Wenn Kinder und Jugendlichen Unvorstellbares zustößt, soll der Staat sie schützen. Augenscheinlich bleibt viel zu tun

Blackbox

Les briques
Foto: Charl Vinz
d'Lëtzebuerger Land vom 06.06.2025

Ein Fall von sexuellem Missbrauch in der Familie hat die letzten Wochen Diskussionen um Kindeswohlgefährdung und den Schutz von Minderjährigen angekurbelt. Allen voran die Tatsache, dass die Zeit, die zwischen den signalements und den tatsächlichen Gerichtsurteilen verstreichen, außerordentlich lang ist. Im rezenten Fall dauerte es drei Jahre, bis festgestellt wurde, dass die pädophile Störung sich auch durch Handlungen am eigenen Kind äußerte, sechs Jahre bis zur Verurteilung in der ersten Instanz. Jede Woche flattern neue Dossiers auf die Schreibtische der Kriminalpolizei. Dort kümmern sich circa zwanzig Leute um sexuellen Missbrauch. Tagein, tagaus befassen sie sich mit Hunderten Akten und mit der Sichtung von verstörenden Daten im Rahmen der Pädokriminalität. 

David Lentz, stellvertretender Staatsanwalt, erklärt die Verzögerungen in einem Gespräch mit dem Land mit einem Mangel an Personal. Die Zivilgesellschaft, insbesondere die Vereinigung La Voix des Survivantes (LVDS) lässt dieses Argument nicht gelten. „Was kann es Wichtigeres geben, als den Schutz von Kindern und Jugendlichen?“, entgegnet Ana Pinto von LVDS. Tatsächlich gibt es beim Kinderschutz hierzulande viel Lippenbekenntnis und wenig übergreifende Maßnahmen. Mangels gesetzlicher Basis werden Vereine oder Arbeitgeber nicht über laufende Ermittlungen informiert. Der Gesetzesentwurf Jucha 7882B, den die grüne Justizministerin Sam Tanson hinterließ, soll den Datenaustausch zwischen unterschiedlichen Akteuren vereinfachen. Eine unabhängige Kommission zu sexueller Gewalt wie im Ausland gibt es in Luxemburg nicht. Mehrere Assoziationen im Kinderschutzbereich fordern sie. Claude Schmit, Ombudsman für Kinder und Jugendliche, nannte den Kinderschutz Anfang der Woche im Wort in weiten Teilen immer noch eine „Blackbox“.

Sexuelle Gewalt an Minderjährigen zieht sich durch alle Gesellschaftsschichten und Kulturen. Eine Studie des Deutschen Zentrums für psychische Gesundheit kam diese Woche zum Schluss, dass jede fünfte Frau als Minderjährige Opfer sexualisierter Gewalt wurde, 4,8 Prozent der Männer. Das Planning Familial hat vergangenes Jahr 127 Betroffene begleitet, davon zwei Männer. Laut seinem Jahresbericht haben 65 Prozent der 127 Personen vor ihrer Volljährigkeit sexuelle Übergriffe erlebt. Dabei sind die Täter/innen meist Familienmitglieder oder aus dem näheren Umfeld der Betroffenen.

Seitdem es das Internet gibt, hat sich die Kriminalität auch dorthin verlagert – allen voran Männer suchen sich dort entsprechendes Material. Die britische NGO National Society for the prevention of cruelty to children (NSPCC), empfiehlt, das Wort Kinderpornografie nicht zu benutzen, da es eine Normalisierung dieser Inhalte vorantreibe, und stattdessen den Fokus auf den Missbrauch zu setzen: child sex abuse material. Globale Netzwerke koordinieren die Produktion solcher Videos und Fotos und verteilen sie; große Polizeiaktionen sollen ihnen den Garaus machen. Es wachsen dauernd welche nach. KI wird sowohl bei der Generierung der Inhalte eingesetzt als auch behilflich sein, was die Identifizierung der Daten angeht.

Nicht alle Menschen, die sich im Darknet solche Inhalte herunterladen, vergreifen sich an Kindern. Sexualstraftäter haben unterschiedliche Profile, fest steht, dass es zu etwa 90 Prozent Männer sind. Einer australischen Studie zufolge ist das Risiko, selbst sexuell missbraucht worden zu sein, bei Männern mit sexuellen Gefühlen gegenüber von Kindern, die zur Tat übergehen, mehr als sechsmal so groß wie bei jenen, die keine solchen Gefühle haben oder Kinder missbraucht haben. Täter arbeiten eher mit Kindern, sind sozial besser vernetzt und verdienen besser. Im kleinen Luxemburg scheint man gerade zu entdecken, dass Menschen Doppelleben führen können. In Anbetracht des hohen Prozentsatzes an Opfern, die zu Tätern werden, ist Prävention fundamental – neben Aufklärung an Schulen und einem offenen Diskurs gilt es auch, entsprechende Neigungen früh psychiatrisch und psychologisch zu begleiten. Das Angebot dafür steckt hierzulande noch in Kinderschuhen.

Unverständlich ist Ana Pinto (LVDS) und Eolia Verstichel, Vizepräsidentin des Vereins Innocence en Danger (IED), weshalb Betroffene „lebenslänglich“ bekommen und Täter oft mit Bewährungsstrafen davonkommen. Innocence en danger ist seit 2024 die luxemburgische Anlaufstelle einer französischen Kinderschutz-Organisation. Im Ausland kann sie Opfern in Prozessen als Nebenkläger beistehen. Auch hier ist das ihr Ziel für die kommenden Jahre.

LVDS und IED fordern wie der nationale Frauenrat eine Umkehr der Strafprozessordnung. Derzeit sieht sie vor, dass Richter nur rechtfertigen müssen, wenn sie eine Freiheitsstrafe ohne Bewährung anordnen – dabei solle es umgekehrt sein. Eolia Verstichel und Ana Pinto wollen auch dafür sensibilisieren, dass die Scham und Bestrafung die Opfer immer noch wesentlich mehr treffen als die Täter – und das ändern. Minderjährigen werde immer noch viel zu wenig geglaubt, wenn sie sich dazu überwinden, über das Erlebte zu sprechen.

Ebenso ist es für die Öffentlichkeit in weiten Teilen nicht nachvollziehbar, dass Kinder im Zuge solcher Verfahren bei einem Täter-Elternteil gelassen werden. Besteht eine Gefährdung des Kindeswohls, ordnet die Staatsanwaltschaft eine enquête sociale an. Zuständig dafür ist der Service central de l’assistance sociale (Scas). Das Team, das sich um diese Ermittlungen kümmert, zählt 54 Mitarbeiter: 49 Sozialarbeiter/innen, drei Psychologen und zwei Kriminologen. Sozialarbeiter sollen im Familienumfeld ermitteln, ob eine akute Gefährdung des Kindes besteht. Zu Beginn einer Ermittlung setzt sich ein Sozialarbeiter mit einem Psychologen zusammen, um eine Notfallstufe zu definieren, die vom Alter des Kindes, der Präsenz von anderen Professionellen und der Situation abhängt. Danach kümmert sich meist ein Sozialarbeiter um den Fall, kontaktiert etwa das Centre psycho-social et d‘accompagnement scolaire (Cepas), Menschen aus dem Umfeld des Kindes, die Schule. In „komplexen“ Situationen könne es mehr als ein Scas-Sozialarbeiter sein, teilt die Justizverwaltung mit. Sind die Menschen, die solch weitreichende Entscheidungen treffen, dafür ausreichend ausgebildet? Ein „pluridisziplinärer Austausch“ fände permanent statt, ebenso wie regelmäßige Supervision und Weiterbildungen, heißt es aus der Justizverwaltung.

Besteht keine Kindeswohlgefährdung, dürfen Betroffene weiter in ihrem Familienumfeld bleiben. Psychiatrische Begleitung und andere Maßnahmen können angeordnet werden. Staatsanwalt David Lentz versteht nicht, warum die Öffentlichkeit darauf beharrt, dass in solchen Fällen „Kinder von ihren Eltern getrennt werden sollen“, wenn keine Gefahr mehr besteht, erklärt er im Gespräch mit dem Land. Kinder hätten „ein Recht auf ihre Eltern“. Eolia Verstichel (IED) findet diesen Gedankengang „völlig unbegreiflich“: „Wie soll ein Kind Heilung erfahren, wenn es weiter beim Täter bleibt? Wer kann garantieren, dass die Übergriffe nicht wieder anfangen?“

Die Justiz erklärt den Kinder- und Jugendschutz zur Priorität. Eine Psychologin mit viel Erfahrung im Bereich der sexualisierten Gewalt bestätigt, die Schutzfrage sei „extrem wichtig“. „Wir machen keine Therapie mit Opfern, damit sie eine schlimme Lebenssituation besser aushalten.“ Der Schutz sei wesentlich für den Heilungsprozess, und beinhalte auch psychologischen Schutz: vor Nachrichten, vor Macht und Einfluss, vor einer toxischen Beziehung – sonst könnten Opfer sich weiter in einer ungesunden Ambivalenz bewegen. Das bedeutet, insbesondere im Familienkontext, dass Loyalität und Bindung gegenüber vom Täter trotz Gewalttaten oft weiter bestehen. „Wenn wir mit Betroffenen arbeiten wollen, dürfen wir nicht ambivalent sein, sondern klar auf der Seite der Opfer.“ In der Praxis sehe sie, dass sich Täter, wenn es Väter sind, meist zurückziehen, und Mütter sich trennen und den Kontakt abbrechen. Jede Situation sei anders und verlange eine minutiöse Analyse, erläutert sie.

Konsequenzen von sexualisierter Gewalt an Kindern und Jugendlichen können Angstzustände und Depressionen sein, Ess- und Borderlinestörungen, erhöhtes Risiko für Suchtkrankheiten sowie niedriges Selbstwertgefühl. Doch nicht immer sind Konsequenzen sichtbar pathologisch. Sexueller Missbrauch kann auch Bindungsprobleme und extreme Opferbereitschaft zur Folge haben. Eindrücklich zeigt ein rezentes Buch der Autorin Helene Bracht, Das Lieben danach, wie die Folgen sich durch das erwachsene Leben eines Menschen ziehen und sich insbesondere in den eigenen Liebesbeziehungen widerspiegeln. Wie das Selbstbild auf perfide Weise untergraben wurde, Sexualität und Begehren der Opfer überschrieben werden mit einer Erfahrung, die sie oft ein Leben lang zu entwirren und zu verstehen versuchen. Ist der Täter Teil der eigenen Familie, wird der Heilungsprozess umso komplizierter. Je näher diese Person dem Minderjährigen steht, desto schwerwiegender ist der Loyalitätskonflikt.

In einer deutschen Studie der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindermissbrauchs wird der Tatkontext Familie erörtert. Ideen von der Familie als sakrosanktem Ort, in den man nicht eindringen darf, stehen Aufarbeitungen im Weg: „Die Bereitschaft, auch auf Seiten von sozialpädagogischen Fachkräften, den Beteuerungen von Müttern und Vätern zu glauben, war und ist verbreitet. Eine entscheidende Frage ist deshalb, wie der Schutz von Kindern und Jugendlichen gelingen kann, ohne das Recht auf Privatsphäre zu verletzen. (…) So ist zu klären, ob sozialpädagogische Fachkräfte etwa aus dem Allgemeinen Sozialen Dienst sich bei der Fallbearbeitung vielleicht zu oft an der inneren Überzeugung orientieren, dass letztlich doch die Herkunftsfamilie der beste Ort für ein Kind sei.“ Die Familie könne zu einer „gierigen Gemeinschaft werden, in der Autonomie nicht möglich ist, in der es keine sicheren Rückzugsmöglichkeiten und aus der es vor allem keinen selbstbestimmten Ausstieg gibt“. Die Familie aber bleibt im Gegensatz zu einem Sportverein oder einer Schule „immer ein existenzieller Teil der eigenen Biografie, zu dem man sich verhalten muss“.

Auch die Presse hat sich zu sexualisierter Gewalt zu verhalten. In Luxemburg tat sie es in Teilen auf völlig verantwortungslose Weise, indem sie einem Täter praktisch ungefiltert eine Plattform bot. Fünf Tage später publizierte die am meisten gelesene Tageszeitung dann halbherzige Entschuldigungen. Im Deontologie-Kodex verpflichtet sich die Presse zur „allergrößten Sorgfalt für den Schutz von Minderjährigen“. Die Berichterstattung soll demnach keine Identifizierung der Betroffenen zulassen. In den Leitfäden für eine betroffenensensible Berichterstattung der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindermissbrauchs in Deutschland heißt es: „Deadlines oder der Druck, eine besonders packende Story aufschreiben zu wollen, können dazu führen, dass man unkonzentriert ist oder sich auf einzelne emotionale Aussagen stürzt. Ein solches Verhalten kann das Vertrauen von Betroffenen verletzen. (…) Clickbaiting und betroffenensensible Interviewführung schließen sich gegenseitig aus.“ Der deutsche Pressekodex diktiert: „Die vom Unglück Betroffenen dürten grundsätzlich durch die Darstellung nicht ein zweites Mal zu Opfern werden.“

Sarah Pepin
© 2025 d’Lëtzebuerger Land