Binge Watching

Im Reich der Blinden

d'Lëtzebuerger Land du 19.11.2021

Nachdem auch der Hightech-Riese Apple seit 2019 seinen eigenen Streamingdienst, Apple+, auf den Markt gebracht hat, versucht er mit den anderen Onlineportalen wie Netflix, Amazon Prime oder Disney+ zu konkurrieren. Prestigeträchtige Eigenproduktionen sollen nach und nach das Angebot füllen. Die ebenfalls 2019 gestartete Serie See ist eines der ersten Beispiele dafür. Die Serie spielt in einer düsteren Zukunft, in der die gesamte Menschheit an den Folgen einer globalen Pandemie erblindet ist. Baba Voss (Jason Momoa) ist der beherrschte und furchtlose Stammesführer, der für seine Mitmenschen ein einigermaßen beständiges Leben aufbauen konnte, doch sein Friede wird jäh auf die Probe gestellt, als eine Frau in seinem Dorf Zwillinge zur Welt bringt, die zu sehen vermögen haben und so die Zukunft verändern könnten. Die Königin Kane (Sylvia Hoeks) ist über die Geburt der wundersamen Kinder jedoch ebenfalls im Bilde und versucht sie an sich zu reißen…

Der Zukunftsentwurf, den See abbildet, versetzt die Gesellschaft in ein nomadenhaftes Dasein zurück; der zivilisatorische Rückschritt spricht der Menschheit die Fähigkeit ab, noch gesellschaftsfähig zu sein. Die Grundstimmung in der Handlung ist folglich das Gefühl einer Vergeblichkeit und Ohnmacht, was unentwegt an Verdammnis denken lässt – verwirrt und wie gelähmt ist der Held von der Last der Entscheidungen, die auf ihm liegt, und nicht zuletzt von der vergeblich scheinenden Suche nach einer besseren Zukunft.

Über ihren langsamen Erzählrhythmus baut die Serie so eine paradoxe End- und Neuzeitstimmung auf, die von Zeugnissen unserer Gegenwart als etwas Relikthaftes berichtet. See ist mit seinem Produktionsdesign eine Mischung aus Mad Max (1979) oder noch Waterworld (1995) auf der einen Seite, auf der anderen besticht die Serie visuell mit berauschend schönen Naturaufnahmen, durch das gleißende natürliche Sonnenlicht; Bilder, die man so vielleicht zuletzt in Alejandro González Iñárritus The Revenant (2017) gesehen hat.

Um den Ansprüchen der zeitgenössischen Qualitätsserien zu entsprechen, setzt Apple auf eine aktuelle Starbesetzung: Jason Momoa, der sich mit Game of Thrones (2011-2019) einen Namen machen konnte und zunehmend in großen Hollywoodproduktionen wie Aquaman (2018) zu sehen ist, sorgt eher mit seiner Muskelmasse für Dramatik als mit schauspielerischen Gestaltungsmitteln. Ihm gegenüber steht Sylvia Hoeks, die in Dennis Villeneuves Blade Runner 2049 (2017) zu Prominenz gelangte. Sie spielt hier ähnlich unterkühlt und distanziert. See betont die Figurenkonstellationen und baut die Konflikte um sie herum auf, doch krankt die Serie an einem der Probleme des Science-Fiction-Genres – an der Schwierigkeit, jemanden zu finden, um dessen leibliches und seelisches Wohl es sich zu bangen lohnt. Regisseur Francis Lawrence, der mit der Hunger Games-Reihe bereits eine dystopische Zukunftsvision ins Bild übersetzte, und seine Schauspieler lassen sich Zeit, diese dysfunktionale Welt mit ihren gebrochenen Charakteren zu entwickeln, und dabei kommt eben gerade das zum Tragen, was die Titelsequenz verspricht, das Zwielicht, in dem sich diese Figuren bewegen.

Der Schöpfer Steven Knight hat mit Peaky Blinders (2013) bereits bewiesen, dass er massentaugliche und hochwertige Seriendramaturgie schaffen kann. Bei allen Zugeständnissen, die See an die Mainstream-Unterhaltung macht, ist die Serie doch immer noch eines der raren Beispiele für ambitionierte Science-Fiction. Aus dem Streaming-Dschungel ragt sie denn auch insofern hervor, als sie philosophische Themenfelder wie Bildung, die Wirkungsmacht des Buches, den Prometheus-Komplex, abstecken möchte, sie mit wendungsreichen Spannungsmustern zu verbinden versucht und zu so etwas wie „geistreicher Unterhaltung“ führen will. Das ist gewiss lobenswert, aber letztlich belanglos. Denn wir wissen: Im Reich der Blinden ist der Einäugige König.

Marc Trappendreher
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