Die Panzerdebatte zeigt Schwächen der westlichen Rüstungspolitik der letzten Jahrzehnte auf

Rüstungspolitik im Großen und im Kleinen

Der deutsche Kanzler Olaf Scholz vor einem Leopard 2- Panzer der Bundeswehr bei einer Übung in Norddeutschland im Oktober
Foto: Ronny Hartmann / AFP
d'Lëtzebuerger Land vom 27.01.2023

Sie heißen Leopard 2, M1 Abrams, Challenger 2 und Leclerc. Sie sind Kampfpanzer und kommen aus deutscher, amerikanischer, britischer und französischer Produktion. Die Ukraine hätte am liebsten 300 Stück davon, um gegen Russland aus dem aktuellen Stellungskrieg herauszukommen und wieder die Initiative zu gewinnen. Beim Treffen von 50 Ukraine-Unterstützerstaaten vergangene Woche auf der US-Luftwaffenbasis Ramstein gab es dazu noch keine Abmachung. Während diese Zeile geschrieben werden, erfährt die Welt, dass Deutschland nun Leopard 2 an die Ukraine liefern wird und sich der Weitergabe der Panzer durch andere Länder nicht widersetzt. Die USA kündigten die Lieferung von M1 Abrams an, und der französische Präsident Emmanuel Macron lehnt die Abgabe von Leclerc-Panzern nicht grundsätzlich ab.

Kampfpanzer sind die am stärksten gepanzerten Akteure auch dem Gefechtsfeld und verfügen über Gleiskettenantrieb und eine Hochleistungskanone in einem Drehturm. Sie sind allen anderen Kampffahrzeugen an Panzerung und Feuerkraft überlegen. Weitere technische Details werden derzeit von allen Medien mehr oder weniger korrekt verbreitet.

Schützenpanzer sind zumeist ebenfalls mit einem Kettenlaufwerk ausgestattet und ergänzen die Kampfpanzer im Gefecht. Sie haben nur eine leichte bis mittlere Bewaffnung aus schwerem Maschinengewehr, Maschinenkanone und Panzerabwehr-Lenkraketen und bieten neben der Fahrzeugbesatzung (Kommandant, Fahrer, Richtschütze) Platz für sechs bis acht Soldaten, welche auf- wie abgesessen kämpfen können.

Nur im Verbund entwickeln Kampf- und Schützenpanzer ihre volle Leistungsfähigkeit. Kampfpanzer bekämpfen mit ihrer Hochleistungskanone feindliche Panzer auf große Distanz. Damit geben sie den Schützenpanzern Deckung, welche wiederum die Kampfpanzer vor feindlicher Infanterie schützen, die mit tragbaren Panzerabwehrwaffen gepanzerte Fahrzeuge vor allem seitlich und von hinten angreifen kann. Der isolierte Einsatz von Kampfpanzern wird mit Totalverlusten bestraft, wie die Türkei beim Einsatz von Leopard 2 gegen kurdische Kämpfer beziehungsweise den IS in Syrien erfahren musste. Insofern war die Verzögerungstaktik des deutschen Kanzlers Olaf Scholz riskant: Beide Waffensysteme hätten nacheinander verschlissen werden können, ohne signifikante Ergebnisse auf dem Gefechtsfeld zu liefern. Zugesagt wurden der Ukraine bisher Schützenpanzer aus Deutschland (40 Stück Marder), den USA (109 Stück Bradley) sowie Schweden (50 Stück CV90).

Der französische AMX10RC, den Präsident Macron der Ukraine versprochen hat, passt nicht in die übliche Panzer-Kategorisierung, da er übergreifende Merkmale aufweist. Er hat sechs Räder, muss aber wie ein Kettenfahrzeug durch Abbremsen der Räder einer Seite gelenkt werden. Eine relativ schwere Kanone vom Kaliber 105 Millimeter ist in einem Drehturm verbaut, aber das Fahrzeug kann nicht aus der Bewegung feuern. Seine Panzerung ist allgemein schwach. Das Gewicht von 15 Tonnen erlaubt die Luftverlegung, was besonders der Fremdenlegion ermöglicht, postkoloniale Ordnungsaufgaben in Afrika wahrzunehmen. Der Drehturm mit der schweren Kanone sieht weit martialischer aus als der tatsächliche Gefechtswert des AMX10RC auf dem ukrainischen Schlachtfeld sein wird. Als Frankreich ihn an die Ukraine zu liefern ankündigte, war das vor allem eine starke Symbolik, die den deutschen Kanzler unter Druck setzte.

Das Äquivalent zum deutschen Leopard 2 besteht nicht im AMX10RC, sondern im Kampfpanzer Leclerc, dessen Lieferung Macron nicht mehr grundsätzlich ausschließt. Großbritannien wiederum hat angekündigt, 14 Stück seines Kampfpanzers Challenger 2 an die Ukraine abzugeben. So willkommen und nötig diese Lieferungen sind, so sehr sind sie auch ein logistischer Alptraum. Die acht aufgezählten Typen von Kampf- und Schützenpanzern bedingen jeweils eine spezifische Ausbildung, Ersatzteilversorgung und Instandhaltung. Das erinnert an die Ausstattung der deutschen Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg. Sie verfügte über viel zu viele unterschiedliche Panzertypen, die teilweise sogar aus Beutebeständen stammten, beziehungsweise durch Fabriken in besetzten Ländern weiterproduziert wurden. Dies war ein strategischer Nachteil gegenüber der Sowjetunion und den USA, die sich auf wenige Typen in großer Stückzahl beschränkten.

Diese Zusammenhänge zeigen geradezu paradigmatisch eine Schwäche der westlichen Rüstungspolitik der letzten Jahrzehnte auf: Jedes größere Land produziert jeweils eigene Großgeräte, von der Haubitze über den Schützenpanzer bis hin zum Kampfpanzer. Dasselbe geschieht bei Systemen zur See und in der Luft. Die Hintergründe sind vielfältig. Sie reichen von militärischen Sonderwünschen über die Sicherung von Arbeitsplätzen und von eigenem Know-how bis hin zu Exportbeschränkungen durch deutsche Gesetze, welche eine Kooperation mit deutschen Firmen uninteressant machen. Die Folge sind jeweils geringe Stückzahlen bei entsprechend extrem hohen Stückkosten sowie die schon geschilderten Probleme bei Logistik und Instandhaltung im Bündnis. Es ist eine Sache, die Ukraine aus dem Bestand kurzfristig mit Großgerät zu versorgen. Es ist eine andere, nun schnellstmöglich die westliche, besonders die europäische Rüstungsindustrie anzuwerfen und dabei endlich die Fehler der Vergangenheit zu vermeiden. Das heißt, auf nationale Einzellösungen zu verzichten.

Es muss darum gehen, große Stückzahlen zu produzieren. Es stimmt, dass das westliche Rüstungsbudget deutlich höher ist als das von Russland. Aber durch die Zersplitterung der Produktion bekommen westliche Länder weniger Kampfkraft pro Dollar oder Euro als Russland. Nun müsste die Stunde der EU schlagen, denn wenn die etwas wirklich kann, dann ist es Industriepolitik. Man hat alles Mögliche mit EU-Normen versehen, das müsste auch im Rüstungsbereich funktionieren. Es müsste jetzt eine langfristige Bedarfsplanung im Großen und entsprechende Perspektiven für die Industrie geben. Denn auch wenn der Ukraine-Krieg in diesem Moment zu Ende wäre, stünden gigantische Rüstungsprogramme an. Niemand wird auf Generationen hinaus dem Frieden mit Russland trauen. Es ist nicht einmal sicher, dass dies viel teurer wird als die kleinteilige Rüstungsproduktion, die sich Europa derzeit leistet.

Was im großen Kontext für die westliche Welt gilt, trifft im Kleinen auch auf die Luxemburger Rüstungs- und Beschaffungspolitik zu. Unlängst wurde für die Armee die Anschaffung schwach gepanzerter Fahrzeuge vom Typs Eagle 5 zu Aufklärungszwecken beschlossen. Das Lastenheft wurde von der Armee 2019 erstellt. Damals ging man noch davon aus, lediglich leichte Aufklärung durchzuführen: Beobachtung, ohne gesehen zu werden und unter Vermeidung von Feindkontakt. Zwischenzeitlich jedoch wurde die Anforderung an die Armee seitens der Nato auf „robust“ erhöht. Robust bedeutet zum Beispiel, durch Scheinangriffe weiche Stellen in der gegnerischen Front auszumachen. Wobei die Aufklärungsfahrzeuge durchaus unter Feindfeuer geraten und entsprechende Verluste entstehen können.

Stattfinden soll diese robuste Aufklärung im Rahmen eines binationalen Bataillons mit Belgien. Bei den politischen Debatten zum rezenten Fahrzeugkauf wurde in Nebensätzen angekündigt, es könne schwereres Gerät nötig werden. Belgien hat 2018 hypermoderne französische gepanzerte Späh- und Kampffahrzeuge der neuesten Generation vom Typ EBRC Jaguar bestellt. Erklärtes Ziel Luxemburgs ist logistische und operative Einheitlichkeit mit Belgien im binationalen Bataillon. Demnach kämen für unsere Truppe keine anderen Fahrzeuge infrage. Doch auch die schwereren EBRC Jaguar sind verhältnismäßig leichte, mit Hightech vollgestopfte Radfahrzeuge. Ob sie für Gefechte, wie sie derzeit in der Ukraine stattfinden, Mittel der Wahl sind, scheint zweifelhaft. Der Nato-Oberkommandierende für Europa, Christopher G. Cavoli, erklärte am 9. Januar auf einer Konferenz in Schweden: „Hard power is a reality. (…) The great irreducible feature of warfare is hard power and we have to be good at it. Cinetic effect is what produces effects on the battlefield. Cyber, information-operations and so on – very important, but if the other guy shows up with a tank you better have a tank.“1

Einheitlichkeit in einem Bataillon ist ein guter Vorsatz. Nur wird er im Gesamtkontext wirkungsarm bleiben, wenn keine generelle Vereinheitlichung auf EU- beziehungsweise Nato-Ebene hergestellt wird. Wie die Dinge derzeit liegen, könnte das belgisch-luxemburgische Bataillon nur mit Frankreich sinnvoll zusammenwirken. Auch kann die bei der Luxemburger Armee angemahnte „Robustheit“ sehr viel schneller eingefordert werden und deutlicher ausfallen, als es die letzten Kammer-Debatten vermuten lassen. Zum Beispiel musste Verteidigungsminister François Bausch vergangene Woche im Parlament klarstellen, dass es sich bei dem Transportflugzeug A400M um veritables Kriegsgerät handelt und nicht primär um ein Mittel der Entwicklungs- und Katastrophenhilfe. Das zeigt, dass man sich geistig immer noch in einer Friedenslogik bewegt, die mittlerweile obsolet geworden ist.

Vieles muss neu gedacht werden, weil die letzten Jahrzehnte rüstungstechnisch und militärpolitisch auf eine ganz andere militärische Realität ausgerichtet waren. Die Streitkräfte der Nato waren auf planbare Einsätze mit wenigen leichten Truppen orientiert, um unter internationalem Mandat Friedenssicherung in exotischen Ländern zu leisten. Während nun wieder die Kernaufgabe der Nato angesagt ist: die Bündnisverteidigung in Europa unter den Bedingungen eines großräumigen konventionellen Landkriegs. In diesem Umfeld müssen sich westliche Streitkräfte unter Zeitdruck neu orientieren.

In Luxemburg sind die Zinsen, die Einkommensteuertabelle und Arbeitszeitmodelle ohne Zweifel legitime politische Themen im anstehenden Wahlkampf. Aber verlangt man von der nationalen Politik zu viel, wenn man anmahnt, Krieg wieder als eine zwar nicht wünschenswerte, aber unter Umständen mögliche Option zu denken und zu benennen? Ändert die Wirklichkeit sich dadurch, dass man sie totschweigt?.

Reiner Hesse ist Politikwissenschaftler und Soziologe. Er hat über Militärpolitik und Militärsoziologie geforscht.

1 Rede zu Abschreckung und Verteidigung in Europa, am 9. Januar 2023 auf der Folk och Försvars Rikskonferens

Reiner Hesse
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