Binge Watching

Rote Overalls

d'Lëtzebuerger Land vom 05.11.2021

Auf Netflix geschieht Kapitalismuskritik im roten Overall: Nach Casa de Papel ist nun die südkoreanische Serie Squid Game mit rund 90 Millionen Zuschauern der größte Erfolg des Streaming-Dienstes. Nur noch ausgeklügelte Tricksereien eröffnen eine Perspektive, um der sozialen Misere zu entkommen. So denkt auch der hochverschuldete Seong Gi-Hun (Lee Jung-jae), der die Einladung zu einem Spielwettbewerb erhält, der eine Gewinnsumme von 45,6 Milliarden Won verspricht. Allerdings muss er freiwillig und buchstäblich sein Leben aufs Spiel setzen, denn der Gewinn winkt nur dem, der am Ende des Wettbewerbes am Leben bleibt.

Man kann das Ganze als eine Kritik auf das südkoreanische Sozialsystem lesen: Missliche Lebensstandards, hohe Verschuldungen, desolate Pflegeeinrichtungen, die die Menschen in Extremsituationen zur Bestialität einladen – aber ist damit der weltweit phänomenale Zuspruch der Serie hinreichend beantwortet? Sicherlich nicht. Squid Game gelingt es weitläufig, die funktionelle Struktur des Kapitalismus in auffallenden Bildern zu verdichten: Serienschöpfer und Regisseur Hwang Dong-hyuk erzählt von den sich anbahnenden Konflikten einer Klassengesellschaft, in der die über die Jahre gewachsenen Schere zwischen Unter- und Oberschicht, sich nicht mehr schließen lässt. Sehr klar werden hier die prekären Lebensverhältnisse gegen das Übermaß einer dekadent gewordenen Oberschicht gestellt. Diese Spielteilnehmer sind per se keine bösen Menschen, viel eher will Hwang Dong-hyuk sie als ausgebeutete Gestalten darstellen, die kaum Individualität ausstrahlen, so sehr sind sie diesen Gesellschaftsstrukturen entsprechend auf ihren Körper als Konsumware im Spektakel reduziert, deren Basis die Schulden sind. Solange es Schulden gibt, gibt es Spieler. Seong Gi-Huns plötzliche Einflussnahme und allmähliche Ermächtigung in diesen neuen Wänden kann man als sich erfüllende Rachephantasie des kleinen Mannes lesen, doch dabei belässt Hwang Dong-hyuk es nicht. Nach und nach erwachsen innerhalb der Gruppe neue Bündnisse und neue Spannungen. Es sind die Konsumgesellschaft und der materielle Habitus, die den Menschen in dieser Spielwelt zu bestimmen scheinen, und das passiert dergestalt, dass es zu immer neuen Abhängigkeitsverhältnissen und Ausbeutungen kommen muss. Der Twist der Serie – darin ist Squid Game dem Palme D’or-Gewinner von 2019, Parasite, nicht unähnlich – legt nahe, dass der Held gerade das, woraus er aussteigen will, um um jeden Preis in einer besseren Welt zu leben, nicht hinter sich lassen kann. Es gibt keinen Ausweg aus dem System. War das Gesellschaftssystem in Parasite noch vertikal angelegt, in einer Unterscheidung zwischen dem Oben und dem Unten, ist der filmische Raum in Squid Game horizontal strukturiert, in einem Drinnen und Draußen. Zu beobachten ist, wie in diesen Spielräumen eine Gesellschaft zusammenwächst, deren innere Widersprüche offenbar und deren Humanität zurückgedrängt werden.

Im Gegensatz zu Parasite gelingt es Squid Game bei all der angestrebten Kapitalismuskritik, die mit ihrer Laufzeit von neun Stunden definitiv zu lang geraten ist, indes nicht, eine ethische Position zu beziehen. Nicht nur verliert die Serie sich in der Wiederholung der Spielabläufe, gegen deren Redundanz sie versucht den kriminalistischen Handlungsstrang eines Undercover-Ermittlers stark zu machen, auch geizt sie am blutigen Spektakel nicht, zu der sie sich inhaltlich in Distanz setzen will. Sie vertraut auf audiovisuelle Reize und nostalgische Erinnerungen an Kinderspiele, um massentauglich zu sein. Die Stanley-Kubrick-Zitate von 2001: A Space Odysee, A Clockwork Orange oder Eyes Wide Shut sind anregend, doch alles Zitieren hilft nicht darüber hinweg, dass die Serie seltsam betulich bleibt. Die Ästhetisierung der Gewalt ist Teil des Spektakels, anstatt, wie bei Kubrick, Quelle der Irritation zu sein. Sie ist effektheischend, anstatt verstörend zu wirken – das war auch in der Saw-Reihe nicht anders, von der Squid Game maßgebliche Bezugspunkte gewinnt. Anstatt den Zuschauer zu konfrontieren, aufzuwühlen, wird er gegen Ende mit einer allzu (pseudo-)moralisierenden Geste bei der Hand genommen. Sie nimmt den Zuschauer aus der Eigenverantwortung, indem sie ihren Helden siegen lässt, nicht weil er siegen „muss“, sondern viel eher, um uns einfache Lösungen anzubieten. Um ferner eine klare und definitive Position ablesen zu können, braucht es narrative Geschlossenheit. Die aber ist aufgrund der Popularität von Squid Game eher unwahrscheinlich – nicht nur ist die Piste für weitere Handlungsstränge gelegt, eine zweite Ausgabe ist bereits in Entwicklung. Die Kapitalismuskritik erliegt den Oberflächenreizen, die auf Eskapismus zielen: Squid Game ist ein Serien-, ein Netflix-Produkt – leicht konsumbierbar, höchstwahrscheinlich algorhithmisch erschlossen und einfach verdaulich – und deshalb publikumswirksam. Die hohe Nachfrage an Sneakers und nicht zuletzt die Kontroverse um die Schüler in Belgien legen davon anschaulich Zeugnis ab.

Marc Trappendreher
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