Die jüngste Pionierleistung des Kanton Redingen ist die Schaffung eines Koordinator-Postens fürs Zesummeliewe. Soziale Konflikte gibt es wenige, doch die Bewohner befürchten angesichts neuer Wachstumsprognosen den Zerfall des ländlichen Charakters

Im Westen was Neues?

Eine Dorfstraße in Beckerich, Luxemburg
Foto: Olivier Halmes
d'Lëtzebuerger Land vom 18.04.2025

Die damalige DP-Familienministerin Corinne Cahen unterzeichnete sie noch mit Schutzmaske – es war in der Coronazeit 2021, als die ersten Pilotprojekte im Rahmen des Gesetzesprojektes „Zesummeliewen“ lanciert wurden. Karsten Küpper arbeitete anschließend als landesweit erster Koordinator in diesem Bereich - zunächst freelance und seit der offiziellen Unterzeichnung des Gemeindespaktes 2024 durch Familienminister Max Hahn (DP) als Festangestellter des Kantons. „Ass Rassismus iwwerhaapt e Problem bei eis?“, steht auf einem Flyer. Ende März lud das Syndikat ins Attert Lycée ein, um eine Studie von Liser und Cefis aus dem Jahr 2023 zu besprechen. Diesen Monat ist Karsten Küpper dabei, den Ist-Zustand der Vereine zu erfassen; erste Ergebnisse zeigen, dass die Mitglieder der Vereine zu 80 Prozent von außerhalb der jeweiligen Gemeinden kommen. 

35 weitere Gemeinden haben sich mittlerweile dem Pakt angeschlossenen. Erfahrungswerte an die neuen Gemeinden will Karsten Küpper noch keine vermitteln: „Jede Gemeinde ist anders und hat andere Bedürfnisse. Im Kanton schält sich der Wunsch heraus, mehr für das intergenerationnelle Zusammenleben zu tun.“ Deshalb steht nun folgende Überlegung im Raum: Die Generation der Baby Boomer hat viel Zeit. Junge Menschen mit Kindern haben einiges um die Ohren. Vielleicht könnten sich Rentner/innen familienübergreifend mehr in die Kinderbetreuung einbringen. Im Gegenzug könnten junge Menschen der älteren Generation bei der Anwendung neuer Technologien helfen. Womöglich wird man künftig auch Sprachencafés mit Rapaircafés verbinden. Also Orte schaffen, die gleichzeitig Geselligkeit, Lerneffekte und Nützliches miteinander verbinden. „Online entstehen viele spontane Initiativen, wie Nachbarschaftsfeste. Und in Everlingen hat ein Dorfverein jüngst eine alte Schule in ein temporäres Café umgewandelt“, sagt der Useldinger Bürgermeister Pollo Bodem (LSAP), der politisch Verantwortliche für den Pakt. Schon länger aktiv sind zudem die „Millepäteren“, ein Zusammenschluss von Rentnern, die im Handwerk tätig waren und nun für die Allgemeinheit in der Beckericher Mühle Maschinen reparieren, Sitzgelegenheiten für öffentliche Plätze herstellen – und einst eine gestohlene Kirchenstatue nachbildeten.

Redingen ist mit 270 Quadratkilometern der zweitgrößte Kanton nach Clerf. Mit rund 21 000 Einwohnern ist er im Landesvergleich allerdings unterdurchschnittlich dicht besiedelt. Bedingt durch Zuzug aus dem Zentrum und dem Ausland hat sich die Einwohnerzahl des Kantons in den letzten 40 Jahren jedoch verdoppelt. Dörfer wie Saeul und Ell wachsen mittlerweile jährlich um mehr als 3,2 Prozent – eine Rate, die im ländlichen Raum schnell Druck erzeugt. Spitzenverdiener findet man kaum im Kanton, aber die Medianlöhne von 4 600 Euro in Useldingen und Redingen zeigen, dass die Region auch für im städtischen Dienstleistungssektor Tätige und Beamte attraktiv sein muss. Ein Trend der durch den Park-and-Ride-Schwebach verstärkt werden könnte. Durch die bessere Anbindung an Luxemburg-Stadt besteht nun zugleich die Gefahr, dass die ländlichen Dörfer zu Schlafgemeinden werden. „An dat wëlle mer nit“, sagt Pollo Bodem, der als dienstältester Bürgermeister des Landes den demografischen Wandel kommunalpolitisch miterlebt hat. Karsten Küpper konstatiert ein bisher eher hohes Engagement von Zugezogenen – „vor allem bei jenen, die sich wegen der Lebensqualität langfristig hier niederlassen“. Studien des Soziologen Benoît Coquard zeigen zudem, dass Zugezogene mit hohem Bildungsabschluss sich überdurchschnittlich intensiv in ihrer neuen Gemeinde engagieren und sich für politische Ämter aufstellen lassen.

Während der Kanton Redingen heute ein kontinuierliches Bevölkerungswachstum verzeichnet, sah die Lage vor rund 60 Jahren anders aus – damals herrschte Landflucht. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts lebte ein Großteil der Bevölkerung in den ländlichen Dörfern von der Landwirtschaft und den Schiefergruben in Martelingen. Mit dem allmählichen Rückgang des Schieferabbaus wurde 1953 die an die Gruben angeschlossene Charlie-Strecke eingestellt, 1967 folgte die Stilllegung der Attertlinie für den Personenverkehr. Camille Gira, der erste grüne Bürgermeister der Majorzgemeinde Beckerich, schrieb in einem Forum-Beitrag aus dem Jahr 2003 über eine Zeit, in der der Wegzug junger Menschen, leerstehende und verfallende Häuser sowie der Abriss einzelner Bauernhöfe zur Normalität gehörten. Auch der Historiker Michel Pauly erinnerte sich in den Nullerjahren im Forum: Für ihn als Kind sei „der Kanton Redingen“ ein Synonym gewesen für „dort, wo die Welt mit Brettern zugenagelt ist“. Da seine Eltern kein Auto besaßen, „kamen wir dort überhaupt nicht hin“; keine Durchgangsstraße „zwang den Hauptstädter, zumindest bei der Fahrt ins Ausland, die Gegend zu passieren. Dort wohnten nur Bauern, solche mit denen wir nicht verwandt waren.“ In 50 Jahren sei er „vielleicht zweimal“ dort gewesen, um eine Rundwanderung zu unternehmen. Die Bezeichnung „Wëlle Westen“ setzte sich damals als Metapher für diese strukturschwache Region durch.

Als am 6. März 1990 das interkommunale Syndikat „De Réidner Kanton“ von Bettborn, Ell, Rambrouch, Redingen und Saeul ins Leben gerufen wurde, wollte man den damaligen Entwicklungen entgegenwirken. Später kamen fünf weitere Gemeinden hinzu. Das Syndikat finanziert sich über Beiträge seiner Mitgliedsgemeinden, erhält aber auch staatliche Gelder – beispielsweise steht für die Stelle des Koordinators für das Zesummenliewen ein staatliches Budget von 300 000 Euro zur Verfügung. Wirtschaftliches Zentrum des Kantons bilden seine zwei Gewerbezonen: Der Riesenhaff in Rambrouch (4,5 Hektar) und die Solupla in Redingen, letztere wird derzeit auf etwa 10 Hektar erweitert. Das größte dort angesiedelte Unternehmen ist der belgisch-luxemburgische Fensterhersteller Wako. Insgesamt arbeiten derzeit 7 300 Personen im Kanton, 40 Prozent davon sind (belgische) Grenzgänger. Bis 2035 könnte die Zahl der Arbeitnehmer auf 8 100 steigen. Als Erfolge wertet das Syndikat unter anderem die Gründung der einzigen regionalen Kindertagesstätte, die eigenständige Erweiterung des öffentlichen Verkehrs in den 1990er-Jahren, die Verwaltung einer gemeinsamen Musikschule sowie den Ausbau des Altenheims auf aktuell 112 Betten. In den 2000er-Jahren folgten die Renovierung des Schwimmbads und der Bau des Réidener Lycée – das mittlerweile mit Engpässen kämpft: Die Aufnahmekapazität liegt bei 1 500 Schüler/innen, im Mai 2023 waren jedoch bereits 1 490 eingeschrieben. Prognosen des Statec empfehlen daher, Platz für weitere 650 Schüler/innen zu schaffen. Der Bagger für die Erweiterung des Schwimmbads ist schon angerückt. Wenn sich das Einwohnerwachstum fortsetzt, dürfte sich die Bevölkerung bis 2035 im Kanton um ein Drittel erhöhen.

Wie sehen die Bewohner den Wachstumsdruck, der auf ihren Gemeinden liegt? Wo sollen sich die Dörfer des Westens hin entwickeln? Vor einem Jahr konnten sie sich dazu äußern; die Auswertung der 1670 beantworteten Fragebögen liegt seit ein paar Monaten vor. 21 Prozent sind der Meinung, dass ihre Dörfer „zu schnell“ und zu zerfranst wachsen. 15 Prozent wünschen sich gar, das keines der Dörfer im Kanton weiter wachsen sollte. Als Hauptpriorität forderten die Einwohner/innen bei künftigen Bauvorhaben „die Bewahrung des ländlichen Charakters“ zu beachten (eine Mehrheit identifizierte den Kanton zugleich mit den drei Stichwörtern, „Ländlich“, „Natur“ und „Ruhe“); an zweiter Stelle soll die Politik sich für bezahlbaren Wohnraum einsetzen sowie die den lokalen Handel und das Handwerk stärken. Aber was verstehen die Einwohner unter „ländlich“ – Einfamilienhäuser? Caroline Schmit, Projektverantwortliche des Syndikats, war an mehreren Bürgerworkshops dabei und sagt, „vor allem wollen die Befragten, dass das Dorf übersichtlich bleibt soll und keine großen Wohngebiete entstehen, mit Menschen, die sich nicht ins Dorfleben einbringen. Man befürchtet zudem, dass zuviele Agrarflächen versieelt werden könnten.“

Geht es um ganz konkrete Wünsche, äußern nicht Wenige, es bedürfe „dringend“ eines Fintesscenters, mehr durchgehend geöffnete „moderne“ und „traditionnelle“ Cafés, aber auch einen Discounter vermisst man sowie ein Kino. Letzteres wird als ideale „Freizeitmöglichkeit für alle Altersgruppen“ und „für Regentage“ genannt. Im nationalen Wahlkampf 2023 wurde von Nordpolitiker/innen die medizinische Versorgung im ländlichen Raum als Hauptsorge der dort Wohnenden beklagt. Bei dieser Umfrage kam jedoch das Gegenteil heraus: Die Befragten sind mit dem medizinischen Angebote besonders zufrieden. Das Thema treibt sie nicht um. Das Syndikat arbeitet seit 2023 gemeinsam mit dem Landesplanungsministerium eine Vision Territoriale aus, um das stetige Wachstum zu koordinieren sowie das lokale Zusammenleben zu stärken. In diesem Rahmen fand die Bürgerbefragung statt.

Für die kommenden Jahre äußerten die Einwohner zudem Bedenken hinsichtlich einer „zu hohen Bauaktivität“, eines „Hinterherhinkens der Infrastruktur“ sowie einer möglichen Zunahme des innerörtlichen Verkehrs. Sie befürchten außerdem, dass aufgrund von „persönlichen Interessen der Politiker, übermäßig konservativem Denken und Populismus“ falsche Entscheidungen getroffen werden könnten. Auch die Gemeinderäte und Schöffen des Kantons kamen im Rahmen von Konsultationstreffen zu Wort. Im Sitzungsbericht wird festgehalten, dass sie die „Grünflächen“ ebenfalls als besondere Qualität der Region betrachten und sich für ein „moderates Wachstum“ aussprechen. Gleichzeitig sehen sie jedoch keine Alternative zum Wachstum: Bevölkerungszuwachs bringt staatliche Beihilfen, wirtschaftliches Wachstum füllt über die Gewerbesteuern die kommunalen Kassen. Auf infrastruktureller Ebene ist die Rede von der Schaffung eines „Begegnungsortes ohne langfristige Verpflichtungen“ – etwa mit einem Bistro, das von einer Art „Seelsorger betrieben wird“, sowie von der Einrichtung eines „regionalen Sportzentrums“, eines Co-Working-Spaces und eines Kinos. Von einer Bibliothek träumt man hingegen nicht – weder die Entscheidungsträger noch die Einwohner/innen. Die Frage nach einer Bibliothek wurde allerdings an anderer Stelle aufgegriffen. Im Mai 2024, während der Bibliotheks-Assisen mit Kulturminister Eric Thill, brachte der Direktor der Nationalbibliothek, Claude Conter, den Vorschlag ein, neue Bibliotheksstandorte im ländlichen Raum zu schaffen – mit Blick insbesondere auf den Westen und Osten des Landes. Das Feedback aus dem ländlichen Raum zeichnet derzeit allerdings ein anderes Bild.

Im Jahr 2001 präsentierte der DP-Abgeordnete und Bürgermeister von Bettborn, Emile Calmes, den Kanton bereits als Erfolgsgeschichte im Bereich der erneuerbaren Energien. In seiner Rede auf dem Bürgermeistertag in Mondorf führte er aus, dass auf kommunaler Ebene im Kanton Redingen eine Energieeinsparung von 4,6 Prozent pro Kopf erreicht wurde, während der Energieverbrauch landesweit um 0,4 Prozent stieg. Bei den Konsultationstreffen wurden die erneuerbaren Energien erneut von Politiker/innen als Stärke hervorgehoben. Inzwischen deckt die Stromproduktion den gesamten Strombedarf des Kantons. Dennoch ist man von einer vollständigen Energieautonomie weit entfernt: Denn nur zehn Prozent des gesamten Energieverbrauchs entfallen auf Strom. Dieser wird aus Wind- und Sonnenenergie sowie aus Biogas gewonnen. Allerdings werden Biogasanlagen zunehmend unrentabel. „Die Erneuerung des Materials ist teuer, aber notwendig, um EU-Normen zu erfüllen“, erklärt der Bürgermeister von Beckerich und Präsident des Syndikats, Thierry Lagoda (déi Gréng). Am 1. Juli wird die Biogasanlage in Beckerich schließen – sie ist eine von fünf im Kanton. Im diesem Jahr sollen jedoch fünf weitere Windräder aufgestellt – erste Materiallieferungen fanden diese Woche statt. „Möglicherweise können sich Privatpersonen hier in Form von Energiegemeinschaften beteiligen und überschüssigen Strom zu günstigen Preisen erwerben“, so Lagoda.

Bei der Frage, welche Bereiche in Zukunft Schwerpunkte des Kantons Réiden bilden sollen, gehen die Prioritäten der Entscheidungsträger und der Bevölkerung im Bereich Tourisms deutlich auseinander. Während die politischen Verantwortlichen darin eine Chance für die Region sehen, spielt das Thema für viele Einwohner/innen kaum eine Rolle. In den letzten zehn Jahren hat der Kanton versucht, sich mit seinen Wander- und Radwegen im Bereich des „Slow Tourism“ zu profilieren. Insgesamt sind 240 Kilometer Radweg befahrbar, wobei die PC12 eine Teilstrecke der EuroVelo-5-Route bildet, die von Rom nach London führt. Thierry Lagoda, erklärt, dass das Différence nach den Umbauarbeiten im vergangenen Jahr wiedereröffnet wurde – diesmal mit zwei Gästezimmern für Touristinnen und Touristen. Die Mushrooms in Useldingen, ein Projekt des Kantons, sind seit 2019 buchbar, das Green Breakfast in Niederpallen seit 2020. In Rindschleiden soll das alte Pfarrhaus demnächst zu einer Unterkunft für Gäste umgebaut werden.

Doch funktioniert dieses Konzept – zieht die Region beispielsweise Radfahrer/innen an? Das bleibt schwer zu sagen. Im Juli und August 2024 wurden an einer Zählstation der PC12 jeweils rund 6000 Radbewegungen registriert – allerdings fehlen Vergleichsdaten aus der Zeit vor 2020, und unklar ist wieviele Toursiten darunter waren. Die Unterkunft Green Breakfast in Niederpallen gibt an, dass bei etwa 11 Prozent der Buchungen auch gesicherte Fahrradstellplätze reserviert wurden. Der Schwerpunkt ihrer Gäste liege auf Wandertouren.
Auf Vorschlag des für die Entwicklung des ländlichen Raumes zuständigen Landwirtschaftsministers Fernand Boden bewarb sich Beckerich im Jahr 1996 um den Europäischen Dorferneuerungspreis. Eine Jury prüfte, inwiefern die Gemeinde den Kriterien für eine dem ländlichen Raum angepasste ökonomische, soziale und ökologische Entwicklung gerecht wird. Bürgermeister Camille Gira nahm schließlich den Preis entgegen. Im Jahr 2014 gewann das Syndikat „De Réidener Kanton“ erneut den Europäischen Dorferneuerungspreis für eine „nachhaltige und mottogerechte Dorfentwicklung von herausragender Qualität“. Wird es der Region gelingen, ein Zukunftskonzept zu entwickeln, das eine weitere Auszeichnung ermöglicht?

Stéphanie Majerus
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