Binge Watching

Gedanken-experiment

d'Lëtzebuerger Land du 18.12.2020

Den Schriftsteller Jack London kennt man zuvorderst für seine Abenteuerromane, die in der Wildnis Nordamerikas spielen und gerne den Naturzustand verklärend beschreiben – etwa Ruf der Wildnis (1903) oder Wolfsblut (1906). Seine 1901 veröffentlichte Kurzgeschichte Die Lieblinge des Midas ist dagegen weniger bekannt, bietet aber die stoffliche Grundlage für die spanische Netflix-Produktion Los favoritos de Midas.

Mit der Schilderung von Naturschönheiten hat die Erzählung indes wenig gemein, sie führt uns in ein ganz kaltes urbanes Stadtviertel Madrids. Victor Genovés (Luis Tosar) fühlt sich dort sichtlich wohl. Er ist ein erfolgreicher Geschäftsmann an der Spitze der Banco Industrial, ein überlegter und ruhiger Mann, der um die Wichtigkeit seiner Position weiß und Entscheidungen sorgsam und mit Bedacht trifft. Seine professionelle Gabe wird aber auf eine harte Probe gestellt, als er eines Tages unverhofft einen überaus höflich formulierten Drohbrief einer geheimnisvollen Organisation erhält, die sich „Die Schergen des Midas“ nennt. Sie fordert Victor auf, 50 Millionen Euro zu zahlen, sonsten würden unschuldige Menschen sterben. Für Victor beginnt damit eine nervenaufreibende Krise, die nicht nur seine Familie, sein Unternehmen, sondern auch seine neue Liebe, die Journalistin Mónica Báez (Marta Belmonte), in äußerste Gefahr bringt.

Nachdem bereits Rodrigo Sorogoyens Film El reino (2019) den spanischen Bankensektor kritisch befragte und einen nahezu paranoiden Politiker ins Zentrum der Handlung stellte, der als Exempel für die Korruptionsvorwürfe steht, die die spanische Öffentlichkeit im Zuge der Gürtel-Affäre um 2009 in Atem hielt, kreist nun auch die Serie Los favoritos de Midas im spanischen Bankenmilieu. Im Gegensatz zu Sorogoyens Arbeit, die eine möglichst unvermittelte Teilnahme des Publikums am Geschehen generieren wollte, will die von Miguel Barros und Mateo Gil konzipierte Serie kaum einen Realitätseindruck der Ereignisse vermitteln, dazu ist sie schon viel zu formelhaft kreiert: Von der initialen Erpressung bis hin zu Verfolgungsjagden und den Täuschungsmanövern werden die Standardsituationen des Genres durchgespielt. Viel eher aber steht Los favoritos de Midas als Einladung für ein Gedankenexperiment: Wie verhält sich der Mensch in Extremsituationen? Was ist ihm ein fremdes Menschenleben wert? Los favoritos de Midas schildert, wie ein Mensch in die Mühle der Macht gerät und die Moral mehr und mehr zu einem Tauschwert wird. Luis Tosar versucht dabei in seinem Spiel den Prozess des Abstumpfens eindringlich zu machen. Wir sehen, wie ein Mann sich an das Verbrechen gewöhnt. Und so wie die Grenzen zwischen Gut und Böse für den Helden und die Zuschauer verschwimmen, so ist der Held hier auch nicht mehr der Sympathieträger, sondern mehr ein faszinierender Fixpunkt. Die Ambivalenz, die von seiner Figur ausgeht, ist nicht nur die angedeutete Bereitschaft, die Grenzen der Legalität zu überschreiten, sondern auch seine moralische Offenheit; er wird zunehmend undurchsichtig und lässt sich in alle Richtungen fortdenken.

Dementsprechend löst die Serie auch nicht all ihre Geheimnisse auf und lässt genügend Raum für eine Fortsetzung in weiteren Staffeln. Damit aber krankt die erste Ausgabe an einer äußerst dünnen Handlung, die kaum an Dramatik und Fahrt zunimmt. Die etablierten Motive werden redundant, der Erzählfluss leidet und kommt mit dem Thema der moralischen Grauzonen zuweilen nicht von der Stelle. Immer wieder werden Szenen von gewaltvollen Revolten der spanischen Unterschicht eingestreut, die von der Kluft zwischen Arm und Reich im heutigen Spanien berichten. Erzählerisch haben diese Bilder aber keinen Eigenwert: Die Unruhen werden weder eingehend geschildert, noch mit dem Haupterzählstrang des Helden verknüpft. Als dann endlich geklärt ist, wie Held und Bösewichte zueinanderstehen, ist der Effekt regelrecht antiklimaktisch und dient mehr als Ausgangspunkt für weitere Episoden.

Marc Trappendreher
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