Ganztags-Grundschule

Aus den Augen

d'Lëtzebuerger Land vom 29.01.2009

So viel Schule war schon lange nicht mehr. Zwei Tage lang stritten die Abgeordneten im Parlament über das Für und Wider der Grundschulreform, bis das vierteilige Gesetzespaket (einschließlich Script-Reform) mit den Stimmen der schwarz-roten Mehrheit verabschiedet wurde. Eine Woche zuvor war bereits die neue Laborschule Eis Schoul auf dem Kirchberg feierlich eröffnet worden.

Während alle Aufmerksamkeit sich diese Tage fest nach vorne richtet, lohnt ein Blick zurück. Nur wenige wissen noch, dass der Titel als erste Ganztags-Grundschule Luxemburgs eigentlich der Jean-Jaurès-Schule in Esch gebührt. Drei Jahre nach Eröffnung scheint das von Unterrichtsministerium und Gemeinde gemeinsam finanzierte Schulprojekt in Vergessenheit geraten. Zu Unrecht, denn die integrative Schule mit den offenen, nur durch Regale abgetrennte Klassenräumen zählt zu Luxemburgs Vorreitern der pädagogischen Erneuerung. Die Idee, in Teams und Zyklen zu funktionieren und Behinderte wie Nicht-Behinderte gemeinsam lernen zu lassen, hatten die Escher noch bevor LSAP-Unterrichtsministerin Mady Delvaux-Stehres die Organisationsweise in ihrer Grundschulreform festschrieb, und auch vor Eis Schoul. 

Jede Woche fertigt der Lehrer einen Plan für einen jeden Schüler, was er in dieser Woche bearbeiten muss. Wann er welche Aufgabe erledigt, kann er selbst entscheiden. „Mit dem Wochenplan lernen die Schüler autonom zu arbeiten und wir können besser sehen, wo noch Förderungsbedarf besteht“, beschreibt Ganztagsschulgründerin Marianne Damiani den Vorteil der Lernmethode. Um besser auf die Bedürfnisse der Schüler eingehen zu können, betreut jeder Lehrer zwölf Schüler besonders intensiv. Das Tutoriat haben sich die Escher von den Kollegen aus dem Neie Lycée abgeguckt.Etwas schwieriger gestaltete sich die Zusammenarbeit mit den Erziehern, eine Neuerung, die ebenfalls im Neie Lycée besteht und die das Ministe­rium nun landesweit einführen will. Weil in der Konzeptualisierungsphase kein Erzieher dabei war, taten sich diese schwer, das integrative Konzept umzusetzen. Es folgte ein unruhiges Jahr mit wechselnden Erzieherteams. „In­zwischen ist etwas Ruhe eingekehrt“, freut sich Lehrerin Josianne Kieffer. 

Die ist womöglich aber nur von kurzer Dauer: Weil die Erzieher die Kinder auch nebenan in der geplanten Maison relais betreuen sollen, bahnt sich ein neuer Konflikt an. Das Grundschulgesetz sieht eine engere Verzahnung von Grundschulen und Maison relais vor. Was aber, wenn eine Gemeinde eine Ganztagsschule betreibt und Konzept und Personal auch beim Mittagessen anwenden will? Wer trägt die Kosten für die Betreuung: das für die Maisons relais zuständige Familien­ministerium oder das Unterrichtsministerium, das künftig für das gesamte Lehrpersonal aufkommen soll? Oder doch die Gemeinde? 

Das Problem wäre vermutlich längst gelöst, hätten die politischen Verantwortlichen das Escher Projekt enger begleitet. Doch außer einer wissenschaftlichen Auswertung durch die Uni Luxemburg hören die Escher von ihrer einstigen Unterstützern nicht mehr viel. Derweil läuft der Alltag in der Modellschule weiter. Beim neuen Netzwerk Écoles en Mouvement, das der Script koordiniert, ist die Escher Initiative nicht dabei. Und auch im Film über pädagogische Best practises in luxemburgischen Grundschulen, den das Unterrichtsministerium im Zusammenarbeit mit der Uni Namur entwickelt hat, taucht sie nicht auf. Lediglich die grau-weißen Leitfäden über die Kompetenzniveaus bekam die Jean-Jaurès-Schule mit der Post geschickt. 

Als nächstes Etappenziel wollen die Escher weiter an den Lehrmethoden feilen: „Wir halten noch zu sehr an vorgegebenen Schulbüchern und am Fächerkanon fest“, so Kieffer selbstkritisch. Diskussionsbedarf sieht die Grundschullehrerin auch bei der Bewertung. „Das 60-Punkte-System wird unserem pädagogischen Konzept nicht gerecht.“ Bislang verzichten die Escher auf den Einsatz von Noten nur im unteren Zyklus. „Wir wollen sicher sein, dass unsere Schüler vorbereitet sind, wenn sie auf die Sekundarstufe wechseln“, begründet Kieffer das Festhalten am Punktesystem.

Die Sorge, die Schüler beim Wechsel auf die Regelschule zu überfordern, haben alle Reformschulen und sie beschäftigt auch die Lehrer des Neie Lycée. Die Ganztagsschule ging 2005 als erstes Pilotprojekt unter sozialistischer Ägide an den Start. Vier Jahre später wird über sie kaum noch gesprochen. Außer einer quantitativen Untersuchung der Uni Luxemburg gibt es keine nennenswerten Analysen des Projektes. An Themen mangelt es nicht. Obwohl das Neie Lycée bewusst auf Noten verzichtet, ist die Bewertung gleichwohl Dauerbrenner. Als im vergangenen Jahr erstmals neben dem Conseil de classe eine externe Jury über die Orientierung der Neuntklässler des technischen Sekundarunterrichts beriet, fiel den Lehrern der anderen Schulen die große Sorgfalt auf, mit der die Kollegen des Neie Lycée das Können ihrer Schüler via Portfolios, Textzensuren und Eltern-Empfehlungen zu dokumentieren versuchten. 

Man habe vielleicht zu strenge Kriterien angelegt, aus Angst, die Schüler könnten den Anforderungen der Regelschule später nicht gewachsen sein, hieß es damals. Eine offizielle Auswertung der Orientierungsempfehlun­gen gibt es noch nicht, aber bisher liegen „keine negativen Rückmeldungen“ vor, sagt Schulleiter Jeannot Medinger nicht ohne Stolz. Aber auch wenn sich die alternative Orientierung bewährt zu haben scheint, gibt es kritische Töne. Der Franzose Baudoin Jurdant, der als einer von sieben „kritischen Freunden“ die Modellschule berät, warnt vor „übertriebenen Perfektionsimus“. Der Pariser Professor und seine Kollegen sind sich einig: „Die Lehrer haben im herkömmlichen System erfolgreich bestanden“, so Jurdant. Da falle es schwer, gelernte Denk- und Bewertungsschemata aufzubrechen. 

Das spiegele sich auch in der Debatte um Kompetenzen wider: „Es gibt die Tendenz, die Messbarkeit von Kompetenzen zu betonen“. Sein Genfer Kollege André Giordan, Autor des Buches Apprendre à apprendre, wird noch deutlicher: „Die Frage der Kompetenzen lenkt vom eigentlichen Problem ab: Wie schaffen es die Lehrer, dass ihre Schüler gerne lernen? Und was muss die Schule tun, um die gesellschaftliche Hierarchie nicht bloß zu reproduzieren? Auch das Neie Lycée hält an Grundstrukturen des herkömmlichen Systems fest, etwa an der Trennung in Classiqe, Technique und Préparatoire oder an die Einteilung in Fächer. Weil Sinn und Zweck der Schule hierzulande überhaupt wenig hinterfragt würden, störe sich kaum jemand daran, so Giordan, der sich „mehr kontroverse Debatten“ wünscht. Nur, wer soll diese anstoßen, wenn nicht die Schulen selbst? Bisher haben sich nur wenige die Mühe gemacht, das Konzept des Neie Lycée näher kennen zu lernen. Eher wurstelt jede Schule in ihrer Ecke, mit dem Ergebnis, dass wertvolle Synergien verloren gehen, weil wichtige Erfahrungswerte nicht weiter gereicht werden. 

Der dicht gepackte Schulalltag lässt ohnehin kaum Zeit für Grundsatzfragen. Eine Idee des Neie Lycée ist es nun, einige Lehrer freizustellen, um die bisherige Arbeit selbst zu analysieren. Ähnlich wie bei der Laborschule Eis Schoul. Das könnte auch im Interesse der anderen Schulen sein. Denn die Fragen der Lehrer des Neie Lycée oder der Jean-Jaurès-Schule beschäftigen nicht sie allein. Das Attert Lyzeum in Redingen beispielsweise, das ebenfalls mit Wochenplänen, Lehrerteams und Ganztagsschulmodus arbeitet, hat im Dezember erstmals Zeugnisse ausgestellt. Und wie die Neie Lycée-Kollegen festgestellt, dass das enge 60-Punkte-Korsett eine konstruktive, differenzierte Bewertung des einzelnen Schülers praktisch unmöglich macht. Die ALR-Gründer hatten ein Konzept entwickelt, das statt auf Trimester auf Semester aufbaut und die aufwändige Bewertungsarbeit zumindest reduziert hätte. Doch das Mi­nisterium wollte den Vorschlag nicht genehmigen, weil es fürchtete, andere Schulen könnten auf den Zug aufspringen, und das hätte größere Umbauten bei der Ferienplanung und dem Schülertransport bedeutet. 

Noch ein Problem bereitet den Redingern Kopfzerbrechen: Bislang ist die Atmosphäre in den Lehrerteams und Fachgruppen super. Zwei Jahre lang haben sie zusammen an „ihrer“ Schule gefeilt. Die neuen Kollegen, die das Gründerteam seit September 2008 verstärken, wurden mittels Journées pédagogiques und Fortbildungen intensiv vorbereitet – und gezielt ausgewählt. „Im nächsten Jahr können wir uns die Lehrer nicht mehr aussuchen“, bedauert Vize-Schulleiter Aly Trausch. Wie schwierig es ist, den Pioniergeist im Alltag zu bewahren, zeigen die Erfahrungen anderer Schulen: Nicht die alte Lehrergeneration, sondern junge Kollegen sind es oft, die als sicher geglaubte Errungenschaf­ten wieder in Frage stellen. Im Neie Lycée fällt die Eingliederung der Neuen leichter, da jeder Lehrer von vornherein einem Team zugeordnet wird. Aber auch dort beobachten „kritische Freunde“ wie André Giordan, wie aufwändig und zeitraubend es ist, jüngere Kollegen mit den Zielen der Schule bekannt zu machen. Zeit und Ressouren, die fehlen, um  das Konzept weiterzuentwickeln.

Solche Probleme ließen sich vielleicht eindämmen, wenn Schulen sich mehr austauschen würden – und aus der gemeinsamen Reflexiongegebenenfalls auch politische Forderungen, etwa nach mehr Autonomie und Gestaltungsspielräume, ableiteten. Das Ministerium will nun, einen Austausch im Komitee der Direktoren anregen. Bis zur Rundum-Schulerneuerung ist es noch ein weiter Weg.

Ines Kurschat
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