Die kleine Zeitzeugin

Hilfe, ich brauch Kunst!

d'Lëtzebuerger Land vom 06.06.2025

Plötzlich hab ich so einen Hunger. Auf Kunst. Ganz schlimm. Ich brauch sie, sofort. Ich schlage einen Bildband auf. Einen von denen, die da gemütlich vor sich hin verstauben. So einen 9.99.-Bildband, wie es sie in den Wühlkisten am Eingang der Buchhandlungen gibt. Den hab ich schon ewig. Reingeschaut quasi nie. Cézanne. Ok. Ich schlage auf. Und dann.

Schock. Sie ist da. Sie steht da. Im Wind. Beatmet. Sie atmet. Der Wind. Der Wind ist in ihr. Sie ist im Wind. Fährt ihr in die Glieder, ins grüne Haar. Durch sie durch. Durch und durch durch sie durch. Die große Kiefer. So heißt das Bild. Der Maler heißt Cézanne. Ein großer Maler. Sagt man. Ich kenne ihn kaum. Er gehörte nicht zu denen, die mich faszinierten. Er starb nicht im Irrenhaus oder an Syphilis auf einer Südseeinsel, er hatte sich nicht mal ein Ohr abgeschnitten oder sonst was, seine Bilder waren nicht Feuer und Flamme. Er war keine Frau, die der Kunstwelt Föten an Nabelschnüren präsentierte. Er malte meist am selben Ort, er malte Äpfel und einen Berg, der nicht davonlief. Für die Kraft und den ruhigen Realismus, der von den Bildern ausging, war ich nicht empfänglich.

Jetzt schon. Das Bild ist einfach. Elementar. Ein Baum im Wind.

Der Wind geht schon stark. Das Feld ist abgeerntet. Im Himmel taucht Schwärze auf. Sturm vielleicht bald. Die Kiefer steht fest, aber sie macht mit. Was dem Wind so einfällt, sie lässt sich treiben, genüsslich.

Das ist jetzt mein Bild. Das bin ich. Das bin jetzt ich. Das häng ich mir aufs WC. Oder übers Bett. Oder nirgendwohin. Kunst, um zu sich zu kommen. Wieder zu sich zu kommen. Wohin denn sonst? Alles ist ausgebucht. Wie kommt man zu Gott, bitte? Was sagt das Navy? Was sagt Meta? Was sagt Alexa oder wie sie alle heißen? Ich frage mal die innere Stimme, die gibt es ja auch noch, alte Analoge mögen sich erinnern. Sie ist zwar etwas verschüttet, die innere Stimme, in dem Getöse kommt sie ja auch kaum zu Wort. Religion, Liebe, Sex, Natur und Kunst führen zu dir bzw. zu Gott höchstunpersönlich, doziert die innere Stimme, hierarchisches Denken ist nicht ihre Kernkompetenz. Eben. Klar. Logisch.

Ich möchte bei der Kiefer sein. Mit der Kiefer sein. In der Kiefer sein. Ich möchte die Kiefer sein. Das ist Liebe. Die Diagnose ist Liebe. Was sonst? Und es geschieht etwas mit dir, und du weißt nicht wie dir geschieht. Es sträuben sich auf den Armen die Härchen, Gänsehaut heißt es auf profan, das Herz ist außer Rand und Band, es trifft dich der Coup de Foudre oder gar die schröckliche Kafka-Axt, du schmilzt und gehst unter. Es ist schrecklich schön. Plötzlich bist du eine andere, und hast aber das Gefühl noch nie so du selber gewesen zu sein.

Jetzt reicht es aber mit dem Kieferkitsch, mit dem Liebespathos, mit der umwerfenden Kunst! Manchmal ist es einfach nur Energy. Einmal, lange ist’s her, niemand redete noch von Nolde-Nazi, so konnte ich einfach nur dastehen und sehen, gehe ich kaputt in eine Nolde-Ausstellung und komme ganz wieder raus. Energetisch superaufgeladen. Das passiert bei Anselm Kiefer der mir den Atem raubt um ihn mir tausendfach zu schenken, oder bei den Gesängen der Walfische in den Weltmeeren. Das passiert, wenn ich Jelinek lese oder Bachmann, in Melancholia von Lars von Trier, das passiert bei Bob Dylan und bei Marina Abramovic und bei Bildern der luxemburgischen Malerin Simone Schwartz. Das passiert einfach so. Bei einem Graffiti, bei einer Kinderzeichnung. Ein Schwall, ein Schub Energie. Power.

Oder auch nur Trost. Heilung durch Schönheit. Wir brauchen das. Gerade jetzt. Dass wir nicht nur noch aus Magengeschwüren und Paranoia bestehen während wir Panzer liken oder doch lieber haten, soll ich, soll ich nicht?

Und morgen ist die Kiefer vielleicht nur eine Kiefer. Eine wie sonst eine, und der Wind ist ein Wind und der Himmel ein Himmel wie andere Himmel auch. Sie ist ein bisschen unscheinbar, und es gibt Millionen Baum-Bilder, und dann schaust du auch noch genau hin, zu genau, und du siehst Fratzen aus dem Laub wachsen, und aus dem Wald wuchert es schwarz und du willst weg von ihr. Du hast sie satt.

Der Hunger der Kunst-Barbarin ist gestillt. Es war gut.

Michèle Thoma
© 2025 d’Lëtzebuerger Land