Das Armutsrisiko in Luxemburg ist vergangenes Jahr erneut gestiegen. Die Regierung reagiert mit Geld- und Sachleistungen statt mit strukturellen Reformen. Vielleicht hängt das auch damit zusammen, wie Armut in der Gesellschaft  abgebildet wird

Risiko

d'Lëtzebuerger Land du 21.10.2022

Houfreg Das Risiko, in die Armut abzurutschen, steigt seit Jahren in Luxemburg. Obwohl „dës Regierung (...) schonn an de leschte Jore massiv an nei sozial Leeschtungen investéiert huet“ und wirtschaftliche Interessenvertreter immer wieder betonen, Luxemburg habe den „höchsten Mindestlohn Europas“, ist inzwischen jeder fünfte Haushalt armutsgefährdet. Oszillierte die Armutsgefährdungsquote zwischen 2005 und 2015 um 14 bis 15 Prozent, ist sie in den vergangenen sechs Jahren um fast vier Prozentpunkte auf 19,2 Prozent (2021) gestiegen, seit 2019 liegt sie über dem EU-Durchschnitt. Das geht aus dem Rapport travail et cohésion sociale (TCS) hervor, den das Statec vor einer Woche veröffentlicht hat. Da die Aussagekraft der Armutsgefährdungsquote sowohl in der Forschung als auch in der Öffentlichkeit nicht unumstritten ist, hat das Statec noch andere Indikatoren berechnet, die jedoch in die gleiche Richtung zeigen. Der Ansatz, bei dem zusätzlich zum Einkommen noch Verbrauch und Vermögen berücksichtigt werden, lässt das individuelle Armutsrisiko in der Bevölkerung zwar auf 7,3 Prozent sinken, allerdings beschreibt dieser Indikator eine Situation extremer Armut, in der die Betroffenen weder über ausreichend Einkommen noch über finanzielle Reserven verfügen und selbst mit „externer Hilfe“ kein ordentliches Leben führen können. Gegenüber 2020 ist auch dieser Indikator um 1,7 Prozentpunkte gestiegen. Ein weiterer Berechnungsmodus ist der des frei verfügbaren Einkommens, also was am Ende übrig bleibt, nachdem alle Pflichtausgaben (Wohnen, Versicherung, Telekommunikation usw.) abgezogen wurden. Auch bei diesem Ansatz lag die Armutsgefährdungsquote vergangenes Jahr bei 20 Prozent.

„Ganzer 47 Prozent vun den Depensen am Staatsbudget fléissen a sozial Mesuren. Dorop kënne mir houfreg sinn“, rühmte Premierminister Xavier Bettel (DP) sich und die blau-rot-grüne Regierung vergangene Woche in seiner Rede zur Lage der Nation (eine Anfrage an das Finanzministerium, wie die 47 Prozent an Sozialausgaben sich zusammensetzen, blieb bis Redaktionsschluss unbeantwortet). Viel hatte Bettel zum Armutsrisiko und zur sozialen Ungleichheit in seiner Ansprache nicht zu sagen. Als konkrete Maßnahmen erwähnte er die Erhöhung des Mindestlohns und des Revis um über drei Prozent sowie die Verlängerung der Teuerungszulage und der Energieprämie um ein Jahr. „Fir deene Schwächsten an eiser Gesellschaft an Zukunft nach besser hëllefen ze kënnen“, will die Regierung 50 Prozent mehr Personal in den Sozialämtern einstellen. Armut gilt in Luxemburg als individuelles Schicksal, das gelegentlich in der Zeitung, im Radio und im Fernsehen dargestellt wird (im deutschen Privatfernsehen manchmal auch sehr karikaturistisch). Als strukturelles Problem wird die Armut nicht begriffen. Bekämpft wird sie deshalb mit Geld- und Sachleistungen, mit kostenloser Kinderbetreuung, gratis Schulbüchern und freien Mahlzeiten in der Kantine. „Selektive Sozialpolitik“ wird das genannt. Diese „sozial Selektivitéit“ verhindert, dass die Regierung Steuermaßnahmen ergreift, um Einkommen, Einkünfte und Vermögen gerechter zu verteilen. Der Staat reguliert nicht, er teilt aus.

Suen heem geliwwert Das Statec, das in erster Linie keine politische Mission erfüllt, berät die Regierung und legitimiert mit seinen Berechnungen deren Politik. Zwar konstatierte sein Direktor Serge Allegrezza am Freitag eine „inflation de classe“, weil die einkommensschwächsten 20 Prozent der Bevölkerung wesentlich stärker unter der durch die hohen Energiepreise befeuerten Inflation leiden als die einkommensstärksten 20 Prozent, doch mit der Energiepreisbremse werde dieses Problem weitgehend behoben, meinte Allegrezza. Schließlich war es das Statec, das die Modelle berechnet hatte, die der Tripartite als Verhandlungsgrundlage dienten.

Eine ähnliche Aussage trifft das Statec, wenn es erklärt, dass die direkten staatlichen Zulagen (allocation familiale, allocation de rentrée scolaire, allocation de naissance), die je nach Alter zwischen 100 und 46 Prozent der finanziellen Bedürfnisse von Kindern deckten, einer Familie, die das Revis bezieht, ein adäquates Leben bieten und ihr ermöglichten, an der Gesellschaft teilzunehmen. Laut Familienministerin Corinne Cahen (DP), die das garantierte Mindesteinkommen (RMG) vor vier Jahren an einen Aktivierungsmechanismus gekoppelt hat, damit nicht der Eindruck entsteht, „datt do Leit doheem géinge sëtzen an einfach géinge Suen heem geliwwert kréien“ (RTL), reiche das Minimalbudget samt Sozialtransfers sogar aus, um allen Kindern dieselben Zukunftschancen zu bieten, wie sie bei der Vorstellung des TCS-Berichts verkündete.

Diese politische Aussage entbehrt jedoch jeglicher empirischen Grundlage. Die soziale Mobilität hat das Statec in seinem Bericht nicht untersucht, für eine Längsschnittstudie zum Revis wäre es wohl eh noch zu früh. Laut Allegrezza hätten vergangene Studien aber gezeigt, dass die soziale Mobilität in Luxemburg im Vergleich zu anderen europäischen Ländern immer „ganz ok“ beziehungsweise „ganz staark“ gewesen sei. Dem widersprach die Präsidentin der Sozialämter, Ginette Jones (LSAP), am Mittwoch gegenüber Radio 100,7, als sie meinte, der soziale Lift funktioniere in Luxemburg – anders als noch vor 20, 30 Jahren – nicht mehr.

Secteurs protégés Damals, vor 20 Jahren, als das Statec und die Uni Luxemburg die Bevölkerung noch soziologisch in Bourdieusche Klassen statt volkswirtschaftlich in Einkommensquintile einteilten, fanden sie heraus, dass Menschen mit luxemburgischer Nationalität eine privilegierte Stellung in der Gesellschaft einnehmen, weil ihnen ein exklusiver Zugang zu den sogenannten „secteurs protégés“ wie öffentlicher Dienst, Post und CFL offen steht. Selbst wenn diese „Abschottungsstrategie“ von Luxemburger/innen und „Migrant/innen, die schon seit mehreren Generationen in Luxemburg leben“, heute vielleicht nicht mehr die Bedeutung hat, die sie noch vor 20 Jahren hatte, dürfte die Verankerung in der luxemburgischen Gesellschaft die sozialen Aufstiegschancen noch immer maßgeblich beeinflussen. Persönliche Beziehungen sind statusbildend; Kapital und Vermögen, die den sozialen Aufstieg einerseits kennzeichnen und ihn andererseits weiter begünstigen können, werden über Generationen akkumuliert und weitervererbt.

Wegen des Booms in der Finanzindustrie ist aber davon auszugehen, dass in den vergangenen Jahrzehnten die „classe aisée“ durch HNWI und Expats aus anderen, vorwiegend europäischen Ländern erweitert wurde. Ihr kulturelles und ökonomisches Kapital bringen sie häufig schon mit. Unter der Bezeichnung „Talente“ werden sie von Politiker/innen dazu missbraucht, Steuervorteile für Reiche und eine niedrige oder Nicht-Besteuerung von Kapitalerträgen, Vermögen und hohen Einkommen zu legitimieren. Soziologische Studien darüber, wie sie die Sozialstruktur und die Gesellschaft in Luxemburg verändert haben, wurden bislang nicht durchgeführt.

Studiert werden immer nur die Armen. Zu einer „Reichtumsgefährdungsquote“, die Obergrenzen für gesellschaftlich vertretbare Einkommen und Vermögen festlegt, hat in Luxemburg bislang noch keiner geforscht. Und obwohl Armut politisch als individuelles Phänomen begriffen wird, ist die Wirtschafts- und Sozialforschung dazu unpersönlich, abstrakt und generalisierend: Menschliches Elend wird hinter Zahlenwerten versteckt. Vom Statec wird sie am Medianeinkommen und mit Verteilungswerten gemessen und steril in quantifizierte Quintile oder Dezile gegossen. Etwas sichtbarer wird Armut im von der EU finanzierten nationalen Working-yet-poor-Bericht, der im Juni 2021 von Luca Ratti and Antonio García-Muñoz von der Uni Luxemburg im Rahmen eines europäischen Forschungsprojekts vorgelegt wurde. Als Working Poor werden Haushalte bezeichnet, die nach Transferleistungen weniger als 60 Prozent des Medianeinkommens verdienen, demnach die gleiche Grenze, die das Statec für seine Armutsgefährdungsquote benutzt. Aus dem Bericht geht hervor, dass bei den nicht oder nur wenig qualifizierten Beschäftigten der Anteil an Geringverdienern im Hotel- und Gaststättengewerbe (41,91 Prozent) und bei den administrativen und unterstützenden Dienstleistern (32,34 Prozent) am höchsten ist (zur letzteren Gruppe zählen insbesondere Gebäudereiniger/innen und private Sicherheitsagenten). Der Anteil an Nicht-Luxemburger/innen liegt in dieser Kategorie bei über 70 Prozent. Obwohl die meisten von ihnen ein niedriges Bildungsniveau haben, steigt der Anteil derer mit hohem Schulabschluss seit Jahren, aktuell liegt er bei zehn Prozent. Hoch ist der Anteil an Working Poor laut dem Bericht auch bei (unfreiwilligen) Teilzeit- und Zeitarbeiter/innen, Plattformarbeiter/innen sowie Freiberuflern ohne Angestellte, die vorwiegend in den Bereichen Immobilien, Wissenschaft und Technik, Gesundheit und Soziales oder im Kulturbetrieb tätig sind. Alleinstehende sind stärker von Armut betroffen als Paare; je mehr Kinder im Haushalt, desto höher das Armutsrisiko. Europaweit lag Luxemburg 2019 mit einer Erwerbsarmut von über zwölf Prozent hinter Rumänien und Spanien an dritter Stelle. Alleine in der Gruppe der nicht oder nur wenig qualifizierten Angestellten liegt die Erwerbsarmutsquote fast bei 20 Prozent. Seit 2010 ist der Anteil an Working Poor in Luxemburg um fast 3,5 Prozentpunkte gestiegen, nur Ungarn hat eine höhere Zuwachsrate.

Wissensgesellschaft Noch aufschlussreicher – zumindest auf lokaler Ebene – ist der Rapport social der Stadt Esch/Alzette, der 2003 auf Initiative von André Hoffmann (déi Lénk) erstmals veröffentlicht wurde und vergangenes Jahr unter der Regie des Escher Sozialschöffen Christian Weis (CSV) als Observatoire social neu aufgelegt wurde. Der vom Forschungsinstitut Liser erstellte und in dieser Woche veröffentlichte Bericht für 2021 untersucht die Phänomene Beschäftigung und Arbeitslosigkeit. Die Autor/innen kommen zu dem Schluss, dass der Arbeitsmarkt in Esch zwar boomt, doch die Stellen, die geschaffen werden, vorwiegend nicht mit Einwohner/innen, sondern mit Arbeitnehmer/innen aus anderen Teilen Luxemburgs und der Grenzregion besetzt werden. Nur bei der Gemeindeverwaltung sind die Escher/innen in der Mehrheit. Während große Teile der Bevölkerung der zweitgrößten Stadt Luxemburgs noch vorwiegend proletarisch geprägt sind, richten sich viele der neuen, gut bezahlten Jobs, die insbesondere an der Uni sowie in den Forschungseinrichtungen, Banken und öffentlichen Verwaltungen in Belval entstehen, an hochqualifizierte Arbeitnehmer/innen.

Andererseits hält der Bericht fest, dass gerade an der Uni Luxemburg und an den Forschungseinrichtungen ein neues Prekariat entsteht. In der Kategorie Administration publique, défense, enseignement, santé humaine et action sociale und in der aus Datenschutzgründen zusammengeführten Kategorie Activités spécialisées, scientifiques et techniques/Activités de service administratifs et de soutien ist der Anteil an befristeten Arbeitsverträgen mit 9,3 beziehungsweise 16,4 Prozent am höchsten (bezogen auf die Einwohner/innen der Stadt Esch). Darunter fallen einerseits Forscher/innen und wissenschaftliches Personal, andererseits aber auch Putzkräfte, Kantinenmitarbeiter/innen und Sicherheitsagenten. Betroffen sind vor allem junge Menschen unter 30 Jahren (rund 20 Prozent) und deutsche Staatsbürger/innen (rund 30 Prozent). Mit 2 090 Angestellten hat die Uni Luxemburg inzwischen Arcelor-Mittal (1 350) als größten Arbeitgeber in Esch überholt. Die Forschungszentren Liser (170) und List (250) beschäftigten vergangenes Jahr mehr Menschen als der Zementhersteller Cimalux und die Baufirma Bonaria Frères (jeweils 160).

Aliénation Bei den Assises sociales der Stadt Esch, wo der Bericht am Dienstag von Expert/innen aus dem sozialen Sektor und dem Bildungsbereich besprochen wird, soll nach Lösungen gesucht werden, wie die an kulturellem und ökonomischem Kapital nicht besonders reichen Teile der Bevölkerung Eschs an die boomende Wirtschaft herangeführt werden können. Über zusätzliche Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen wurde schon vergangenes Jahr diskutiert. Eine andere Möglichkeit wäre, Haushalte mit niedrigen Einkommen durch solche mit höheren zu ersetzen. Kurzfristig fehlt es dafür an Wohnungen und Kinderbetreuungsplätzen. Langfristig wird sich das Problem wohl von alleine lösen. Spätrestens wenn die Stadtviertel Rout Lëns und Metzeschmelz gebaut sein werden, wird ausreichend Wohnraum für Familien der oberen Mittelschicht zur Verfügung stehen. Allerdings warnen die Autor/innen des Observatoire social auch vor den Risiken dieser Entwicklung: „Une plus grande attractivité pour une population qualifiée et/ou à fort pouvoir d᾽achat va souvent, sinon toujours de pair avec des problèmes de rélégation urbaine et une certaine aliénation entre les résidents de longue date et leur ville“.

Die Stadt Luxemburg, wo die Gentrifizierung ganzer Stadtteile längst eingesetzt hat, hat übrigens auch ein Observatoire social beim Liser bestellt. Abgeschlossen wird die Studie aber erst nach den Gemeindewahlen.

Luc Laboulle
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