Binge Watching

In die Freiheit

d'Lëtzebuerger Land du 22.01.2021

Fluchtszenarien sind ein fester Bestandteil zur Erzeugung von filmischer Spannung. Sie können als einzelne spannungsauslösende Szenen innerhalb fester Genres auftreten, sie können sogar ganze filmische Erzählungen ausbilden wie in The Defiant Ones (1958), The Great Escape (1963) oder in Papillon (1973). Selten aber ist das Fluchtmotiv Träger einer vier Staffeln umfassenden Serie wie Prison Break, die von 2005 bis 2009 ausgestrahlt wurde und die Netflix ins Programm genommen hat. Im Zentrum der Serie steht Michael Scofield (Wentworth Miller), der seinen Bruder Lincoln (Dominic Purcell) aus dem Gefängnis befreien will, da seine Hinrichtung bevorsteht. Lincoln wurde Opfer eines Komplotts, das bis in die hohen Ränge der politischen Macht führt. Da in Michaels Augen eine Rettung auf Rechtswegen ausgeschlossen scheint, lässt er sich selbst inhaftieren, um mit seinem Bruder die Flucht anzutreten. Er kennt die Pläne des Gefängnisses und kann den Ausbruch minutiös vorbereiten. Derweil kämpft die Rechtsanwältin Veronica Donovan (Robin Tunney) für eine Neubearbeitung des Falls, um die bevorstehende Hinrichtung noch zu verhindern. Prison Break glaubt nicht mehr an die Integrität des US-amerikanischen Rechtssystems; die Menschen schaffen sich ihre eigenen Gesetzte und fordern ihre Rechte auf eigenem Wege ein.

Das Grundmotiv ist so einfach wie nervenaufreibend: Jemand will in die Freiheit. Dabei versucht die von Paul Scheuring erdachte Serie, die Spannungskurve beständig hoch zu halten; der meisterhafte Plan kann nur durch Interessenkonflikte, die Häufung von Unvorhergesehenem und Zufälle gefährdet werden. Dass sich der Held dabei in die Gefängnisärztin (Sarah Wayne Callies) verliebt und seine Mission in Konflikt zu seinem romantischen Interesse gerät, gehört zu den Standards klassischen Filmerzählens.

Was Prison Break im Wesentlichen ausmacht, ist die Verkehrung der räumlichen Ordnung: Das Öffentliche ist verwerflich, das Verschlossene ehrbar. Diese zwei grundsätzlichen Handlungsführungen erlauben die Kombination von Begeisterung, Aufregung und Abenteuer mit dem Sinn für das Einstehen für eine gerechte Sache, was dem Helden Gelegenheit gibt, seinen Scharfsinn unter Beweis zu stellen. Wir beobachten, wie ein Genie von der kriminellen Energie eines Gefängnisses profitiert: Das Abschließen von Lebensversicherungen, das Erschleichen von Gegenleistungen, das Misstrauen gegeneinander und die daraus erwachsende Bereitschaft, jeden noch so üblen Trick gegenüber anderen anzuwenden, erscheinen in dieser Situation als „natürlich“. Bei dem breit erzählten Fluchtversuch kommen MacGuffins der absoluten Alltäglichkeit zum Tragen: Zahnbürsten, Schrauben, Uhren und Kreditkarten gewinnen in diesem System der Enthaltung und des Ausschlusses einen überaus wichtigen Stellenwert und bedienen den Nervenkitzel, den Prison Break einfordert.

Die Zweckgemeinschaften innerhalb des Gefängnissystems schaffen einen Zusammenhalt unter den Verbrechern, der größer scheint als der unter den vermeintlichen Ordnungshütern im Gefängnis, die sich mehr und mehr als sadistische Peiniger entpuppen, und der der kalt-effizient handelnden Agenten des Geheimdienstes. Prison Break präsentiert eine lange Linie der Korrumpierung des US-Sicherheitsapparats. Die Flucht wird überwiegend monoperspektivisch aus der Sicht von Michael Scofield geschildert. Auch dadurch schafft die Serie es, den verwerflichsten Menschen im Kontext des Eingeschlossenseins eine Faszination abzugewinnen. Eine Toleranz für die Unmenschlichkeit stellt sich allmählich ein, weil sie dem Helden dient und seine Probleme auf dem Weg in die Freiheit beseitigt.

Dieser Raum, diese Gefängnislandschaft, die den Menschen ihre Identität gibt, ist gezeichnet von den Wegen, die die Menschen in ihr hinterlassen haben. Die immergleichen Rundgänge im Gefängnishof und die Kontrollzählungen der Wächter machen das Repetitive der Serie wirksam. Ein Eindruck von der Monotonie des Gefängnisalltags, begleitet von einem musikalischem Thema des Komponisten Ramin Djawadi, das aufreibend und abstumpfend zugleich wirkt, stellt sich bald auch beim Zuschauer ein. 2017 wurde Prison Break um eine fünfte, etwas unglücklichere, Ausgabe erweitert. Eine weitere ist in Planung ohne aber die dramaturgische Komplexität und Dichte aufgreifen zu können, die sie auszeichnete.

Marc Trappendreher
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