In Clerf befindet sich ein benediktinisches Kloster, in dem zwölf Mönche leben. Ihr Abt ist der einzige Geistliche, der vom Bischof die Erlaubnis hat, Exorzismen durchzuführen

Im Gebetskreislauf

d'Lëtzebuerger Land du 21.03.2025

„Mein Leben ist ein sehr geregeltes – im chronologischen und im menschlichen Sinne. Es ist vorhersehbar, es ist geplant, es ist programmiert, aber auch der Aspekt der Innerlichkeit ist sehr betont“, beschreibt Michel Jorrot seinen Alltag im Clerfer Kloster. Seit 1994 ist er dessen Abt auf Lebenszeit; gewählt haben ihn seine Mitbrüder. Jorrot trägt eine schwarze Mönchskutte, an seinem Hals baumelt ein zehn Zentimeter großes Kreuz; an seinem Finger trägt er einen goldenen Ring, auf dem vier Herzen ein Kreuz bilden. Das innerliche Erleben und Verständnis seines Glaubens entfalte sich vor allem durch den Gesang, führt er aus. Und staunt, als habe er ein Wunder erblickt, wenn er über gregorianische Gesänge spricht: „Sie sind der Atem des Lebens.“ Das Gebet würde darin zu einem Klangraum – Ideen inkarnieren sich auf ästhetische Weise, entfalten sich in Raum und Zeit. „Das Wort Gottes wird im Gesang zu einem riesigen inneren, spirituellen Erleben – ich kann es kaum fassen.“ Wir sitzen an diesem Dienstag in einem Empfangsraum im Clerfer Kloster, draußen scheint die Sonne. Auch darüber freut sich Jorrot auf fast kindliche Art: „Diese Sonne ist ganz wunderbar.“ Über ihm hängt ein moros wirkendes Bild; vor einem dunklen Hintergrund hängt Jesus am Kreuz.

Der Benediktinermönch Jorrot wurde 1945 im Jura geboren und zog mit vier Jahren in die Nähe von Paris. „Ich komme aus einer sehr katholischen Familie und wollte schon mit etwa sieben Jahren Pfarrer werden.“ In Versailles habe er eine katholische Sekundarschule besucht. „In dieser Zeit entschied ich mich, in einer Gemeinschaft leben zu wollen, die auf die Lobpreisung Gottes ausgerichtet ist.“ Später zog er ins Kloster von Solesmes und absolvierte in Angers ein theologisches und philosophisches Studium. Er habe sich vor allem mit Thomas von Aquin, den Reformen des Zweiten Vatikanischen Konzils und dem Denken von Johannes Paul II. befasst. „Johannes Paul II. sprach vom Menschen nicht im abstrakten Sinne, sondern vom konkreten Menschen.“ Die Reformen des Zweiten Vatikanischen Konzils sieht Jorrot als Errungenschaft: „In meiner Kindheit wurde die lateinische Messe gefeiert, ganz im Stillen vollzog der Pfarrer über Stunden sein Ritual. Heute ist die Messe partizipativ, die Kirchgänger sind Teil des liturgischen Geschehens.“ Als Jugendlicher sei ihm das Thema Missbrauch nicht begegnet. Die Fälle erschüttern ihn. Aus seinem Umfeld kenne er keine Opfer, erst aus der Presse habe er davon erfahren. „Ich verstehe, dass die Gesellschaft von Geistlichen enttäuscht ist und sich von der Kirche hintergangen fühlt.“ Er finde es aber zugleich bedauerlich, dass die Kirche insgesamt unter Generalverdacht stehe. „Le bien ne fait pas de bruit“ – man würde nicht mehr über Verdienste der Kirche berichten.

2017 hat Bischof Jean-Claude Hollerich Jorrot das Amt des Exorzisten übertragen – eine Funktion, die er bis dahin selbst innehatte. Zunächst war sich Jorrot nicht sicher, ob er über seine sogenannte Befreiungsdienste sprechen will – sie seien naturgemäß eher diskret zu behandeln. Zudem seien, bedingt durch die Popkultur, falsche Vorstellungen verbreitet. „Die erste Aufgabe eines Exorzisten ist eigentlich, zunächst abzuklären, ob die Person ärztlich betreut wird. Falls nein, rate ich ihr dies, und falls ja, gehe ich dem Verdacht auf eine spirituelle Krise nach.“ Etwa drei Personen pro Monat würden ihn aufsuchen; manche werden von einem Pfarrer oder Arzt an ihn verwiesen. Ärzte, die ihren Patienten mitgeteilt hätten, die medizinischen Tests würden keine Auffälligkeiten zeigen. „Ich spreche mehrere Stunden mit ihnen, versuche, ihre Lebenssituation zu verstehen, und ihnen das Gefühl zu geben, dass sie mit ihren Problemen nicht allein sind.“ Durch ein kurzes Befreiungsgebet externalisiere er ihr Leiden und bringe es zu Gott. Die Menschen, die zu ihm kommen, sind Gläubige: „Sie wollen sich einem Priester anvertrauen, weil sie glauben, dass er ihnen helfen kann.“ In den Grundzügen beschreibt sich Jorrot als einen Psychologen, in dessen Werkzeugkasten nicht nur das Gesprächsangebot liegt, sondern auch Gebete und Gott. Die Probleme der Personen, die er sieht, beschreibt er denn auch als einen „désordre psychologique“. Doch er geht darüber hinaus – er schließt nicht aus, dass es Besessenheit geben kann. Laut kirchlicher Tradition würde eine Besessenheit vorliegen, wenn eine Person plötzlich nicht erlernte Fremdsprachen sprechen kann, eine exzessive Abneigung gegen religiöse Symbole wie Weihwasser zeigt oder ein nicht erklärbares Verhalten an den Tag legt. Solch außergewöhnliche Begegnungen habe er nie gemacht, allerdings habe er bei fünf Personen eingewilligt einen Exorzismus durchzuführen, weil die Annahme bestand, man könnte den Leidensdruck lindern.

Über den Ablauf des Rituals nennt der Benediktiner keine Details. Bekannt ist jedoch, dass der sogenannte Große Exorzismus auf das Rituale Romanum aus dem 17. Jahrhundert zurückgeht. Dabei werden Psalmen und Schutzgebete aufgesagt sowie Bibelpassagen über Jesus Kampf gegen das Böse vorgelesen. Schließlich wird dem Dämon befohlen, die sogenannte besessene Person zu verlassen (das Wort „exorzieren“ stammt vom griechischen exorkízein und bedeutet „wegbeschwören“). Die rituelle Vertreibung vermeintlich böser Geister aus Gegenständen oder Lebewesen ist keine kulturelle Seltenheit – sie ist in allen großen sowie schriftlosen Religionen bekannt. Im Christentum gelten die Dämonenaustreibungen Jesu als Vorbild: „Und er zog durch ganz Galiläa, predigte in den Synagogen und trieb die Dämonen aus“, heißt es im Markusevangelium. Papst Franziskus bezeichnete den Exorzismus als unverzichtbar, um „spirituellen Störungen“ entgegenzuwirken. Zugleich betont er, dass psychologische Ursachen meist der Grund für spirituelle Krisen seien.

Manche Religionswissenschaftler, wie Ann Taves, argumentieren, die Wirksamkeit von Heilritualen beruhe auf neurokognitiven Prozessen, Erwartungshaltungen und sozialen Dynamiken. In einem als wohlwollend empfundenen Setting könnten Rituale Emotionen regulieren und das Vertrauen in eine Heilung stärken. Hinzu kommt, dass neueste Studien darauf hindeuten, dass die Therapie-Wirksamkeit vor allem von der Person des Psychotherapeuten abhängt und nicht von der verwendeten Methode: Faktoren wie das Einfühlungsvermögen und zwischenmenschliche Fähigkeiten des Therapeuten spielten eine größere Rolle für den Behandlungserfolg als theoretische Ansätze, wie der klinische Psychologe Robert Johns schreibt. Die Anthropologin Tanya Luhrmann richtet ihr Augenmerk auf den Begriff „Imagination“ und analysiert, dass es sich dabei nicht nur um reine Vorstellungskraft handelt, sondern um einen Erfahrungsraum, den Gläubige als sinnlich-real erleben. Wer sich also mit der Wirkung von Ritualen befasst, müsse sich auch mit der Kraft der Imagination auseinandersetzen. Luhrmann, die Texte über charismatische Christen und Neo-Schamanen verfasst hat, schreibt religiösen Techniken wie Gebeten, Meditationen oder Ritualen die Fähigkeit zu, eine lebendige Imagination zu fördern. Man ahnt aber bereits die Kehrseite dieses wie ein Placebo-Effekt klingenden Geschehens: Ein als bedrohlich empfundener Ritualrahmen oder als repressiv erlebte Wertvorstellungen können kaum hilfreich sein. Mittlerweile liegen eine Reihe qualitativer Studien vor, allerdings gibt es kaum quantitativ angelegte Langzeitstudien.

Jorrot sieht sich ebenfalls in einen historisch-gesellschaftlichen Kontext eingebettet: Die Zuschreibungen an Priester hätten sich heute zunehmend auf Reiki-Meister, Geisterbeschwörer und Neo-Schamanen verlagert. „Die Menschen heute suchen im Internet nach Angeboten und zahlen bis zu 200 Euro pro Stunde, wie mir einer erzählte.“ Er hingegen führe sein Amt kostenlos aus. Er unterliege zudem der Kontrolle der Gemeinschaft und setze sich nicht über die Medizin hinweg. Dass die Kirche heute betont, sie warte medizinische Bewertungen ab, hängt mit dem zunehmenden Wissen über Psychosomatik zusammen, aber auch mit dem Fall der Anneliese Michel aus Klingenberg. Die bayerische Studentin starb im Juli 1976 an Unterernährung, nachdem sie monatelang von zwei katholischen Priestern mehrfach exorziert worden war. Zuvor hatten Ärzte bei ihr eine Epilepsie-Erkrankung diagnostiziert. Die Eltern und die beiden Geistlichen wurden schließlich wegen fahrlässiger Tötung zu Bewährungsstrafen verurteilt. Ein ähnlich erschütternder Fall ereignete sich im 19. Jahrhundert in Luxemburg. Der erzkonservative Vikar Jean-Théodore Laurent prahlte in einem Bericht, er habe 1843 in der Kathedrale erfolgreich einen Exorzismus an einer jungen Frau durchgeführt, die seit ihrem 15. Lebensjahr vom Teufel „besessen“ gewesen sei. Jahre später dokumentierte jedoch ein lothringischer Dorfpfarrer, dass das Mädchen offensichtlich krank war und sich weiterhin in einem beklagenswerten Zustand befand.
Die Clerfer Abtei wurde 1909 im neoromanischen Stil erbaut. Französische Mönche initiierten ihren Bau, nachdem sie 1901 die Republik aufgrund antiklerikaler Gesetze verlassen hatten, suchten sie in Belgien und Luxemburg nach einem neuen Standort. Als die Nationalsozialisten Luxemburg besetzten, wurden die Mönche erneut vertrieben, und die Abtei wurde unter Zwangsverwaltung gestellt. Teilweise wurde das Gebäude „durch ungläubige Vandalen“ zerstört, wie das Wort schrieb. Nach dem Krieg „taten die Benediktiner das, was die ersten Baumeister getan hatten; sie schwangen Schaufel und Hacke, transportierten Steine, wurden Maurer und Dachdecker“, so die katholische Zeitung. „Dank dieser schweren Arbeit erhielt die Abtei nach und nach ihr einladendes Gesicht“ und wurde zum „Zufluchtsort des Friedens, des Gebets und der Liebe“. Heute leben in Clerf zwölf Mönche, einer davon befindet sich diese Woche im Spital. Ihr Alltag unterliegt einem bestimmten Rhythmus: morgens um fünf beginnt er mit den Vigilen, einer nächtlichen Gebetswache; um halb neun abends wird zum Abendgebet, der Komplet, aufgerufen. Dazwischen finden mehrfach kurze Gebete und Gesänge statt. So auch an diesem Dienstag um viertel vor zwölf. Wie ein Uhrwerk springt der Abt von seinem Stuhl, um im Chorgestühl der Kirche Platz zu nehmen. „Unser Alltag ist durch Zeiten der Ruhe und In-sich-Gekehrtheit sowie Zeiten der Gemeinschaftlichkeit gekennzeichnet“, erläutert er. Ora et labora – tagsüber wird sich um den Garten, die Wäsche und Kocharbeiten gekümmert. Zum Verkauf bietet man vor Ort Apfelsaft an: „Letztes Jahr haben wir 20 Tonnen Äpfel gepresst.“

Die Mönche auf dem Hügel bei Clerf streben nach dem Himmlischen; sie verweilen in einem sich ständig wiederholenden Gebetskreislauf. Das klösterliche Leben ist von Wiederholung geprägt – sie wollen sich der linearen Zeit entziehen. Zugleich aber sind sie im Irdischen verhaftet: Im Garten gibt ein Mönch einem Arbeiter Anweisungen, und in ihrem Klosterladen bieten sie Touristen Schokolade zum Verkauf an. Die Außenwelt weilt gar in den Mauern des Klosters: In der Kaffeestube sitzen Besucher, darunter Thomas Goldschmidt, der in einem feierlich hellen Anzug seinen Kaffee nach dem Mittagessen trinkt. Sein junger Kopf ist voller blonder Locken. Er arbeitet im Steueramt von Diekirch und bereitet sich hier auf ein Examen über Steuerrecht vor. „Im Kloster kann ich in Ruhe lernen, und mein Alltag wird zugleich durch spirituelle Pausen strukturiert“, sagt er. Doch er sei erst einen Tag hier und könne noch nicht sagen, ob der Lerneffekt über die gesamte Woche anhalten wird. Am Tisch sitzt ebenfalls ein grauhaariger Mann, der sich als belgo-luxemburgischer Orgelspieler vorstellt. Er sei dabei, die Partituren des 1979 verstorbenen Pater Benoît zu ordnen. „Deren Qualität ist wirklich hervorragend. Er hatte eine besondere Gabe, meditative Stücke zu komponieren“, schwärmt er. Ein weiterer älterer Herr ist aus Zolwer angereist – dort ist er Diakon. „Ich komme hierher, um in mich zu gehen und zu lesen.“ Seit 20 Jahren verbringt er jedes Jahr mehrere Tage in Clerf. „Ech brauch dat.“

In der Kaffeestube sitzt auch Bruder Emmanuel. Er ist im Senegal geboren. Nicht weit von seinem Heimathaus befindet sich ein benediktinisches Kloster, in das seine Familie zur Messe geht. Die lateinischen Lieder der Gemeinschaft singt seine Mutter beim Bügeln nach. Mit 17 trat er dem Kloster bei, „nachdem ich einen Retreat gemacht habe“. Der 37-Jährige sieht eine Analogie zwischen der Abbaye (dem Kloster) und der Abeille (Biene); wie im Bienenstock durch eine Bienenkönigin, werden die Mönche durch einen Abt geleitet. Ohne Mönchskutte sitzt er bei den Laien – er befindet sich in der Testphase und überlegt, ob er sein aktuelles Kloster in Holland verlassen soll, um sich in Clerf niederzulassen. Mit dem Umzug würde er zum Jüngsten der 13 Mönche.

Am Nachmittag erklärt der Abt, man orientiere sich durchaus an der Wissenschaft. Neulich hätte ein Mönch beim Mittagessen ein Buch über den Klimawandel von dem Physiker Jean-Marc Jancovici vorgelesen. Neben wissenschaftlichen Begriffen hätten für sie jedoch auch symbolische eine Bedeutung; Wochentage seien messbar, aber zugleich symbolisch: „Der Sonntag ist für uns der erste Tag der Woche; es ist der Tag der Auferstehung.“ Jeder Sonntag sei im Prinzip Ostern. Michel Jorrot schwankt zwischen symbolischen und weltlichen Deutungsrastern. Was ist der Teufel? Für Jorrot ist er beides – eine allegorische und zugleich reale Kraft.

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Stéphanie Majerus
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