ZUFALLSGESPRÄCH MIT DEM MANN IN DER EISENBAHN

Waisenknabe

d'Lëtzebuerger Land vom 23.05.2025

Ein wenig wurde die Erklärung zur Lage der Nation vergangene Woche zu einer neuen Regierungserklärung. Luc Frieden musste feststellen: „D’Weltuerdnung, déi zanter dem Enn vum Kale Krich besteet, ass um Kippen.“ Die alte Erklärung wurde revisionsbedürftig. Sie war nicht bedeutungslos. Enthielt sie doch die Essentials aller Rechtsliberalen in Brüssel, Paris, Berlin: Steuersenkungen, Deregulierung, Schwächung der Gewerkschaften, „entspannte Klimapolitik“.

Nun legt der CSV-Premier zu: Die Arbeitskraft verfügbarer machen, auch abends, sonntags. Die Lebensarbeitszeit verlängern, jährlich um drei Monate. „De System ofspecken.“ Überdies sei „eng staark Industrie – jo, eng gewësse Reindustrialiséierung – nëmmen iwwert d’Energiepolitik ze erreechen“. Klima ist dabei nice to have.

Seit der Regierungserklärung vor anderthalb Jahren hat sich die Geschäftsgrundlage verändert: Die USA wollen nicht mehr mit Dollar, Welthandelsorganisation, Napalm die Geschäftsinteressen der Kapitalbesitzer aller Länder sichern. Sie wollen ihre ökonomische, militärische Supermacht nur noch zum Schutz der eigenen einsetzen.

„Historesch Allianzen, de weltwäite System vun der Zesummenaarbecht“ sieht Luc Frieden infrage gestellt. Die US-Botschaft auf dem Limpertsberg ist von Schließung bedroht. Mit Fulbright-Stipendien zog sich die US-Regierung Vertrauensleute in den Führungen fremder Länder heran. Luc Frieden war Fulbright-Stipendiat. Nun ist er Waisenknabe.

Die Welt soll neu aufgeteilt werden in Machtzentren, Einflusssphären, Märkte. Russland hat die Ukraine überfallen. Israel vollendet die Nakba. Die USA bedrohen China. Die Europäische Union bläst zum „ReArm Europe“. Jenseits von Wasserbillig erhebt sich der deutsche Militarismus zum dritten Mal: „Bundeswehr soll ‚konventionell stärkste Armee in Europa‘ werden“ (FAZ, 15.5.25), „Deutschland will die NATO anführen“ (FAZ, 16.5.25).

Die Teilnahme am rasenden Rüstungswettlauf beherrschte die Erklärung zur Lage der Nation. Luc Frieden will Militärsatelliten kaufen, um vorzeitig zwei Prozent des Bruttonationaleinkommens zu verpulvern. Vielleicht gibt es einen „Konsens um Nato-Sommet am Juni“ für 3,5 Prozent, mit Gleisen und Rollbahnen zur Ostfront fünf Prozent. Dann werde die Regierung „dee Wee matgoen“. Mit „Prioriséierung“, Rüstungsfonds, Kriegsanleihen. Nicht weil jemand das Großherzogtum bedrohte. Sondern „well mer e gréissere Reputationsschued vu Lëtzebuerg wëllen evitéieren“ (Radio 100,7, 15.5.25). Reputation ist die Achillesferse einer Steueroase.

Der Premier untermalte die Militarisierung mit neuen Buzz-Wörtern: „Souveränitéit“ (18 Mal), „Stabilitéit“ (elf Mal). Mit einem Hauch Carl Schmitt heißt die nationale Wettbewerbsfähigkeit seit vergangener Woche „Souveränitéit“. Globalisierung heißt plötzlich „exzessiv Ofhängegkeet vun aneren“. Die Verstaatlichung privater Investitionskosten „fir d’kënschtlech Intelligenz a fir d’Quantentechnologie“ wird unter „digital Souveränitéit“ verbucht. Das Gebot der Stunde scheint Renationalisierung im Rahmen der Europäischen Union zu sein.

Als Stabilität versprechen Konservative die Wahrung alter Macht- und Eigentumsverhältnisse. Stabilität soll eine Stärke „vun eiser Finanzplaz sinn och fir esou een ‚data hub‘“. CSV und DP wollen die Strompreise „nohalteg stabiliséieren“. Den Klassenkompromiss der Tripartite haben sie längst aufgekündigt. Doch Dialog und Zusammenarbeit sollen weiterhin bleiben, „wat mir oft Stabilitéit nennen“.

In Kriegszeiten wird Stabilität zum Lob von Stärke, Härte, Zähigkeit. Verweichlichte Luxair-Urlauber sollen durch Resilienz zu stahlharten Preppern werden. Vielleicht soll der Survival Kit ihnen einmal Kollektivvertrag, Demonstrationsrecht, Sonntagsruhe, Altersrente ersetzen.

Romain Hilgert
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