Mobbing, Leistungsdruck, Krach mit den Lehrern – viele Jugendliche erleben die Schule als einen schwierigen Ort. Einige fühlen sich so unwohl, dass sie die Schule abbrechen, Abschlusszeugnis hin oder her. Dann wird der Weg oft holprig

Auf Umwegen

d'Lëtzebuerger Land du 06.05.2022

Es ist Mittagspause an der Ecole Nationale des Adultes (Enad). Ein paar Schüler schlendern durch das Foyer, einige sitzen zum Mittagessen unterhalb der großen Treppen mit offenen Büchern auf den Tischen. Die Enad ist der letzte Hafen für diejenigen, die an anderen Schulen nicht bis zum Ende durchgehalten haben. „Das war die einzige Wahl, die ich hatte“, sagt Bruno, einer der Flurschlenderer. „Ansonsten hätte ich arbeiten gehen müssen und ich habe noch keinen Abschluss.“ Seine Noten am Lycée waren nicht gut genug, Mathe, Französisch, Literatur – er hat das Jahr nicht bestanden und die Schulleitung legte ihm nahe, es an der Enad zu probieren. Nun bestreitet er mit 19 sein erstes Jahr an der Enad.

Viele Jugendliche, die Statistiken als Schulabbrecher und „NEETs“ (Not in Employment, Education or Training) einstufen, sehen sich selbst nicht als solche: Sie betrachten ihren Ausstieg als eine Auszeit von der Schule. Zu diesem Schluss kam die Studie „Regards de jeunes sur leur parcours de décrochage dans l’enseignement général“ vom Luxembourg Institute for Socio-Economic Research (Liser). Laetitia Hauret, Roland Maas und ihr Team haben diese Studie im vergangenen Oktober veröffentlicht, beauftragt vom Bildungsministerium. „Viele wollten gar nicht erst teilnehmen, weil sie sich nicht als Schulabbrecher sehen“, sagt Roland Maas. Ein Viertel derer, die die Schullaufbahn nicht zu Ende gegangen sind, kehrt zurück, um den Abschluss nachzuholen. Die Umfrage führten die Forscher schließlich mit 22 Teilnehmern im Alter von 16 und 17 Jahren durch. Bei der Mehrheit von ihnen standen entweder Konflikte mit Lehrkräften und Mitschülern oder zu schlechte schulische Leistungen dem Abschluss im Weg.

Die Ergebnisse der Studie dienten dem Bildungsministerium als wissenschaftliche Grundlage für das Gesetzesprojekt, das Minister Claude Meisch im Februar vorgestellt hat: Schulpflicht für alle unter 18 Jahren. 8,2 Prozent der Schüler und Auszubildenden bis zum 24. Lebensjahr haben im vergangenen Schuljahr ohne Abschluss den Klassensaal verlassen. Ein Drittel von ihnen ist zwischen 16 und 17 Jahre alt. Mit der Schulpflicht bis zur Volljährigkeit soll diese Zahl verringert werden und auch die der Jugendarbeitslosigkeit, die vor der Pandemie bei 18 Prozent lag. Doch manchmal geht es einfach nicht mehr.

Diese Erfahrung hat Felix Mersch gemacht, mehr als einmal. In der 11e fingen die Schwierigkeiten für ihn an und ließen ihn nicht mehr los. Die elfte Klasse war sein Endgegner, noch bevor das Spiel des Lebens richtig angefangen hat. Felix Mersch ist ein ruhiger Typ, trägt Brille und Kapuzenpullover, die Jeans hängt locker an seinen Beinen. Er überlegt, bevor er spricht, sagt lieber Ja als Nein. Seine schulische Laufbahn begann er im Schengenlyzeum in Perl, genau wie seine jüngere Schwester, die dort bis zum Abitur alle Klassen problemlos hinter sich gebracht hat. Felix fühlte oft, dass er nicht so richtig reinpasste. „Im Schengenlyzeum war es ganz schlimm mit den anderen Schülern“, erzählt er. „Ich war in einer dummen Klasse, wurde gemobbt und so weiter. Ab der zehnten Klasse ging es, die elfte auch.“ Doch seine Noten wurden schlechter, sodass er die elfte Klasse nicht bestand. Die Motivation fehlte. „Mein Vater ist dann in die Schule gekommen und hat gesehen, dass das gar nichts mehr bringt“, sagt er. Felix verließ die Schule. Dass er zu Hause herumhing, haben seine Eltern nicht toleriert, also jobbte er sechs Monate im Lebensmittelladen.

Dann die nächste Schule. „Ich wollte es doch noch mal probieren.“ Seine Eltern haben ihn gedrängt, schickten ihn in das Atert Lycée in Redingen, auf den Weg zum Diplôme de Technicien (DT), und ins Internat, direkt neben der Schule, „damit ich ein bisschen selbstständiger werde.“ Wieder sollte die 11e ihm einen Strich durch die Rechnung machen. „Im Internat habe ich lange gebraucht, um Freunde zu finden und mal reinzukommen, aber dann ging es sehr gut.“ Dort hat Felix haltbare Freundschaften geschlossen. Doch in der Schule kam er nicht klar, weder mit den Mitschülern noch mit dem Unterrichtsstoff, Französisch vor allem, Literatur. Und auch die Motivation fehlte. „Ich habe gemerkt, dass ich mit der Schule nicht so richtig klarkomme.“

So geht es vielen jugendlichen Schülern. Die Schulpflicht abzuheben, ist da eher Pflaster als Behandlung. „In manchen Fällen mag das eine gute Idee sein, aber nur, wenn es ein anderes Schulangebot gibt als das, was sie gewohnt sind“, sagt Jos Bertemes, Schulleiter der Enad. „Wenn Jugendliche entscheiden, die Schule zu verlassen, sehen sie dort keine Zukunft. Sie haben das versucht und wollen das nicht mehr. Diese Schüler brauchen ein anderes Lernmodell.“ Das Gesetzesprojekt des Bildungsministerium sieht vor, mehr alternative Bildungseinrichtungen zu schaffen. Heute verweisen Schulen und Bildungsbeauftragte junge Menschen an die Angebote des Service National de Jeunesse (SNJ). Orientierung und Fortbildung stehen dort im Fokus. Der SNJ hat Felix Mersch hat eine Perspektive eröffnet.

Statt Schule und Ausbildung weiterzumachen, engagierte Felix sich beim SNJ. Drei Monate lang beteiligte er sich beim Jugendsender von Radio Ara. Auch nach dem Workshop engagierte er sich dort weiter freiwillig, hat inzwischen eine eigene Sendung. Felix hat dort Halt gefunden und eine Leidenschaft entdeckt, die ihm heute einen Weg nach vorn weist.

Das Atert Lycée hatte ihn fortgeschickt mit der Empfehlung, kleiner einzusteigen. In zwei weiteren Anläufen schaffte er schließlich das Diplôme d’Aptitude Professionelle (DAP) an der vierten Schule seiner Laufbahn. Zwei Tage Unterricht pro Woche und drei Tage Papierkram im Bildungsministerium erledigen, „das war gut, dort habe ich mich mit allen super verstanden.“ Die Trennung half auch, um mit den Mitschülern zurecht zu kommen. „Da wir uns nur zwei Tage in der Woche sahen, ging es. Die waren ja auch alle verschieden, auch Ältere.“ Einen letzten Anlauf unternahm Felix, um doch noch das DT zu bekommen, im Nic Biewer Lycée in Düdelingen, nachdem eine Lehrerin ihm sagte, er könne es doch noch mal versuchen. „Da ich dann der Älteste war in der Klasse, ging das auch nicht so richtig. Ich suche immer Kontakt mit anderen Leuten, ich renne denen dann so hinterher. Dann frage ich, kann ich mit euch kommen? Die Antwort war Nein, wir wollen gern allein sein unter uns. Die Sektion hat mir auch gar nichts mehr gesagt zu dem Zeitpunkt.“ Ein halbes Jahr später reicht es ihm mit Schule. Das DAP muss genug sein.

Felix ist jetzt 23. Im September zieht er nach Köln, um Audio-Engineering an einer Privatschule zu studieren. Die Maison de l’Orientation hat ihm diesen Vorschlag ausgespuckt, auf Basis seiner Interessen. Das paraschulische System hat ihn immer wieder aufgefangen, eine Beraterin, die ihn an die richtige Stelle verwiesen hat, ebenso wie seine Eltern es versucht haben. „Ich bin jetzt mal froh, dass ich mein DAP habe. Ich finde es auch nicht schlimm, dass es mit dem Technicien nicht geklappt hat“, sagt er. Felix hatte Glück, zumindest zweimal in seiner Schullaufbahn den richtigen Menschen gegenüberzusitzen – zwei von Dutzenden Bildungsbeauftragten, die ihn und seine Schulakte kennen.

Den Halt und die Perspektive, die Felix durch das SNJ beim Radio gefunden hat, versuchen die Jugendhäuser außerhalb der Einrichtungen des Bildungsministeriums zu geben. In das Jugendhaus von Inter-Actions in Bonneweg kommen die Teenager nicht, um Verantwortung zu lernen oder mit dem Ziel, ein berufliches Projekt anzustreben. Sie kommen, um Zeit mit ihren Freunden zu verbringen – Tischtennis spielen, Kuchen backen, rumhängen. Die Sozialarbeiter verstehen ihre Aufgabe so, dass sie es trotzdem tun: Verantwortung vermitteln und Perspektiven zeigen, in einem freundschaftlichen lockeren Rahmen. Die Jugendhäuser sind Safespaces. Die Schule hat hier keinen Einfluss und auch die Familien halten sich in der Regel raus. Eigenverantwortung wird erwartet, doch ohne Druck. Jedes Jahr veranstaltet das Betreuerteam eine Reise ins Ausland. Wer mitkommen möchte, muss sich das Geld dafür selbst verdienen, durch den Verkauf von Keksen zum Beispiel. Doch niemand wird gezwungen mitzukommen. Die Sozialarbeiter sind Vertrauenspersonen mit einem weniger starren Auftrag als der der Lehrkräfte und Berufsberater. Dennoch geben sie Stabilität. Das Jugendhaus ist jeden Tag offen und viele Jugendliche nutzen das Angebot auch täglich.

Im Sommer pflanzen sie Tomaten im Garten, im Kampfsportraum trainieren sie Muay Thai. Sie basteln Transparente für den Youth4Climate-Protest und beschäftigen sich in Workshops mit Klimawandel. Sam kommt schon seit vielen Jahren ins Jugendhaus Bonneweg. Er ist 26 und einer der Ältesten. Er schätzt die Atmosphäre. „Dieser Ort kann Jugendlichen Ideen geben“, sagt er. „Viele wissen nicht, was sie im Leben machen wollen und haben deshalb keine Motivation, sich in der Schule anzustrengen. Durch die Aktivitäten und den Umgang mit anderen lernen sie hier verschiedene Lebenswege kennen.“ Vielleicht finden sie, wie Felix, schließlich eine Aufgabe, die sie erfüllt und die zu einem Antrieb im Leben werden kann.

Franziska Peschel
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