Kommenden Januar will die Confiserie Namur wegen der finanziellen Schieflage ihr Traditionshaus in der Kapuzinergasse aufgeben und in ein neues, dem Konsumverhalten angepasstes Lokal umziehen

Ein Abschied

Foto: Olivier Halmes
d'Lëtzebuerger Land vom 18.07.2025

Das Treppenhaus ist versperrt, der großzügige Saal mit den Sitzbänken im Obergeschoss schon länger nicht mehr zugänglich – dafür, seit einiger Zeit, ein Bibliotheksraum rechts von der Einkaufstheke, von wo aus man in einiger Entfernung zum Eingang, inmitten eines über die Generationen bewahrten Kaffeehausmobiliars, wunderbar ruhig und von jeglicher Musikbeschallung ungestört lesen und plaudern kann. Schließlich überließ man den vorderen, unmittelbar rechts vom Eingang gelegenen, kleineren m’as-tu-vu-Saal in der Regel Touristen oder älteren Jahrgängen, die sich weniger daran störten, von vorbeihuschenden Spaziergängern angestarrt zu werden und dem Hause Namur unfreiwillig als Auslage zu dienen.

Es ist aber gerade dieser, wohl ursprünglich als Bar für eiligere Gäste geplanter Saal, der dem Besucher am eindrücklichsten vermittelt, dass die Seele dieses Ortes irgendwann in den letzten Jahren verloren gegangen sein muss. Auf einer nun maximal ausgelasteten Fläche stehen Tische und Stühle verschiedenster Gattungen und Formen, scheinbar lieblos zusammengewürfelt bis an die Bestelltheke. Der Blick streift Bilder aus der mehr als anderthalb Jahrhunderte alten Geschichte des Hauses Namurs, einen alten Stich mit einer ungewohnten Sicht auf die Place Guillaume, um am Anblick eines durch die halbgeöffnete Tür hinter der Bar sichtbaren schwarzen Plastikmüllsacks haften zu bleiben. Auch ein halbkreisförmiger Stehtisch um das Eckfenster, in dem wie eingerahmt die gegenüberliegende Paterekierch erscheint ist durch Tische und Stühle blockiert. In einem großen Fenster daneben wartet stumm und zwecklos, wie auf seinen Verkauf, ein Eiskühler auf seinen sommerlichen Einsatz, bevor dann am kommenden Januar endgültig Schluss ist.

Dann nämlich schließt das Stammhaus in der Rue des Capucins, und damit nicht nur ein aussergewöhnlicher Ort, sondern ein Stück Stadt, das man irgendwie ins Herz geschlossen hatte. Nicht weil es so gut war, sondern weil es existierte. Es war ein Ort, der vieles hätte sein können, aber nie war – und doch fehlt er schon jetzt. Wie die Geschäftsführerin Anne Nickels vor Kurzem gegenüber RTL bekannt gab, will man zwar am Konzept „Traditionsgeschäft“ festhalten und dafür einen Teil des Mobiliars in das neue Lokal überführen, man will sich in Zukunft aber verstärkt nach dem Konsumverhalten eines „jungen“ Publikums ausrichten. Sprich: vermehrt auf Produktion und Vertrieb setzen, auf to-go und dafür weniger auf Geschäftsfläche und geselliges Beisammensein.

Dabei hatte das Stammhaus im Grunde vieles, was man sich von einer klassischen Konditorei erwartet und auch jüngere Generationen in Zeiten von Home-Office, einengenden Wohnverhältnissen und allgemein unsicheren Zeiten anziehen dürfte: Eine öffentliche, salonartige Atmosphäre von Großzügigkeit und Eleganz, hohe Decken, helle Marmorböden mit dunklen Intarsien und warmen Holzvertäfelungen. Und doch war das Namur in der Kapuzinergasse seit längerem schon kein reiner Genussort mehr. Eher litt und litt man dort mit: an den Hiobsbotschaften der letzten Jahre, der ungewissen Zukunft, dem unausgeschöpften Potential, sowie der nachlässigen Bedienung und eines nicht immer nachvollziehbaren Preis-Leistungs-Verhältnisses, wie sie schon seit Jahren in den Internet-Kommentaren bemängelt werden. Dabei waren die angebotenen, immer noch im gehobenen Segment angesiedelten Produkte, nicht das eigentliche Problem. Klar, vielen war das traditionelle Angebot zu altbacken und daher von vornherein suspekt. Lieber zogen sie in das weltgewandtere und innovativere Oberweis um.

Man konnte das Namur aber auch für seine Vorhersehbarkeit lieben, die Ruhe, die Abwesenheit von Lautsprechern oder Bildschirmen, die kleinbürgerliche Strenge, das trotzige Festhalten an Althergebrachtem, das institutionelle Flair oder die mit dem Namen für Generationen von Luxemburgern verbundene Geschichte. Etwas, das Anthony Bourdain in Bezug auf die traditionelle französische Küche als „firm, unbowed, resiliently unchanged by trends or history“ bezeichnete und ihn deswegen „unreservedly sentimental“ stimmte.

Namur oder Oberweis – das war fast schon eine metaphysische Frage. In der Regel ging man in das eine, da man nicht in das andere ging. Ähnlich wie im Witz über den von einer Insel geretteten Juden und die zwei Synagogen, die er dort in der Einsamkeit errichtet hatte: Eine, in die er zum Gebet ging und eine zweite, in die er eben nicht ging. In seiner Undurchdringlichkeit und beinahe dogmatischen Programmatik glich das Namur aber wohl eher der katholischen Kirche. Das Namur in der Kapuzinergasse ist klassisch, aber nicht unbedingt elegant. Eine Kulisse, aber keine Bühne. Traditionell, aber nicht lebendig. Es war die stilvolle Vision eines Innenarchitekten Ende der 80ger Jahre – eine postmoderne Hommage an die europäische Kaffeehauskultur, auch wenn es die in Luxemburg (wo man wohl eher von bürgerlichen Rückzugsorten reden muss) so nie gegeben hat. Doch Stil hat man (oder eben nicht), herstellen lässt er sich schwer. Andeuten vielleicht, nicht aber kaufen. Stil ist Haltung und Verpflichtung zu einer inneren Kultur.

Nicht einmal Frühstücksformeln hat das Namur anzubieten, wie ein Wiener Freund und Kenner der Kaffeehauskultur neulich bemerkte. Angesichts der Wehklagen der Betreiber über verändertes Konsumverhalten und vor dem Hintergrund rezenter Fehlinvestitionen fragt man sich, ob nicht auch Einfallslosigkeit und Weltfremdheit das Geschäft an den Rand des Ruins getrieben haben. Jetzt werden die „Kronjuwelen“ versilbert, um erneut in ein neues Lokal umzuziehen, nachdem schon die letzten Projekte im Hammer Gewerbegebiet und in Flavio Beccas Einkaufszentrum Unsummen verschlungen hatten.

Das ist ernüchternd. Vergleichbare Lokale wie das Café Maldaner in Wiesbaden und auch vollkommen andere, wie die unzähligen Hipstertreffs in Stadt Luxemburg werben mit sonntäglichen Brunchs und ziehen die Menschen scharenweise an. Auch in Wien straucheln einige Kaffeehäuser, machen aber durch ausgefallene Konzepte auf sich aufmerksam. Sei es durch Ausstellungen oder Büchertische. Das Namur liegt gegenüber der Buchhandlung Alinéa und dem Kapuzinertheater, in unmittelbarer Nähe der Cinemathèque an einem kulturellen Knotenpunkt. Warum das Namur seine Gäste dennoch nicht mit kulturellen Angeboten wie Lesungen, Konferenzen, Rundtischen oder Konzerten lockt und die Theater- und Filmgänger abends an der Bar oder auf der Terrasse, beispielsweise mit Schnittchen und Negronis versorgt ist kaum nachzuvollziehen. Das Vis-à-Vis und das Rocas mögen dieses Segment seit vielen Jahren besetzen – ruhig miteinander reden, ein Buch oder eine Zeitung lesen, oder zu später Stunde noch eine Kleinigkeit essen kann man dort jedenfalls nicht.

Aber was macht eigentlich einen guten Platz aus? In The Great Good Place (1989) hat der amerikanische Soziologe Ray Oldenburg die Theorie des Third Place also Drittorts aufgestellt. Ein Ort der weder zuhause noch Arbeitsplatz ist, sondern ein Raum sozialen Austauschs – zugänglich, offen, egalitär. Beispiel: Das Wiener Kaffeehaus, das Pariser Café, die italienische Taverna, aber auch Gemeindezentren, Kantinen und Waschsalons. Das Namur hätte so ein Ort sein können, wurde es aber nie. Aber auch das Oberweis nicht. Das Versprechen der Drittorte ist es nämlich der kapitalistischen Entfremdung Einhalt zu gebieten. Dabei ist es kaum möglich Einfluss auf diese Entwicklung zu haben. Und doch: Genau diesen fordern Verfechter eines Rechts auf Stadt ein, der mit Mitbestimmung einhergeht, über wie die Stadt sich um uns herum entwickeln soll. Ray Oldenburg dagegen war ein alter weißer Mann, der mit seinen konservativen Ansichten aus der american suburbia gegen den Verlust seines persönlichen politischen Einflusses anschrieb und hauptsächlich in der heterosexuellen Männergesellschaft sein Ideal sah.

Ray Oldenburg zufolge sind Drittorte jedenfalls vor allem Kaffees, Bars und Gemeinschaftsräume. In Drittorten ist, dem Soziologen zufolge, das Gespräch die Hauptaktivität. Dass man dort isst und trinkt, unterstützt diese Funktion. Auch Bibliotheken kann man, Oldenburg zufolge, als Drittorte bezeichnen, wobei dort sprechen ja untersagt ist, wenigstens im Lesesaal. Es läge aber nicht an politischen Fehlentscheidungen, dass es nicht genug Drittorte gibt, da man solche nicht so einfach herstellen könne, so Oldenburg, dem zufolge ältere Orte sich noch am ehesten für Drittorte eignen, da neuere meistens gewinnorientiert geplant und ausgerichtet seien.

Einen interessanteren Ansatz bietet der von dem französischen Philosophen Henri Lefebvre 1968 formulierte Anspruch auf ein Droit à la ville. Städte werden von Kapitalinteressen gesteuert – ihre Bewohner haben darauf wenig Einfluss. Das Ende des Namurs in der Kapuzinergasse spiegelt diese Entfremdung. Der amerikanische Geograph und Sozialtheoretiker David Harvey hat Lefebvres Thesen radikalisiert. Laut Harvey ist die Stadt Raum für Kapitalzirkulation. Orte wie das Namur können nicht bestehen, weil sie zu wenig erwirtschaften. Die Stadt als Ware verdrängt Räume des Unproduktiven und damit ganze Menschengruppen an die Ränder der Stadt. Der Wandel der Stadtgesellschaft, die Gentrifizierung, die steigenden Mieten und das Franchising, des Hervorsprießen von Designcafés ersetzen tradierte Räume, durch neue, glatte, austauschbare, optimierte Räume. Die Stadt Luxemburg, wie viele europäische Innenstädte ist zu einem Ort des Konsums, nicht des Verweilens geworden.

Während bei Lefebvre der gelebte Alltag Quelle politischer Transformation und das Recht auf Stadt eine utopische Praxis ist, die in Form von spontanen Orten dem Kapitalismus eine Zeit lang Einhalt gebietet, geht Harvey weiter zu einer antikapitalistischen, organisierten Politik. Städte sind ihm zufolge Schauplatz des Klassenkampfs und kapitalistischer Mechanismen, wie es in Luxemburg die Finanzialisierung des Wohnraums, die Kommodifizierung des historischen Stadtkerns und öffentliche Initiativen wie Pop-Up-Stores und -Cafés sind, die nur dem Anschein nach etwas mit Lefebvres espaces différents zu tun haben.

So schließt das Namur in der Kapuzinergasse nicht nur als Geschäftsfläche, sondern als Symptom einer Stadt, die längst zu einem Raum des Konsums geworden ist. Es war kein wirklich guter Ort, nicht einmal ein richtiger Drittort – aber es hätte einer sein können. Und genau diese Möglichkeit, diese Leerstelle verschwindet mit ihm. Die Stadt verliert damit einmal mehr jene Unvollkommenheit, die erst rechte Urbanität ermöglicht. 

Frédéric Braun
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