Binge Watching

Verbrechen und Institution

d'Lëtzebuerger Land du 16.04.2021

Der in den 90er-Jahren populär gewordene Begriff des Nordic Noir als Bezeichnung für düstere skandinavische Kriminalliteratur, die von Schriftstellern wie Stieg Larsson und Henning Mankell angeführt wird, hat längst seine Entsprechung in der Filmwissenschaft gefunden. Allerdings ist nicht gänzlich geklärt, ob es sich dabei um ein eigenständiges Filmgenre handle oder doch eher um eine bestimmte Spielart des Kriminalfilms, die sich vordergründig über seine geographische Lokalität, seine Figuren und besonders seinen visuellen Stil auszeichnet. Mit Bron (Die Brücke), eine dänisch-norwegisch-deutsche Koproduktion, die von 2011-2018 im Fernsehen zu sehen war, hatte das Nordic Noir einen neuen Höhepunkt erreicht, nicht zuletzt weil sie mit der Kommissarin Saga Norén (Sofia Helin), die Züge des Asberger-Syndroms aufweist, eine ambitioniert geschriebene weibliche Hauptfigur präsentieren konnte. Der Streaming-Riese Netflix hat längst auf die besondere Faszination für das Nordic Noir reagiert: Nicht nur hat die Plattform Bron in den Katalog aufgenommen, mit The Valhalla Murders ist nun eine isländische Mini-Serie von Netflix als Eigenproduktion in Auftrag gegeben worden. In Reykjavik suchen die isländischen Ermittler Kata (Nína Dögg Filippusdóttir) und Arnar (Björn Thors), der ihr aus Oslo als Partner zur Seite gestellt wird, nach einem Serienmörder, dessen Opfer alle in einem größeren Zusammenhang stehen und auf schreckliche Weise mit dem Kinderheim Valhalla verknüpft sind…

The Valhalla Murders steht mit seinem kriminalistischen Plot, der den diversen Etappen der Ermittlungsführung keine auffälligen Neuerungen abgewinnen kann, in der Nachfolge US-amerikanischer Erfolgsserien wie True Detective und nicht zuletzt macht die Serie deutliche Anleihen bei Vorgängern wie besagter Serie Bron oder noch bei der letzten Verfilmung der Fälle des Department Q, Verachtung (2018), nach dem Roman von Jussi Adler-Olsen. The Valhalla Murders ist also eher eine Serie, die über die spezifische geographische Lokalität und dessen formale Präsentation auf den Zuschauer einwirken will: Fotografie und Schnitt vermitteln die Atmosphäre einer nie enden wollenden Suche in dieser Eiseskälte Islands anschaulich. Kameraschwenks und -fahrten aus der Aufsicht begleiten die Figuren in dieser Landschaft mit ihren schneebedeckten Gebirgsketten und klaren Wasseroberflächen, deren blau-weiße Farbpalette die Wetterlage geradezu auf den Zuschauer überträgt. Das Nordic Noir strebt bekanntlich immer schon ein Bild Skandinaviens an, das systematisch mit den klischierten Darstellungsformen als idyllisches Paradies, etwa nach Vorlage einer Inga Lindström, bricht. Freilich ist die Darstellung in The Valhalla Murders in ihrem Kontrastwillen nicht weniger zeichenhaft: Die komplexbeladenen und psychologisch nicht immer stabilen Ermittler, deren Familien nicht richtig funktionieren, sogar den Eindruck nahelegen, das private Unglück als Folge der Ermittlungsarbeit sehen zu müssen, stehen zu den Schauplätzen mit ihren teils desolaten und unwirtlichen Landschaften in auffälliger Korrelation. Es ist womöglich das Aufgebot hervorragender Schauspieler, das diese Suche nach dem Schuldigen aufregend und psychologisch interessant macht und der Schablonenhaftigkeit mancher Szenen entgegenwirkt.

Diese Untersuchungen führen denn auch letztendlich zu nichts weniger als dem institutionellen Bösen und hier liegt der Schluss äußerst nahe, dass die Aktivitäten des Erziehungsheims Breiðavíks dem Serienschöpfer Thordur Palsson beim Schreiben bewusst gewesen und folglich in die Konzeption der Serie eingeflossen sind. Immerhin darf wohl auch diese Serie als Hinweis auf das problematische Verhältnis zwischen Öffentlichkeitswahrnehmung und Sozialproblematiken gelten. Es wirkt, als hätte man sich vor der Konjunktur des Nordic Noir immer ein wenig davor gefürchtet, die verborgenen Ausmaße krimineller Aktivitäten ans Licht zu bringen. The Valhalla Murders schreckt nicht davor zurück, die Gleichung zwischen Verbrechen und Institution aufzumachen.

Marc Trappendreher
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