien jene Ergebnisse einfach übertragbar. Auch Bedenken, die Bildungsschere könnte auseinandergehen, weil das Programm bei nicht-luxemburgischsprachigen Kindern nicht im gleichen Maße anschlage, wischt Meisch zur Seite. Als Beleg zitiert er ausgerechnet jenen Satz der Evaluationsstudie von 2011, der positive Effekte speziell für die Risiko-Schüler festhält – also der Gruppe, aus der die daheim kein Luxemburgisch sprechenden Kinder zuvor entfernt worden waren. Daraus lässt sich folgern: Entweder der Schulminister hat die im European Journal of Educational Psychology veröffentlichte Studie nicht wirklich gelesen – oder es ist ihm recht, wenn der Staat Sprachlehrprogramme finanziert, die eher bei luxemburgischsprachigen Kindern wirken. Hauptsache, der Hund hat Punkte.

Ines Kurschat
© 2023 d’Lëtzebuerger Land