Kritiken am Grundschul-Reformvorschlag

Dirigent sucht Orchester

d'Lëtzebuerger Land vom 04.01.2007

Déi Gréng haben sich getraut. Vor gut einem Monat stellte die Partei auf ihrem außerordentlichen Bildungskongress in Colmar-Berg die Frage nach der künftigen Organisation der etwa 400 Primärschulen im Land – und sorgte mit ihrer Antwort für eine kleine Sensation. Obwohl die Grünen viele Lehrer zu ihren Mitgliedern zählen, und obwohl sich einige davon seit Jahren in so genannten Mitbestimmungskomitees (comités de cogestion) für die Verbesserung ihrer Schulen engagieren, stimmte eine große Mehrheit auf dem Kongress für die Einführung von Schuldirektoren auch in den Primärschulen.

Dem Votum vorausgegangen war eine leidenschaftlich und kontrovers geführte Debatte, angezettelt von Parteimitglied Frenz Schwachtgen. Für den Differdinger Grundschullehrer sind die Mitbestimmungskomitees eine „Errungenschaft aus der Zeit der 68-er“ und ein unverzichtbarer Garant für „echte Demokratie“. Eine Abschaffung der leitenden Lehrerkomitees käme für Schwachtgen einem Verrat „an grünen Werten wie der Demokratisierung“ gleich. Außer Déi Gréng hat sich bisher keine andere politische Partei so prononciert zum Gesetzesvorschlag von Unterrichtsministerin Mady Delvaux-Stehres (LSAP) über die Neuordnung der Primärschulen geäußert. Er sieht ein von Lehrern gewähltes und aus Lehrern bestehenBildungsreformdes Schulkomitee (comité d’école) mit einem Präsidenten vor. Bei größeren Gemeinden mit mehr als vier Schulen finden sich die Präsidenten im Comité de cogestion zusammen (siehe d’Land vom 17. November 2006). Lediglich die DP hatte sich in ihrem, nach dem Regierungswechsel obsolet gewordenen, Entwurf zum 1912-er Gesetz von vor drei Jahren ebenfalls damit befasst, wer künftig für Organisation, Ablauf und inhaltliche Gestaltung der Primärschulen zuständig sein sollte – und kam zu einem anderen Modell.

Die organisatorische Verantwortung wollten die Liberalen lieber einer Schulleitung übertragen als einem aus mehreren gewählten Lehrern zusammengesetzten Komitee. Ein „administrativer Direktor“ sollte als „Vermittler zwischen den Eltern und der Schule“ fungieren und verwalterische Aufgaben „jenseits von pädagogischen Inhalten“ wahrnehmen; für Letzteres wären weiterhin die Inspektoren zuständig, bekräf-tigt Anne Brasseur ihren Vorschlag von damals gegenüber dem Land. Wie ihre sozialistische Nachfolgerin versprach auch die DP-Schulpolitikerin, somit mehr Klarheit und mehr Qualität in Luxemburgs Primärschulen zu bringen.

Doch die Ansätze, Mitbestimmungskomitees auf der einen Seite und Verwaltungsdirektor auf der anderen Seite, sind nicht bloß verschieden. Sie sind zudem beide höchstwahrscheinlich nicht geeignet, die Qualität des Primärschulunterrichts nachhaltig zu verbessern. Die Empfehlungen führender internationalen Bildungsforscher lauten jedenfalls anders: Dauerhafte Schulentwicklung sei am besten mit klar definierten Strukturen zu erreichen – und mit kompetenten weisungsberechtigten Schulleitungen. Man könne „die Rolle der Schulleiter kaum überschätzen“, hatte Jürgen Baumert vom Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in einem Interview mit der Wochenzeitung Die Zeit bereits vor zwei Jahren gesagt. Eine Einschätzung, die der Bildungswissenschaftler Rolf Dubs aus Sankt Gallen, mehrfach zu Gast in Luxemburg, teilt. Schulreformen hätten nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn sie koordiniert und mit entsprechenden Rahmenbedingungen versehen würden. Dafür brauche es professionelle Schulleitungen, die in der Lage seien, die von Bildungswissenschaft und Politik an die Schulen herangetragenen Innovationen erfolgreich zu „managen“.

Dubs bevorzugtes Modell dürfte vor allem Lehrergewerkschaften wie dem OGBL-nahen SEW sauer aufstoßen: Statt für basisdemokratisch organisierte Schulen oder teamgeleitete Schulleitungen plädiert der Schweizer für eine modernisierte Form der klassischen Schuldirektion. Mit verkrusteten Hierarchien und autokratischer Herrschaft hat sein Leadership-Modell dennoch nichts zu tun. Schulleitung sei alles andere als eine reine Anweisung von oben, so Dubs. Die Schulleitung, die er sich vorstellt, muss Dialoge initiieren, Informationen und Orientierung bieten und mit Lehrern entwicklerisch zusammenarbeiten können. Oder, wie es das Hamburger Leitbild für Schulleitungen ausdrückt: Die mit der Leitung einer Schule verbundenen Aufgaben können „erfolgreich nur im Team bewältigt“ werden.

Weil die Veränderungen im Schulsystem so umfassend seien, stellten sich die Aufgaben an die Schulleitung neu, meint auch Mats Ekholm, Professor für Pädagogik an der Universität Karlstad: „Schulleiter können diese Aufgaben nur in Kooperation mit den Lehrkräften schaffen, deshalb müssen sie Schulentwicklung mit ihren Lehrkräften betreiben.“ So wie ein Dirigent mit seinem Orchester ein neues Musikstück gemeinsam einstudiert, setzt der Schulleiter schulische Veränderungsprozesse zusammen mit den Lehrern um. Einführung von Basiskompetenzen, interne und externe Evaluation, differenzierender Unterricht, Entwicklung von Schulprojekten – gefragt ist eben nicht mehr der autoritäre, alles führende und kontrollierende Schuldirektor, der seine größten Auftritte bei Disziplinverstöße hat, sondern eine Leitung, die es schafft, Aufgaben sinnvoll zu delegieren, Lehrer zu motivieren, sie mitbestimmen zu lassen – und, wenn notwendig, auch zu führen. Das aber setzt neben fundierten pädagogischen Fachkenntnissen solche in der Personalführung, der Projektplanung und in der Unternehmensführung voraus.

Wer dies als Mode oder neoliberales Gedankengut abtut, hat nur bedingt Recht. Es stimmt, dass Begriffe wie kooperative Arbeitskultur, flache Hierarchie und Coaching der Wirtschaftslehre entnommen sind. Erst mit von der OECD durchgeführten Bildungsvergleichsstudien wie Pisa hat der Rechenschaftsgedanke, was leistet die Schule für wen und mit welchen Mitteln, Einzug in internationale Bildungspolitiken gehalten. Etliche der Experten, die sich heute über „Innovationsmanagement“ und „Motivationsfaktoren“ den Kopf zerbrechen, haben Lehrstühle in der Wirtschaftspädagogik inne oder sich in Organisationsentwicklung weitergebildet.

Nicht zu leugnen ist jedoch, dass Schulen in ihrer Struktur komplexen Unternehmen ähneln: Hier wie dort werden Angebote und Arbeitsabläufe überdacht, müssen Mitarbeiter bei ihrer Arbeit und bei Neuerungen unterstützt werden. Anders als ein Firmenchef kann sich ein Schulleiter seine Mitarbeiter aber nicht aussuchen. Hat ein Lehrer erst einmal den Beamteneid geleistet, gilt er als staatlich geprüft und damit per se als geeignet – selbst wenn es ihm oder ihr im Umgang mit einer heterogenen Schülerschaft an pädagogischem Know-how fehlt.

„Fehleranalysen bei Lehrern sind immer noch tabu“, schreibt der Bildungsjournalist Reinhard Kahl über das deutsche Schulsystem. Was für Deutschland gilt, trifft in ähnlichem Maße auch auf Luxemburgs Bildungslandschaft zu. Statt selbstkritischer Teamarbeit herrscht an vielen Schulen ein falsch verstandener Individualismus, wo niemand dem anderen in die Arbeit reinredet und jeder hinter der geschlossenen Klassentür seinen Unterricht hält, so gut er oder sie eben kann. Entsprechend schwierig sind Kurskorrekturen. Die Ministerin kann einen Rundbrief an alle Lehrkräfte schreiben – ob ihre Vorstellungen im Unterricht ankommen, ankommen, weiß sie meist nicht. Verantwortliche Ansprechpartner sind schwer zu finden, die Inspektoren mit ihren großräumigen Zuständigkeitsbereichen häufig überlastet und ihre Besuche zudem zu rar gesät, um den Unterrichtsalltag einer Schule wirklich zu erfassen.

Dass es Lehrern selten gelingt, aus Eigenantrieb ihr traditionelles Berufsverständnis vom Lehrer als Einzelkämpfer zu ändern und den strukturell bedingten Individualismus aufzubrechen, ist eine Realität, die sich tagtäglich an Luxemburgs Schulen (und nicht nur dort) beobachten lässt. Deshalb lassen sich ja lernwillige Schulen, wie etwa das Lycée technique in Bonneweg oder das Lycée technique Josy Barthel in Mamer, in differenziertem Unterrichten fortbilden und von externen Experten beraten. Das ist auch einer der Haupteinwände von Bildungsforschern wie Mats Ekholm, Rolf Dubs oder der Kanadierin Jacqueline Caron gegen von basisdemokratischen Lehrergremien geleitete Schulen: Das Modell setzt nicht nur einen starken Konsens im Kollegium, eine hochentwickelte Streitkultur und die Fähigkeit zur Selbstreflexion voraus, sondern auch den Willen und die Möglichkeit, sich permanent pädagogisch weiterzubilden. Das sei aber häufig nicht der Fall.

Die französischsprachige Gemeinschaft Belgiens hat aus den neuen Anforderungen Konsequenzen gezogen und im Mai 2006 für Primär- wie Sekundarschulen gleichermaßen die professionelle Schulleitung eingeführt. Wer eine Schule leiten will, muss mindestens acht Jahre als Lehrer gearbeitet haben, eine 120-stündige Weiterbildung mit Abschlussexamen in Personalmanagement, Verwaltung und Pädagogik (Differenzierung, Schulentwicklung) vorweisen können sowie eine zweijährige Probezeit bestanden haben. Zudem wird die Arbeit der Direktorin/des Direktors alle fünf Jahre von außen bewertet. „So lässt sich am ehesten sicherstellen, dass politische Reformen im Unterricht ankommen“, begrüßt Romain Martin von der Universität Luxemburg den belgischen Vorstoß. Gerade weil die Bildungsreformen komplex und anspruchsvoll sind, sei die professionelle Anleitung so wichtig. Allerdings macht die Einführung eines pädagogischen Leiters für die Primärschulen laut Martin nur Sinn, „wenn man auch die Rollen der Inspektoren und der Schulkommissionen grundlegend überdenkt“. Das erfordert viel Mut und politischen Gestaltungswillen.

Der hat die Ministerin offenbar verlassen. Auch nach der Überarbeitung des Erstentwurfs und trotz anders lautender nationaler und internationaler Expertenmeinungen bleiben die leitenden Lehrerkomitees elementarer Bestandteil von Ministerin Delvaux-Stehres geplanter Neuordnung – und das, obwohl ihre Wirksamkeit empirisch nicht nachgewiesen ist. Ohne Zweifel geben sich verschiedene Komitees alle erdenkliche Mühe und haben dort, wo es sie denn gibt, in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten Beeindruckendes geleistet. Trotzdem äußern Inspektoren, Eltern und Gemeindepolitiker eine Kritik immer wieder: Im Konfliktfall ist keiner da, der die Verantwortung übernehmen und gegebenenfalls ein Machtwort sprechen kann. „Es fehlt an Befugnissen, die gemeinsam erstellten Regeln durchzusetzen“, räumt sogar Basisdemokratie-Verfechter Frenz Schwachtgen ein. Das von ihm maßgeblich mitgestaltete Differdingen Lehrerkomitee gilt als eines der funktionstüchtigeren im Land. Schwachtgen fordert, den Präsidenten des Schulkomitees mit Weisungsbefugnissen auszustatten. Denn nicht einmal das ist vorgesehen. Laut Entwurf soll der Vorsitzende soll die Schule gegenüber Dritte repräsentieren und die Arbeit des Komitees koordinieren; er darf moderieren und informieren, ein Letztentscheidungsrecht bei Konflikten hat er aber nicht. Über schwierige Fälle entscheiden weiterhin Inspektoren und Gemeindepolitiker – wenn sie Zeit finden. Pädagogische Qualtät und Professionalität, erklärtermaßen Hauptziel der sozialistischen Bildungsreformen, spielen keine Rolle. Verbindliche Qualifikationsanforderungen, etwa der Besuch einer Schulleiter-Fortbildung, wie er in Kanada und Belgien Bedingung ist, oder ein Abschluss in Bildungswissenschaften, sieht der Entwurf nicht vor. Präsident des Schulkomitees kann jeder Lehrer werden, sofern er oder sie vom Komitee vorgeschlagen und vom Gemeinderat bestätigt wird. Das öffnet politischen Kungeleien Tür und Tor.

Es sei darüber zu wachen, dass die Qualitätsniveaus in den unterschiedlichen Schulen den nationalen Anforderungen entsprechen, hatte Ministerin Mady Delvaux-Stehres in einem Le Quotidien-Interview kurz nach ihrem Amtsantritt vor zwei Jahren betont. Es sieht ganz danach aus, als habe sie eine einmalige Gelegenheit, diesem Ziel einen wichtigen Schritt näher zu kommen, verpasst.

 

Ines Kurschat
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