LEITARTIKEL

Das Benzin, Zukunft

d'Lëtzebuerger Land vom 04.03.2022

Der Wert eines Menschenlebens ist nicht zu beziffern. Wieviele Menschen durch die Klimakrise besonders verwundbar sind, wurde im jüngsten IPCC-Bericht beziffert: 3,6 Milliarden – das ist fast die Hälfte der Menschheit. Verwundbarkeit heißt konkret: Menschen sind von Infektionskrankheiten, Mangelernährung, Hitzestress oder dem Hitzetod bedroht. Der Weltklimarat, der im Auftrag der Uno arbeitet, vereint 270 Wissenschaftler/innen aus über fünfzig Ländern. Für den am Montag publizierten Klimabericht werteten sie hunderte Studien aus.

Der IPCC-Bericht ging in den Kriegswirren am Montag prompt unter. Das hatte Statec-Direktor Serge Algrezza bereits am Samstag angekündigt: „Mir hate gemengt, mir géifen eis no der Pandemie just nach mat Klimawandel beschäftegen. Nee esou geet et net. D’Welt ass elo an enger Disruptioun, an elo musse mer drun denken Defensen opzebauen.“ Diese Eins-nach-dem-anderen-Logik könnte man jedoch aufgeben, denn eine Monokausalitäten-Welt existiert nicht. Die Klimakrise ist systemisch. Vieles hängt mit Vielem zusammen: Dürre mit Ressourcenmangel, Unterernährung, Waldbränden und dem Kollabieren ökologischer Kreisläufe. Malaria und Dengue-Fieber breiten sich in immer neuen Gebieten aus. Pandemisches Potenzial lauert in Mücken, Hausschweinen und Vögeln. Laut dem Bericht besitzt bereits jetzt die Hälfte der Menschheit keinen gesicherten Zugang zu sauberem Wasser: Es wird andere Gründe für Krieg geben als post-sowjetische Kränkungen und imperiale Phantomschmerzen.

Während am Sonntagmorgen die IPCC-Forscher/innen den Bericht verabschiedeten und überall Kriegs-Krisensitzungen in Europa stattfanden, veranstaltete die Hauptstadtsektion von déi Gréng eine Generalversammlung. Im Anschluss tweeteten ihre Mitglieder leere Phrasen, in denen „grouss Freed“ oder „héich motivéiert“ vorkam. Dabei beruht Putins Macht auf fossilen Brennstoffen und ist mit geopolitischen Energiesicherungs-Fragen verschränkt. Der deutsche FDP-Minister und Porschefahrer Christian Lindner hatte verstanden, dass Sonntag ein idealer Zeitpunkt war, um die energiepolitische Sprache aufzurüsten: Er taufte erneuerbare Energien in Friedensenergien um.

Der grüne Energieminister Claude Turmes griff am Montag die sprachliche Offensive auf: „D’erneierbar Energien, daat sinn d’Energien vum Fridden.“ Wirklich öffentlichkeitswirksam war dieser Aufruf während einer Pressekonferenz allerdings nicht. Aus der Zivilgesellschaft stammte zeitnah zum Klimabericht eine Stellungnahme von Greenpeace Luxemburg. Die NGO schrieb, der Klimawandel beeinträchtige Menschenrechte, wie das Recht auf Leben, Gesundheit und Nahrung. Das Center for Ecological Learning Luxembourg (Cell) ist derweil damit beschäftigt, Impfgegner/innen in Schutz zu nehmen.

Nur Friedensenergien reichen leider nicht. Denn die Liste an Klimakrisen-Fronten, die nicht mit individuellem Handeln, sondern mit politischer Koordination zu lösen sind, ist lang. Vor diesem Hintergrund liest sich der ursprünglich als Nation-Branding-Gag abgetane öffentliche Gratistransport auch weniger als ein Zuschuss an Privathaushalte, sondern als klimapolitische Maßnahme. Es braucht noch viele Schritte, die die Klimakatastrophe abfedern und die Lebensqualität steigern: unter anderem vereinfachte Subventions-Prozeduren zur Häuserdämmung und dieselfreie Innenstädte; eine effizientere CO2-Bindung durch die Bewaldung von mehr Grünland und ein Soja-Importverbot aus dem Amazonas.

Wer sich mit den grauen Aussichten des neuesten Berichts des Weltklimarats beschäftigt, der antwortet vielleicht im Falle eines Atomkrieges mit Adorno (1.8.1950): „Wenn schon Weltuntergang, dann will man doch wenigstens dabei gewesen sein.“ So müsste man sich nicht auf ein schweißtreibendes Dahinsiechen nach Kriegsende vorbereiten. Adorno aber glaubte nicht, dass der Weltuntergang eintreten wird. Politik und Gesellschaft sollten das auch, und mehr dafür geben, dass sich die Hoffnung auf das 1,5-Grad-Ziel aufrechterhalten lässt.

Stéphanie Majerus
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