Die ADR bekommt wieder Fraktionsstärke. Psychogramm eines Wahlabends und seiner Nachwehen

Mittelprächtig bestätigt

Alexandra Schoos (rechts) und ihr Vater Jean Schoos am Wahlabend im The Spot
Foto: Sven Becker
d'Lëtzebuerger Land vom 13.10.2023

Am verschlafenen Montagmorgen waren sich die großen Parteien im 100,7 nicht einig, ob man den gewonnenen Sitz im Osten für die ADR als Rechtsruck bezeichnen kann oder nicht. Francine Closener, Parteipräsidentin der LSAP fand es „ganz erschreckend“, wieviel Zuspruch die Partei erhalten habe, Djuna Bernard, Ko-Parteipräsidentin der Grünen, gab es zu denken. Claude Wiseler, Ko-Parteipräsident der CSV, beschwichtigte und relativierte, DP-Generalsekretärin Carole Hartmann wollte sich nicht festlegen und sich auf die parteieigenen Resultate konzentrieren.

Am Abend davor, als die Sonne hinter der Gëlle Fra versank, und die Dunkelheit langsam begann, die Oberstadt einzulullen, deuteten erste Resultate auf einen haushohen Sieg der ADR hin – bis die Einzelstimmen dieses Bild relativierten. Um 20.07 Uhr, als die Politiker/innen auf der Terrasse der Sportbar The Spot standen, Bier tranken und Zigaretten rauchten, den Blick frei auf die Gëlle Fra, wird klar, dass Alexandra Schoos ins Parlament gewählt wurde. Großer Applaus bricht aus, die Parteispitzen liegen sich in den Armen „Yes! Mir hunn ën!“ rufen der Abgeordnete Fernand Kartheiser, Adrenalin-Präsident Maks Woroszylo, Parteipräsident Fred Keup, Mitglieder und Sympathisanten. „Lexy, Lexy, Lexy, Osten, Osten, Osten!“ Mit Tränen in den Augen umarmt die Tierärztin ihren Vater, den Ehrenpräsidenten Jean Schoos. Zum ersten Mal wird eine Frau die ADR im Parlament vertreten.

Die Partei um Fred Keup hat landesweit knapp einen Prozentpunkt hinzugewonnen, den 2009 verlorenen Sitz im Osten zurückbekommen und erreicht mit fünf Sitzen Fraktionsstärke. Die regionalen Abweichungen sind bezeichnend: Einen Rechtsruck gab es im Nordbezirk, besonders in den Ortschaften nördlich des Stausees, wo die Partei traditionell gute Resultate holt. In den Gemeinden Vichten, Reisdorf, Winseler, Kiischpelt und Goesdorf konnte die ADR sich um mehr als fünf Prozent im Vergleich zu 2018 verbessern; den größten Zuwachs landesweit gab es in Vichten mit einem Plus von 6,83 Prozent. In der kleinen ländlichen Gemeinde Kiischpelt (1 248 Einwohner/innen) legte die Partei ihr bestes nationales Resultat hin und landete mit 18,1 Prozent gleich hinter der CSV. Sozioökonomisch ist die Kommune eher schwach. (Siehe S. 8)

Im Ostbezirk stagnierte die ADR mehr oder weniger, wobei sie in Berdorf, Befort, Consdorf, Stadbredimus (wo die Partei den Bürgermeister Robi Beissel stellt) und Dalheim zulegte. Auch im Zentrum sind die Resultate stabil geblieben, am meisten verloren hat die Partei in Colmar-Berg (-4,45 Prozent). Landesweit haben nur in Niederanven, sozioökonomisch ganz weit vorn, weniger als fünf Prozent die ADR gewählt. Im Südbezirk verlor die Partei am meisten in Fred Keups Wohngemeinde Garnich (-4 Prozent) und in Gast Gibéryens hometurf Frisingen (-3,98 Prozent). Die größten Zugewinne gab es dort in den sozial schwächeren Städten Petingen (+4,01 Prozent auf 10,92 Prozent), Differdingen (+3,15 auf 11,98 Prozent), Rümelingen (+4,41 auf 12,19 Prozent) und Esch/Alzette (+2,98 auf 10,11 Prozent).

Falls es desillusionierte, weniger gut situierte Arbeiter/innen sind, die die ADR gewählt haben, finden sich diese Leute nicht im The Spot wieder, wo Luxemburg-Fähnchen, und „Lëtzebuerg gär hunn“-Plakate stehen und die Mehrheit Anzug trägt. Hinter dem Tresen schenken gepiercte und tätowierte Kellner Getränke aus. Sie sprechen kaum Luxemburgisch. „Ech wëll e Pinot Gris”, entgegnet ein Gast. Der Kellner schlägt ihm Chardonnay vor. „Je veux du vin luxembourgeois!“, wiederholt der Mann mit Verve. Es ist der heiterste Moment des Abends.

Alex Penning, Generalsekretär und Ko-Spitzenkandidat im Zentrum, hastet umher. Er wisse nicht genau, wer seine Partei wählt, sagt er. Durch Fokus und Liberté habe man keinen einfachen Stand gehabt. Sein Parteikollege Tom Weidig, Gemeinderat in Luxemburg/Stadt, wird heute Abend ins Parlament gewählt. Gemeinsam mit Fred Keup schrieb er vergangenes Jahr das programmatische Buch Mir gi Lëtzebuerg net op – Auflösungserscheinungen einer kleinen Nation, in dem sich die Autoren in Thilo-Sarrazin-Manier die Frage stellen, ob Luxemburg gerade dabei sei, sich abzuschaffen. Es geht darin auch um eine vermeintlich homogene luxemburgische Identität, um Sprache und die Gefahren endlosen Wachstums. Beide waren führende Kräfte beim „Wee 2050“.

Eine klare Abgrenzung zur Rechtsradikalität zu finden, wie sie Reichsbürger in Deutschland pflegen, war in den letzten Wochen vermehrt zum Problem für die Partei geworden. Die Affäre um den ehemaligen Ost-Kandidaten Alain Vossen mit Nazi-Sympathien; das Profilbild von Dan Hardy, das den Reichsbürgern zuzuordnen war und die (später von Fernand Kartheiser abgestrittene) Verbindung zur religiösen und rechtsextremen Civitas. Kurz vor den Wahlen erklärte Fred Keup dann im Radio 100,7, das Profilbild seines Parteikollegen sei ihm „wurscht“, und die „Meinung“ des Journalisten – womit das Postfaktische endgültig in die Luxemburger Politik Einzug hielt. Am Tag nach den Wahlen wiederholte er im RTL-Radio noch einmal, die Vorwürfe seien ihm wurscht, Dan Hardy habe die Symbolik nicht gekannt. Die neue Abgeordnete Alexandra Schoos schlug am Dienstagmorgen im 100,7 andere Töne an: Die Partei sei liberal und konservativ, sie persönlich distanziere sich von Rechtsextremismus. Sie wolle das auf keinen Fall „runterspielen“ und „sie werde ein Auge draufhalten“. Alt und verstaubt sei die Partei nun nicht mehr, sagte Alexandra Schoos. Es bedeute ihr viel, die erste Frau der ADR im Parlament zu sein.

Die Atmosphäre im The Spot ist nur punktuell euphorisch. Besonders viel Jubel gibt es, als Fred Keup live auf RTL die Wahlergebnisse bespricht. Kurz bevor der Parteipräsident auf Sendung geht, ruft ihm der Nord-Kandidat Michel Lemaire zu: „Vergiss nicht, du bist sterblich!“ Fred Keup antwortet: „Das sagt ein Sklave.“ Ein Exkurs ins antike Rom, und eine Huldigung an Keup als Feldherr. Der Abend plätschert weiter vor sich hin, es gibt Lachs-Spießchen und Tomate-Mozzarella-Sticks, Bacalhau-Häppchen und später Nutella-Pfannkuchen. Der Altersdurchschnitt ist hoch, periodisch ziehen sich die Parteispitzen auf den Bürgersteig vor die Terrasse zurück, um zu diskutieren und Zigarren zu rauchen.

Zwei Schüler wurden damit beauftragt, im Rahmen eines Schulkurses über die ADR zu recherchieren. In diesem Zusammenhang stehen sie draußen neben Frederic Becker, Präsident von ADR-International. Er trägt eine rote Krawatte und einen Pin auf dem „Proud Republican“ steht. Luxemburg findet er schön, die Mentalität sei eher norddeutsch, die Menschen bräuchten etwas Zeit, um aufzutauen, dann fände man hier Freunde fürs Leben. In jeder Gesellschaft gebe es Verlierer und Gewinner. Hat es je funktioniert, die Schere kleiner zu machen, und sie zusammenzubringen?, fragt Frederic Becker rhetorisch. Um dann gleich hinterherzuschieben, Armutsbekämpfung sei wichtig und wie schlimm es sei, dass in einem Land wie Luxemburg Menschen auf der Straße lebten. Die Partei erklärt seit jeher, sozial zu sein und sich für die „kleinen“ Menschen einzusetzen. Wie das in der Praxis aussieht, lässt sich an einem aktuellen Beispiel gut schildern. Der Abgeordnete Fernand Kartheiser reichte vor drei Monaten ein Gesetzesprojekt ein, das die automatische Verlängerung von Mietverträgen infrage stellen und den Eigentümern mehr Macht zusprechen soll, auch im Fall von Kündigungen wegen Eigenbedarf. Der Staatsrat schrieb am Dienstag in seinem Gutachten dazu, dass dieser Vorschlag „eine gewisse Zahl an sozialen Errungenschaften infrage stelle“. Da Mieter und Vermieter vor einer Verlängerung erst eine Vereinbarung finden müssten, würde das für die Mieter ein „réel risque de précarité“ darstellen, da die Unterkunft ihnen nicht gesichert sei – vor allem in der gegenwärtigen Wohnungskrise, die das Land erfährt, schreibt der Staatsrat weiter.

Bereits in den 90-er-Jahren empfahl sich die Partei als Heilsbringer für komplexe Probleme, auch wenn die Baustellen damals andere waren. 1999 erkämpfte sie dann sieben Abgeordneten-Mandate. In den Diskussionen um die Renten im privaten und öffentlichen Dienst war auch schon vor dreißig Jahren das Wir-gegen-Sie-Denken zu erkennen, das die Partei bis heute prägt. Die ADR kultiviert ihr „Anderssein“. Der frühere Abgeordnete Robert Mehlen schrieb 1994 im Land, die demokratischen Institutionen würden unter der „muffigen und sauerstoffarmen Luft der Parteienherrschaft und Filzokratie“ leiden. Das dann doch ziemlich eigenartige Ziel für diese Nationalwahlen war es, „stärker als die Grünen zu werden“ – und dieses Ziel sei erreicht worden, so Fred Keup am Wahlabend. Mit den Grünen könne man nun „flott Debatten“ in der Opposition führen. Ein lebenslanger Grünen-Wähler sitzt draußen auf der Terrasse. Er fällt auf, passt irgendwie nicht hierher. Es ist Christian Grégoire vom Kollektiv Fräi Liewen, Organisator der Marche blanche, der „die Grünen und ihre Werte nicht mehr wiedererkennt“. In seinen Ausführungen beruft er sich oft auf den ehemaligen grünen Abgeordneten Jean Huss, der ebenfalls regelmäßig bei den Demos das Wort ergriff. Grégoire sei nicht mit allem im Programm der ADR einverstanden, sagt er, aber das wäre bei jeder Partei so gewesen. Die Pandemie und ihre Konsequenzen trumpfen über alles andere.

Alle Anwesenden im The Spot pflegen ein Opfernarrativ gegenüber den Medien. Die Presse behandle die ADR ungerecht. Sie wollen vermehrt darauf reagieren. Durch die Wahlresultate fühlt sich die ADR nun vom „Vollek“ bestätigt. „Das Luxemburger Wort wird vielleicht noch der Todesanzeigen zuliebe gelesen, aber die Menschen lassen sich nicht mehr manipulieren von der Berichterstattung“, erklärt der ehemalige Abgeordnete Gast Gibéryen, der 1987 zu den Gründungsmitgliedern der Partei gehörte. Hat sich die ADR nach rechts bewegt? Überhaupt nicht, behauptet er lautstark, ein Humpen in der Hand, sie sei lediglich „präziser“ geworden. Den Mann, der neben ihm steht und etwas sagen will, unterbricht er zornig: „Sief roueg! Ech schwätzen elo!“

Sarah Pepin
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