Mit großzügigen, doch gegensätzlichen Steuerversprechen haben CSV und DP die Wahlen gewonnen. Trotz hohem Haushaltsdefizit werden sie bis Ende nächster Woche liefern müssen

Schwarze Tinte, blaue Flecken

Formateur Luc Frieden am Montagmorgen in Senningen
Photo: Sven Becker
d'Lëtzebuerger Land du 10.11.2023

Neiufank 1999, als CSV und DP zum letzten Mal koalierten, hatte es siebeneinhalb Wochen gedauert, bis die Verhandlungen abgeschlossen waren. Premierminister Jean-Claude Juncker (CSV) musste seine Regierungserklärung mitten im August halten. Je nach politischer Couleur wurde befürchtet oder gehofft, dass es zu einer Liberalisierungs- und Privatisierungswelle kommen werde, doch schließlich setzte die neue Koalition weitgehend den Kurs fort, den CSV und LSAP in den 15 Jahren davor eingeschlagen hatten.

Das wird diesmal wohl anders sein. Der mächtige Seniorpartner CSV war zehn Jahre in der Opposition, er rechne mit einem „Neiufank“, sagte Formateur Luc Frieden (CSV) am Montag auf einer kurzen Pressekonferenz im Schloss Senningen. Wie dieser Neuanfang aussehen könnte, hatte Noch-Wirtschaftsminister Franz Fayot (LSAP) bereits am Samstag in einem Beitrag im Tageblatt dargelegt: „Die öffentlichen Finanzen werden entsprechend in düstersten Farbtönen an die Wand gemalt, um das Land auf einen bevorstehenden Austeritätskurs einzustimmen. Es wird sich dann später herausstellen, dass die Situation eigentlich besser ist, als sie ursprünglich dargestellt wurde, was dann im nächsten Jahr eine Reihe an großzügigen Geschenken ermöglichen wird“, schreibt der zukünftige Oppositionsabgeordnete. Bis zum Ende der Juncker-Ära sei diese Vorgehensweise ein wesentlicher Bestandteil der CSV-geführten Finanzpolitik und ihrer aufs sture Sparen ausgerichteten Haushaltspolitik gewesen.

In der Woche nach den Wahlen war Frieden vor die Öffentlichkeit getreten, um zu deklarieren, das Haushaltsdefizit sei höher als im Frühjahr gedacht und die künftige CSV-DP-Regierung werde alles dafür tun, das AAA zu erhalten. Seine Aussagen basierte er auf die Note de travail an den Formateur, die das mehrheitlich mit hohen Beamten aus dem Finanzministerium besetzte Comité économique et financier national (CEFN) den Verhandlungsdelegationen von CSV und DP am 12. Oktober vorgestellt hatte. Auf Anfrage von LSAP und Piraten wurde die Note am Dienstag auch den Abgeordneten zur Verfügung gestellt (und liegt dem Land vor). Daraus geht hervor, dass die Haushaltslage des Staates sich seit 2020 verschlechtert hat, 2024 soll das Defizit mit 2,7 Prozent des BIP (2,3 Milliarden Euro) seinen Höhepunkt erreichen, um sich 2027 bei 2,2 Prozent des BIP (2,2 Milliarden Euro) einzupendeln. Die im Maastricht-Vertrag vereinbarte Grenze von drei Prozent wird in keinem Jahr überschritten. Damit Luxemburg flüssig bleibt, rät das CEFN, im ersten Trimester 2024 die nächste Staatsanleihe aufzunehmen, bis 2027 müsse die Regierung jährlich weitere Schulden in Höhe von 3,5 bis 4,5 Milliarden Euro machen, deren Tilgung wegen der gestiegenen Zinsen teuer werden könnte.

Die Staatsverschuldung soll laut Note weiter zunehmen, um 2026 die von DP, LSAP und Grünen 2013 festgesetzte „magische“ Grenze von 30 Prozent des BIP erstmals zu überschreiten und 2027 32,4 Prozent des BIP zu erreichen. In ihrem Stabilitätsprogramm vom April war DP-Finanzministerin Yuriko Backes im zentralen Szenario noch davon ausgegangen, dass die Staatsschuld 2027 unter 30 Prozent bleiben würde. Allerdings hatte sie für den Fall, dass ein wirtschaftlicher Schock eintritt, ein ungünstiges Szenario mit nach Brüssel geschickt, das zwar prozentual von einem etwas geringeren Defizit für 2024 ausging, als jetzt vom CEFN prognostiziert. Jedoch sah dieses scénario défavorable ebenfalls bereits vor, dass die Staatsschuld 2026 auf 31,6 und 2027 gar auf 33,7 Prozent des BIP steigen könnte. Die Verschlechterung der Staatsfinanzen führt das CEFN nun auf sinkende Einnahmen (insbesondere bei den droits d’enregistrement wegen der Flaute im Bausektor, bei der taxe d’abonnement und wegen der bis Ende 2024 begrenzten TVA-Senkung) und auf zusätzliche Ausgaben in den drei Tripartiten (Energiepreisbremse, Steuerkredite, Subventionen) zurück.

Contraction Das Statec schließt für dieses Jahr eine Rezession (von minus 0,8 Prozent) wegen eines wirtschaftlichen Abschwungs im Finanzsektor nicht aus und geht für nächstes Jahr von einem niedrigeren Wachstum (1,5%) aus als noch im September: „Au vu des dernières données des comptes nationaux trimestriels, publiées en date du 14.9.2023, l’économie luxembourgeoise ne semble pouvoir éviter une contraction en 2023“, heißt es in der Note de travail. Das Statec hatte schon in seiner Note de conjoncture im Juni vor einem Rückgang des BIP (von minus 0,4 Prozent) gewarnt – im ungünstigsten der drei Szenarien, die es zur Auswahl gestellt hatte. Bei schnellerer Desinflation hatte das Statistikamt ein Wachstum von 2,8 Prozent für dieses und gar von 4,5 Prozent für nächstes Jahr prognostiziert.

„Klar ist jedoch, dass das von de #NeieLuc verbreitete Lügenmärchen, dass eine allgemeine Steuererleichterung für Haushalte und Unternehmen das Wirtschaftswachstum ankurbeln und somit in wundersamer Weise mehr Steuereinnahmen in die Staatskasse spülen würde, nicht einmal die erste Verhandlungswoche zwischen CSV und DP überlebt hat“, schreibt Franz Fayot im Tageblatt. Das gilt wohl auch für das zentrale Wahlversprechen von Fayots Noch-Koalitionspartner DP, die sich durchaus bewusst ist, dass sie die Einführung einer einheitlichen Steuerklasse nicht in einer Legislaturperiode hinbekommen würde, nicht einmal bei einer günstigeren Haushaltslage und Konjunktur. Allerdings hatte sie seit Juli angekündigt, gleich nach den Wahlen mit der schrittweisen Umsetzung zu beginnen, falls sie wieder in die Regierung kommen würde (ohne jedoch zu präzisieren, wie). Die DP kann sich nun auf die schlechten Staatsfinanzen berufen, um ihre große Steuerreform erst „mittelfristig“ realisieren zu müssen, wie sie es schon in den vergangenen zehn Jahren getan hat – bis irgendwann vielleicht wieder genug „Sputt“ vorhanden sein wird. Damit nähert sie sich der Position der CSV an, die sich in ihrem Wahlprogramm „mittelfristig einer Debatte über die Abschaffung der Steuerklassen“ nicht verschloss. Luc Frieden hatte im Wahlkampf stets behauptet, die Individualisierung der Steuern sei nicht zu bezahlen.

Das Wahlversprechen der CSV, durch weitreichende Steuermaßnahmen sowohl die Mittelschicht (integrale Inflationsbereinigung der Steuertabelle innerhalb des ersten Jahres nach Regierungsantritt, Erhöhung des Eingangssteuersatzes, Verbreiterung der Steuertranchen, Steuerentlastung für Berufsanfänger und für Erstkäufer einer Wohnung) als auch die Wirtschaft (Absenkung der Unternehmenssteuer, zusätzliche Steueranreize für Investoren) zu entlasten, um das Wachstum anzukurbeln, neue Arbeitsplätze zu schaffen und dadurch die staatlichen Einnahmen zu erhöhen, dürfte indes mindestens genauso schwierig zu finanzieren sein. Romain Bausch, Präsident des Conseil national des finances publiques, sagte am Dienstag in einem Interview im RTL Télé, Senkungen der Einkommenssteuer seien nur möglich, wenn man sie durch eine Erhöhung indirekter oder anderer Steuern oder durch eine Kürzung der Ausgaben gegenfinanziere. Wirtschaftswachstum alleine reiche dazu nicht aus.

Die Wahlversprechen von DP und CSV in der Steuerpolitik scheinen kaum miteinander vereinbar. Ihre jeweiligen Positionen offenbaren auch grundverschiedene gesellschaftspolitische Visionen: Während die CSV „die Familie wieder zur politischen Priorität machen“ will, setzt die DP sich „für die steuerliche Gleichbehandlung aller Lebensmodelle“ ein. Die CSV will mit der „Herdprämie“ Eltern dazu ermutigen, ihre Kinder zuhause zu betreuen; die DP verspricht eine Betreuungsplatz-Garantie für alle. Die Leihmutterschaft wollen die Liberalen erlauben, während die CSV dagegen ist. Konversionstherapien von LGBTQ+-Personen will die DP verbieten und die Rechte von intersexuellen Menschen stärken, während die CSV die von „Gambia“ verbesserten „Modalitäten bei Geschlechtsumwandlungen evaluieren und gegebenenfalls anpassen“ möchte – was so klingt, als wolle sie diese „Modalitäten“ wieder rückgängig machen.

Widersprüche Man darf demnach gespannt sein, wie die künftigen Koalitionspartner diese Widersprüche lösen werden, ohne dass eine Partei ihr Gesicht verliert, beziehungsweise ihre Wahlversprechen brechen muss. Neue Steuern oder Steuererhöhungen sieht keine der beiden Parteien in ihrem Wahlprogramm vor. Also werden sie sparen müssen, um die Steuererleichterungen zu bezahlen. Belastet wird der Staatshaushalt vor allem durch die hohen Ausgaben beim Zentralstaat. Die Investitionen in die Infrastruktur zu drosseln, ist wegen des Wachstums jedoch keine Option: Die Wirtschaftsprognosen des CEFN („à politique inchangée“) gehen davon aus, dass die Arbeitslosigkeit in den kommenden fünf Jahren leicht ansteigt (was den Haushalt zusätzlich belasten würde, erst recht wenn in einigen Jahren die aufgeschobene EU-Direktive wirksam wird, die Luxemburg dazu verpflichtet, auch Grenzpendlern Arbeitslosengeld zu zahlen). Während die Binnenbeschäftigung um rund 2,5 Prozent jährlich konstant zunehme, würde die Bevölkerung um rund 50 000 Personen wachsen und die Zahl der Grenzgänger um über 30 000. Bei den laufenden Ausgaben des Zentralstaats fallen insbesondere die Löhne der Beamten und Angestellten ins Gewicht. In den vergangenen beiden Jahren stiegen die Einnahmen des Zentralstaats wegen der kalten Progression infolge mehrerer Indextranchen substantiell. Wenn die CSV ihre Wahlversprechen einlöst, die Steuertabelle integral an die Inflation anzupassen und zudem die Steuertranchen zu verbreitern, um die Steuerlast zu verlangsamen, werden auch die Einnahmen des Zentralstaats sinken – umso mehr, da das CEFN bis 2027 von einer Indextranche jährlich ausgeht.

Die Note de travail des CEFN beinhaltet zudem weitere potenzielle Herausforderungen und Risiken, die mittel- bis langfristig den Staatshaushalt zusätzlich belasten könnten. Etwa das im Juli von Umweltministerin Joëlle Welfring und Energieminister Claude Turmes (beide Grüne) an die EU-Kommission verschickte Update des nationalen Energie- und Klimaplans, das laut CEFN bis 2027 zusätzliche Kosten von über 900 Millionen Euro generieren wird, die im mehrjährigen Haushaltsentwurf 2023 bis 2026 noch nicht vorgesehen waren. Oder die Erhöhung der Verteidigungsausgaben im Rahmen der Nato-Verpflichtungen (auf zwei Prozent des Bruttonationaleinkommens) und die Aufrechterhaltung der Entwicklungshilfe (bei einem Prozent des BNE). Darüber hinaus muss Luxemburg seine finanziellen Verpflichtungen gegenüber der EU, des IWF und beim Wiederaufbau der Ukraine erfüllen. In diesen Bereichen zu sparen oder sich der Verantwortung zu entziehen, wäre politisch unverantwortlich.

Nicht zuletzt wird in der Note de travail die hohe (steuerliche) Abhängigkeit des Staates von der Finanzindustrie und von der Gunst der Rating-Agenturen ersichtlich. Der Finanzplatz ist mehr als nur Garant für Wohlstand, an ihm hängt vielleicht sogar Luxemburgs staatliche Unabhängigkeit. Die Umsetzung von europäischen Direktiven und OECD-Maßnahmen wie Beps, Unshell, Pilier 1 und 2 oder Befit, die für mehr internationale Steuergerechtigkeit sorgen sollen, könnten die Finanzindustrie schwächen und dadurch die Steuereinnahmen erheblich senken. Ob sie tatsächlich alle umgesetzt werden, ist jedoch fraglich; die Regierung und die davon am meisten betroffenen Großkonzerne dürften das gemeinsam zu verhindern wissen.

„An engem Koalitiounsaccord steet net alles am Detail, wat een a fënnef Joer mécht“, sagte Luc Frieden am Montag. In der Steuerpolitik seien die Diskussionen „schwiereg, awer konstruktiv“. Bislang habe keine der beiden Parteien „eppes Fundamentales opginn“.

1999, nachdem der Nationalvorstand des OGBL das erste Mal nach den Wahlen zusammengekommen war, urteilte dessen Präsident John Castegnaro, das Regierungsprogramm sei „mit viel schwarzer Tinte und einigen blauen Flecken“ geschrieben. Damit meinte er, das Abkommen trage eindeutig die Handschrift der CSV, die sich klar gegen die „neoliberalen Tendenzen“ innerhalb ihres Juniorpartners DP durchgesetzt habe. Heute scheinen die Rollen vertauscht, während das Ungleichgewicht bei den Sitzen noch ausgeprägter ist als damals. Der „zoziale“ Noch-Klima-Premier Xavier Bettel von der DP sieht sich als soziales und ökologisches Gewissen und linker Flügel der neuen Koalition, was er allerdings erst beweisen muss. Bis Ende nächster Woche soll die Regierung langsam Form annehmen. „Seriö an zügeg“ würden die Verhandlungen geführt, sagt Formateur Luc Frieden. Seit nunmehr fast fünf Wochen.

Luc Laboulle
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