Gewalt an der Schule

Mach den Kumpel nicht an!

d'Lëtzebuerger Land vom 24.04.2008

„Eskalation eines Bandenkriegs“, „Racheaufrufe im Netz“, „explosive Situation“. Nachdem am vergangenen Freitagabend im Escher Bahnhof ein Jugendlicher erstochen wurde, übertrumpfen sich verschiedene Medien mal wieder mit spektakulären Schlagzeilen. Doch so tragisch der Tod des jungen Mannes ist, und so sehr auch manche Journalisten bemüht scheinen, eine neue Welle von Jugendgewalt herbeizureden – Gewalteruptionen wie jene in Esch sind eher die Ausnahme.

Wer sich wirklich Sorgen um die Verrohung unserer Jugend macht, sollte in die Schulen gucken. Dort gibt es in der Tat Probleme mit Aggression und Frust – und dort muss ansetzen, wer Gewalt wirksam vorbeugen will. Einer Untersuchung von Georges Steffgen und Norbert Ewen von der Uni Luxemburg aus dem Jahr 2004 zufolge kommt es an Luxemburgs Schulen im europäischen Vergleich selten zu körperlichen Übergriffen. Anders sieht es bei verbalen Attacken aus. Handlungsbedarf gegen Gewalt bestehe schon in der Primärschule, so Diagnose der Forscher. 

In Differdingen schlug vor zwei Wochen ein Junge einer vierten Klasse auf eine Schulkameradin ein. Der Vorfall war der Presse eine kurze Meldung wert, dabei ist die Schule Insidern schon länger als „Brennpunkt“ bekannt. Besorgte Eltern hatten die Schulaufsicht vor Monaten auf einen anderen Fall von Mobbing in derselben Klasse aufmerksam gemacht. Doch sei, so ein Vater, dessen Tochter Myriam*  systematisch von mindestens zwei (anderen) Jungen drangsaliert und beleidigt werde, außer einer zusätzlichen Lehrkraft und einer verstärkten Aufsicht auf dem Schulhof wenig passiert.Die Jungen seien ihm bekannt, bestätigt der zuständige Inspektor Gérard Roettgers auf Nachfrage ein, man nehme die Vorfälle ernst. 

Allerdings sei es für ihn nicht immer einfach, festzustellen, wie der Konflikt genau gelagert ist. „Wenn ich hinzukomme, ist die Situation meist wieder unter Kontrolle“, so Roettgers. Genau das ist typisch für Mobbing: Die Täter attackieren ihre Opfer gezielt, wenn sie sich nicht beobachtet fühlen. Mit der Tat konfrontiert, steht dann Aussage gegen Aussage: „Er hat mich provoziert“, heißt es oft – es dauert manchmal, bis Erwachsene diese Schutzbehauptung durchschaut haben. Verlagern sich die Übergriffe auf den Schulweg, endet der Zuständigkeitsbereich des Inspektors. Fehlende Kenntnis über den Umgang mit Aggressivität und Gewalt respektive über sinnvolle Gegenmaßnahmen sowie die Belastung vieler Lehrer und Inspektoren führen dazu, dass nicht selten verspätet eingegriffen wird. Dann aber ist das Vertrauen des Schülers (und der Eltern) in Schule und Lehrpersonal oftmals schon zerrüttet. 

Noch komplizierter wird es, wenn der Lehrer den Eindruck vermittelt, ausgrenzendes Verhalten wäre in Ordnung – oder sogar selbst ausgrenzt. „Bei mir melden sich Eltern, deren Sohn oder Tochter vom Lehrpersonal gemobbt wird“, berichtet Marie-Anne Rodesch-Hengesch. Die Ombudsfrau für Kinderrechte betreut gerade einen besonders schweren Fall: Mit aller Macht versucht eine junge Lehrerin einer Primärschule im Süden des Landes, einen verhaltensauffälligen Jungen aus der Schule rauszuekeln. Ständig ruft sie daheim an und drängt die Mutter, den schwierigen Jungen aus der Klasse zu nehmen. Die zuständige Inspektorin ist gegen eine Zwangsversetzung, die Aktion zudem rechtlich fragwürdig: Ein Schüler hat ein Recht auf Bildung, für einen außerordentlichen Schulwechsel sind bestimmte Prozeduren vorgeschrieben. 

Liliane Bredimus vom Elterndachverband Fapel kennt ähnliche Fälle, betont aber den institutionellen Hintergrund von Schülergewalt: „Durch permanenten Prüfungsstress und Notendruck übt die Schule selbst Gewalt aus.“ Die Lehrer geben den Druck an überforderte Schüler weiter, die ihrerseits mit Frust und Aggressionen reagieren. Der Beginn einer Gewaltspirale? „Man kann froh sein, dass bisher nicht mehr geschehen ist“, warnt Bredimus. Wie angeknackst das Verhältnis zwischen Schüler und Lehrer sowie Lehrer und Elternhaus an vielen Schulen ist, belegt auch die Pirls-Studie: Jedes dritte Luxemburger Kind geht nicht gerne in die Schule, nur etwa 70 Prozent spüren sich dort sicher. In seiner Studie über Gewalt an luxemburgischen Grundschulen schrieb Romain Martin, Bildungsforscher der Uni Luxemburg, es gelte, „die jetzige Schulkultur mit ihrer institutionellen Verankerung dahingehend zu hinterfragen, ob sie wirklich für die SchülerInnen einen Lebens- und Erfahrungsraum darstellt, der eine möglichst hohe Schullust und eine möglichst geringe Schulangst erzeugt“.

Obwohl all diese Fakten bekannt sind, tut sich die Politik dennoch schwer damit, wirksame Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Die Lehrer-Weiterbildungen in Anti-Gewalt-Training wurden in den vergangenen Jah­ren zwar enorm ausgebaut, in Anti-Gewalt-Projekten wie Faustlos, Zivilcourage, éducation à la paix oder peer mediation (d’Land, 17.12.2004) üben Lehrer und Schüler gemeinsam gewaltfreie Konfliktlösungen ein. Ob und wie lange die Projekte stattfinden, hängt aber vom einzelnen Lehrer, der Schule und der jeweiligen Gemeinde ab. „Was fehlt, ist eine übergeordnete, nationale Strategie“, sagt Claude Adam. Der grüne Abgeordnete und ehemalige Inspektor hatte 2007 eine Parlamentssitzung zum Thema Schulgewalt angefragt, die Ende Januar stattfand. Anlass war ein Übergriff, dass zwei Schüler einen Klassenkamera­den zusammen geschlagen und die Tat gefilmt hatten. Die Eltern hatten sich daraufhin beim Klassenlehrer beschwert, hatten aber erst zwei Tage später einen Termin bekommen. 

Ver­spätetes Eingreifen durch die Ver­antwortlichen kritisierte 2003 auch besagter Vater in Differdingen in einem Leserbrief über das Ausmaß an Gewalt an Luxemburgs Primärschulen. Die damalige Unterrichtsministerin Anne Brasseur versprach daraufhin, das Problem ernst zu nehmen. Fünf Jahre später schmettert eine schwarz-rote Parlamentsmehrheit den Antrag des Gréng-Abgeordneten Claude Adam nach einer nationalen Anti-Gewalt-Strategie als „ziemlich vage“ ab. 

Dabei fehlt ein strategisches Vorgehen tatsächlich. Bisher verfügt das Unterrichtsministerium nicht einmal über Daten, wie sich die Gewalt in luxemburgischen Schulen in den vergangenen Jahren entwickelt hat . Dabei wäre es ein Leichtes, über die Regionalbüros der Inspektoren und der schulpsychologischen Dienste zumindest die dort gemeldeten Fälle zu erfassen. Auch die Ergebnisse eines Gewalt-Präventionsprojektes zei­gen, dass Hilfsangebote allein nicht ausreichen. Das Projekt Prima!r war 2004 von der Stadt Luxemburg gemeinsam mit dem Ministerium und der Uni Bremen mit viel Aufwand gestartet worden, weil in verschiedenen Klassen in der Hauptstadt Kinder verstärkt durch aggressives Verhalten aufgefallen waren. In speziellen Kursen sollten die Kinder soziales Verhalten trainieren und Empathie einüben. Für die Eltern waren ebenfalls Erziehungskurse vorgesehen; Lehrer wurden in Fortbildungen geschult. In Übergangsklassen erhielten Problemkinder eine Auszeit vom normalen Schulunterricht, um Verhaltensstörungen gezielt mit Therapeuten und Kinderpsychiatern zu bearbeiten. Ein überzeugender Ansatz, doch drei Jahre später fiel das Fazit der Forscher eher durchwachsen aus: Das aggressive Verhalten der Kinder reduzierte sich zwar nach einem Jahr intensiver Behandlung, für dauerhafte Verhaltensänderun­gen braucht es aber offenbar mehr Betreuung. Die Arbeit der Betreuer der classe de transition wurde unnötig erschwert, weil wichtige Informationen über die Kinder oft gar nicht rechtzeitig bei ihnen ankamen.

In Differdingen arbeitet die dem Service de guidance angegliederte structure d’espace nach einem ganz ähnlichen Prinzip: Therapeuten und Psychologen arbeiten dort ergänzend zur Schule oder außerhalb mit verhaltensauffälligen Kindern. „Ziel ist es, die Kinder wieder zu integrieren“, so Germain Back. Dem Psychologen war es vor einigen Jahren gelungen, einen größeren Fall von Gruppen-Mobbing an einer Primärschule zu lösen. Leider verfügen längst nicht alle Gemeinden im Land über einen so gut aufgestellten Service de Guidance, in dem therapeutische Hilfe über mehrere Monate geleistet werden kann. Für schwer verhaltensgestörte Kinder, die mehr Zeit brauchen, ist der Dienst nicht gedacht. Ent­sprechen­de Therapieplätze sind jedoch knapp. „Oft bleibt nichts anderes, als die Kinder ins Ausland zu schicken“, sagt Generalinspektorin Simone Heinen. Dann aber sind sie fern von Familie und Freunden, oft sogar ohne ihre Muttersprache – was die Betreuung ebenso wie die spätere Wiedereingliederung nicht einfacher macht. 

Zu all den Schwierigkeiten kommt die Verunsicherung durch die Reformbestrebungen der schwarz-roten Koalition hinzu: Kritiker befürchten, durch die geplante Zentralisierung der Personalpolitik könnten Gemeinden Handlungsspielraum verlieren – Spielraum, den sie benötigen, um rasch auf Notfälle zu reagieren. Mit dem neuen Gesetz werde im Gegenteil mehr Flexibilität geschaffen, hält der LSAP-Abgeordnete Jos Scheuer dagegen. Multi-professionelle Teams aus Therapeuten, Erziehern, Logopäden und Psychologen sollen quasi als schnelle Eingreiftruppe auch bei Gewalt und Mobbing helfen. Die medizinisch-psychopädagogische Kommissio­n soll durch die commission d’inclu­sion scolaire ersetzt werden, getreu der Maxime: eingliedern statt ausgrenzen. Nur: Was bringen die Än­derungen, wenn die Teams ungenügend ausgebildet oder unterbesetzt sind (d’Land, 27.04.2007), wichtige Informationen nicht schnell genug weiter gereicht werden – und die Selektionslogik des Schulsystems ungebrochen bleibt? „Das Gesetz verhin­dert nicht, dass Gemeinden zusätzliche Angebote machen“, so Scheuer. 

In Differdingen wurde der gewalttätige Schüler aus der Klasse genommen und in die Aufnahmestruktur geschickt, wo er nun von Psychologen betreut wird. Weil mit ihm ein großer Unruheherd in der Klasse stillgelegt ist, hat sich auch für das andere Mobbingopfer die Situation verbessert. Als nächstes sollen Lehrer und Schüler an einem Anti-Gewalt-Programm teilnehmen. „Ich will ohne Angst in die Schule gehen“, sagt Myriam traurig. Eine Zeit lang wird sie das wohl können. Und dann?

* Name von der Redaktion geändert

Ines Kurschat
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