„Mir sichen“, hört man vonseiten der Handwerksbetrieben. Trotzdem ringt das Handwerk mit Nachwuchsproblemen

Volle Auftragsbücher, leere Posten

d'Lëtzebuerger Land du 06.05.2022

„Es ist etwas unaufgeräumt hier“, entschuldigt sich Lashen Tabovazat. Die Elektriker des Unternehmens Paul Wagner et fils knabern gerade an ihrem belegten Brot in ihrem Baucontainer. Schreibblöcke, Spitzzangen, Kabelöffner liegen auf Schränken, eine Kaffeemachine steht in der Ecke, an den Wänden hängen Grundrisse mit Zahlen und Abkürzungen, manche pink eingekreist.

Pedro Cunia zeigt mit seinen verstaubten Händen über die Kartierung: „Hier sind die Steckdosen, Spotleuchter, Feuermelder und Internetanschlüsse eingetragen“. „Und nicht zu vergessen, ganz wichtig, die Notfall-Lampen“, schiebt Lashen Tabovazat hinterher. Er kommt aus Spanien; über einen spanischen Kollegen hat er vor ein paar Jahren gehört, dass Luxemburg händeringend nach Handwerkern sucht. Die eigentliche Herausforderung sei allerdings das Tableau einzurichten. Als Nicht-Elektriker stutzt man kurz: Das Tableau? „Do wou alles zesummen kënnt“, erläutert der junge Elektriker.

Die Elektriker arbeiten in einer Branche, die chronisch unterbesetzt ist. Offene Stellen gibt es ebenso für Fliesenleger, Zimmerer, Zerspannungsmechaniker; Zahlen der Berufskammer sprechen von 37 Prozent Fachkräftemangel im Heizungs- und Sanitärbereich. Auch in den Schlossereien hinkt die Stellenbesetzung hinterher: Von 2017 bis 2019 hat sie sich der Anteil an freien Posten von 11 auf 33 Prozent mehr als verdoppelt. 18 Lehrstellen für Dachdecker blieben letztes Jahr frei, 12 für Maurer. Mike Engel, Leiter der Maison de l’Orientation, nennt für den Schwund an Handwerkerinnen unterschiedliche Faktoren: „Viele haben durch ihr Elternhaus keinen Bezug mehr zu handwerklichen Tätigkeiten. Somit wird diese Berufswahl weniger naheliegend. Ein Grund ist natürlich auch, dass die Bezahlung im Vergleich zu Verwaltungsberufen zurückbleibt.“

Der Personalleiter Joey Thies von Paul Wagner et fils ergänzt seinerseits: „Dem Handwerk klebt das Bild einer Alternativlösung an. Die wenigsten Schüler sagen von sich aus, dass sie eine Handwerkslaufbahn einschlagen möchten.“ Hinzu komme eine Lehrkörperschaft und eine Bildungsdebatte, die Handwerksberufe nicht immer ausreichend wertschätzt oder Eltern, die diese Berufe als – finanziell oder körperlich – unsicher betrachten. „Diese Entwicklung geht weit ins 20. Jahrhundert zurück. Das Studium wurde über die Zeit für immer mehr Jugendliche, Eltern und Lehrer zum Maß aller Dinge. Die Folge: In den Köpfen hat sich das Bild eines rückständigen Handwerks verankert“, ergänzt Jörg Thomae, der zum Handwerk an der Universität Göttingen forscht.

Pedro Cunia kam durch sein Volontariat 2017 bei der Escher Kommune zum Handwerk; währenddessen hat er erstmals einen Einblick in den Elektrikerberuf erhalten. Im Anschluss absolvierte er ein Certificat de capacité professionnelle (CCP) im Centre National de Formation Professionnelle Continue. „Fast die Hälfte meiner Mitschüler brachen während des Schuljahres ab“. Weshalb und was diese Schüler stattdessen machen, weiß Pedro nicht: „Ech hu mech op mäin Ofschloss konzentréiert, dofir hunn ech net vill geschwat“. Die Zweifel der Abgänger hätten sich trotzdem auf ihn abgefärbt; er habe sich gefragt, ob der Weg, den er eingeschlagen hat, „richteg ass“. Forscher vom Liser gingen der Frage nach, warum die Abbruchquote in der Handwerksausbildung hoch ist. Der Weg in die Ausbildung würde mit dem Ende der Schulzeit gleichgesetzt, hält der Bericht fest. Die meisten Jugendlichen sehen sich unter Druck, ihre berufliche Zukunft festzulegen, in einem Alter in dem sie zumeist noch nicht bereit sind eine solch einschneidende Entscheidung zu treffen. Darüber hinaus fehle es an intrinsicher Motivation die Ausbildung abzuschließen, da die Berufswahl den Jugendlichen mangels Optionen von Außenstehenden nahegelegt wurde.

Heute ist Pedro Cunia mit seiner Entscheidung zufrieden; seine Zweifel haben sich verflüchtigt. Er konnte sogar seinen Bruder Carlos für den Beruf begeistern. Carlos sitzt ebenfalls im Baucontainer, er ist noch schmächtiger und zurückhaltender als Pedro. Ihre Eltern unterstützen die Entscheidung, vor allem weil Pedro versichern konnte, dass im Handwerk nach dem CCP weitere Aufstiegschancen bestehen. Das life long learning ist längst im Handwerk angekommen. Karrieremöglichkeiten gibt es mehrere, erläutert Stephan Hawlitzky, Leiter der Abteilung für die Berufsberatung bei der Adem: „Man kann berufsbegleitend weitere Diplome abschließen, Weiterbildungskurse besuchen, Vorarbeiter werden oder die Meisterprüfung absolvieren und selber ein Unternehmen aufbauen.“

In einem großen, aber leeren Konferenzraum in der Berufskammer erläutert Lisa Arendt, Abteilungschefin für den Bereich Ausbildung in der Handwerkskammer, dass derzeit 1 756 Personen in einer Lehre sind. Die meisten schrauben und programmieren im Bereich Elektro-, Heizung- und Sanitärinstallation oder schnippeln und kehren Haare in einem Friseursalon. 88 Lehrlinge sind in einer spezialisierten Ausbildung in der Großregion eingeschrieben, um beispielsweise Gläser zu werden. „In der letzten Dekade wurden 700-800 Verträge mit Azubis vereinbart. Nimmt man das Bevölkerungswachstum in Betracht, kann man schlussfolgern, dass die Zahl stagniert.“ Aber vielleicht drehe sich dies derweil: Die Bereitschaft Lehrlinge aufzunehmen war 2021 so hoch wie noch nie; „die Betriebe leiden unter Nachwuchsproblemen und sind deshalb gewillt, über die Lehre ihre künftigen Mitarbeiter in das Unternehmen hineinwachsen zu lassen“.

„Unsere Motivation ist, die Person nach der Lehre als fester Mitarbeiter/in einzustellen“, bestätigt der Personalchef von Paul Wagner et fils. Aktuell könnte das Unternehmen, das um die 400 Mitarbeiter zählt, weitere 19 Elektriker einstellen, – doch der Andrang auf die Stellenausschreibung bliebe aus. Azubis zu finden sei hingegen einfacher: „Da wir mit den Schulen zusammenzuarbeiten und die Möglichkeit eines Orientierungspraktikum anbieten, kommen wir mit interessierten SchülerInnen in Kontakt“. Zuspruch über die Zusammenarbeit mit den Schulen, kommt ebenso von anderen Unternehmen: „daat leeft perfekt“, äußert der Dachdecker Francis Weyrich. Als er vor dreißig Jahren in den Beruf eintstieg, gab es noch keine Praktika; die Schnupperangebote, die das Schulministerium in die Wege geleitet habe, begrüße er. Zudem sei klar geregelt wann die Azubis im Unternehmen sind und wann in der Schule. „Die schulischen Ansprüche sind zwar heute höher, aber das ist auch gut so“, kommentiert der Dachdecker die Entwicklung. Stellt ein Betrieb ein Lehrling im CCP ein, liegt die Vergütung bei 800 Euro brutto im Monat; 40 Prozent der Summe wird vom Beschäftigungsfond über die Adem zurückgezahlt.

Um Hammer und Nägel zu den Schülerinnen zu bringen, oder umgekehrt, die Schüler zum Schweißgerät oder die Programmierfläche zu verführen, findet dieses Jahr erstmals die YEP (Youth, Education, Profession) Schoulfoire statt. Zu Beginn dieser Woche wurden während der Schoulfoire in der LuxExpo Reifen gewechselt, Wände gestrichen und Stände aufgestellt, damit Arbeitgeber und Berufsschulen die Fragen der Jugendlichen beantworten können. Promi-Besuch bekam die Schoulfoire am Dienstag vom DP-Premier Xavier Bettel. Er postete auf Facebook eine Fotosserie von seinen Gesprächen mit Schulklassen und verkündete, auf der Messe „kënne jonk Schüler fir sech entdecken, wat hinne Spaass mécht a wéi eng Zukunftsperspektiven hinnen opstinn“. Zeitgleich wurde die zehnte Berufsmeisterschaft für Jugendliche unter 21 Jahren abgehalten, die LuxSkills, die von der Handwerkskammer initiiert wurde, „um die Leidenschaft für den Beruf, die Motivation zu Höchstleistungen und die Berufsausbildung regelrecht zu feiern“, wie es etwas überschwänglich auf ihrer Internetseite heißt.

In der LuxExpo trifft man beispielsweise auf Lisa Gerard; sie befestigt graue Schieferplatten an einem Satteldach. Gelegentlich schleift sie Platten zurecht; es fliegen Schieferkrümel quer durch den Umraum. „Ich bin gerne draußen und die Höhe macht mir nichts aus“, meint die junge Dachdeckerin. Sie ist dabei ihre Meisterprüfung abzuschliessen und den Betrieb ihrer Eltern in vierter Generation zu übernehmen. Repetitiv und öde findet Lisa Gerard ihre Arbeit keineswegs: „ob Flachdach oder Pultdach – jedes Dach ist anders und wir experimentieren derweil mit Naturprodukten“.

Die Schieferkrümel – man kann sich fragen, ob sie für das stehen, was man die „eigentliche Arbeit“ nennt. Diese findet zwar auch in Verwaltungsjobs statt, droht aber vor allem hier durch „Gesetze, Vorschriften, Regeln, Richtlinien, einschließlich der selbst gewählten und stets neu hinzukommenden“ aus dem Blick zu geraten, wie der Essayist Wolf Lotter rezent in einem Standard Artikel schrieb. In dem letzten Jahrhundert hat sich der Verwaltungsapparat aufgeblasen. Er ist zu einem Geschäftsmodell avanciert, bei dem wenig Platz für das Konkrete bleibt. Früher kamen auf einen Menschen, der bereit ist, „Löcher zu graben, Lösungen zu erarbeiten, Probleme zu erkennen und aus der Welt zu schaffen, auch wenn das anstrengend ist“, neun Verwalter, heute seien es 99, behauptet Lotter.

Weil luxemburgische Bürger von der staatlichen Bürokratie und dem Enseignement aufgesaugt werden, zugleich aber Infrakstrukturwachstum ansteht, holt das Land sich die Personen, „die Löcher graben“ aus dem Ausland. 51 Prozent der Angestellten sind Grenzgänger. Weitere 34 Prozent sind Einwohner Luxemburgs mit ausländischem Pass. Aus der rheinland-pfälzischen Handwerkskammer heißt es auf Nachfrage: „In der Grenzregion ist der Kampf um die Köpfe und Hände besonders groß, da Luxemburg sehr attraktive Jobs bietet.“ Nun würden in Rheinland-Pfalz ebenfalls etwa 2 000 Fachkräfte fehlen. Aus Dokumenten der luxemburgischen Handwerkskammer gehen erste Überlegungen hervor, Osteuropa als neues Kompetenzen-Resservoir anzuzapfen.

Pedro Cunia geht durch den Rohbau, in dem er gerade Kabel anschließt. Später sollen die Räume mit Ateliers zur Betreuung von geistig Behinderten gefüllt werden sowie Büros für das Personal einer gemeinnützigen Einrichtung. Jetzt arbeiten hier unterschiedliche Handwerker: Heizungsinstallateure, Fliesenleger und Maurer. Beim Kaffeetratsch oder Rauchen sieht man niemanden; es ist zu laut, es gibt zu viel zu tun und überhaupt sei man darauf bedacht, die anderen Arbeiter „net ze stéiren“, sagt Pedro. Er zeigt auf Gittergehäuse an der Decke, die er die „Kanäle“ nennt. Durch die Kanäle soll bald Strom fließen. Von den Wänden und der Decke hängen Kabel: „Die roten Kabel sind für die Feuermelder, die orangen für die Notfalllampen und die weißen für die Steckdosen.“ Pedro gefällt die Arbeit als Elektriker: Sie sei eine gute Mischung aus mit den Händen tätig sein und nachdenken; nachdenken darüber wie das, was auf einem Plan eingezeichnet ist, sich konkret umsetzen lässt. Die Arbeit sei zudem nicht erschöpfend, es sei denn, „wa mer ze vill Kabelen zéien oder wann et am Wanter kal ass“.

Unter den privaten Klein- und Mittelbetrieben besteht die Befürchtung, dass die Gemeinden luxemburgische Staatsbürger abwerben: „Mir hu scho puer mol gutt Elektriker verluer, wëll déi einfach bei eng Gemeng gang sinn“, sagt Joey Thies. „Impeccabel Elektriker“ verlassen KMUs, um bei einer Kommune „eppes ganz aanescht ze maachen“. Der Gemeinsinn lässt vermuten, dass dort möglicherweise handwerkliche Kenntnisse in anspruchslosen Tätigkeiten versanden. Als hochgradig unfair, erachten ausbildende Privatbetriebe die Gemeinde-Konkurrenz, da diese, anders als beispielsweise die CFL, keine Minute in Lehrlinge investieren. Mit Blick auf diese Schieflage schlug der Präsident der Handwerkskammer Tom Oberweis vor, „es müsse wie im Fußball eine Art Transferzahlung geben, wenn Lehrlinge gehen“, wie er unlängst in einem Wort-Interview erwähnte.

„Die Auftragsbücher der Handwerksbetriebe sind voll; die Nachfrage nach Handwerkerleistungen hoch. Gleichzeitig werden die Wartezeiten, bis es für den Kunden zur Durchführung kommt stets länger. Hierdurch wird vielen bewusst, wie wertvoll eine Handwerkerleistung eigentlich ist; häufig handelt es sich dabei um lebensnotwendige Versorgungsfunktionen“, erläutert Jörg Thomae, Volkswirt an der Universität Göttingen. Zwar werden deshalb auch höhere Löhne durch Arbeitnehmerinnen ausgehandelt und es komme allgemein zu einer Imageverbesserung, weil die Wertschätzung für gutes Handwerk steigt. Aber eine Gleichwertigkeit mit anderen Arbeitsstellen, was die Löhne und Sicherheit betrifft, sei nicht zu erwarten, urteilt Thomae. Trotzdem mache er sich keine Sorgen um die Zukunft des Handwerks. Die Volkswirtin Christina Gathmann vom Liser ergänzt: „Der Arbeitskräftemangel im Handwerk ist in gewisser Weise das Ergebnis seines eigenen Erfolgs. In den letzten zehn Jahren wurden fast 30 000 Arbeitsplätze im Handwerksbereich geschaffen. Außerdem wächst der Sektor – vor allem im Bau – trotz der Covid-19-Krise weiter.“ Zugleich würde die gegenwärtigen Lieferkettenprobleme wahrscheinlich zu einer Rückkehr von Produktionsprozessen nach Europa führen.

In der Branche bestehen daneben unvorhersehbare Imagekonjunkturen. „Die vielen jovialen Kochsendungen bewirkten einen Zuwachs in diesem Ausbildungszweig“, erläutert Mike Engel von der Maison de l’Orientation. Diese Konjunktur sei jedoch seit der Pandemie gebrochen, meint Stephan Hawlitzky von der Adem: In der Pandemie haben sich Auszubildende im Gastgewerbe umentschieden, da ihnen die Entwicklungen im Sektor zu unberechenbar schienen. Man könne gar von einer Krise des Gastgewerbes sprechen. Mittlerweile habe sich der Trend hin zum „Maler-Einrichter“ verschoben. Mit angeregt durch Sendungen wie Guidos Deko Queen oder Magazine, die die kreative Seite dieses Berufs betonen: passt ein roter Teppich zu blauen Gardinen? Soll man Pappenstuck an die Decke kleben, ist das stylisch oder schon Kitsch? Mehr SchülerInnen als Posten gibt es zudem im Hairstyling. Darüber hinaus entstauben sich Tätigkeiten: Es ginge beim Handwerk nicht mehr nur darum zwei Leitungen zu verschalten, sondern nahezu darum Mini-Computer zu installieren, so Stephan Hawlitzky.

In der Berufsbildung findet ebenfalls ein Wandel statt. „Manche Ausbildungen verschwinden, wie die des herkömmlichen Druckers“, erläutert Véronique Schaber, Leiterin der Generaldirektion der Berufsbildung am MEN. Andere Berufsbilder verändern sich, „wie das des Fahrradmechanikers, das hin zum Fahrradmechatroniker mutiert. Und mit Hochdruck arbeiten das MEN und die Handwerkskammer daran, bald allen Bereichen der Elektromobilität gerecht zu werden“. Darüber hinaus stünde die Herausforderung an, Azubis gezielter an die Digitalisierung heranzuführen: So greifen Dachdecker heute für die Dachinspektion auf Drohnen zurück und Zahntechniker nutzen den 3D-Druck. In der Handwerkskammer zerbricht man sich derweil den Kopf darüber, wie der Kompetenz-Transfer zwischen den Generationen in der kommenden Dekade gelingen soll: Die Boomer-Generation geht in Rente und hinterlässt ein Loch an Erfahrungswerten in den Unternehmen.

Das Tableau, die elektrische Schalttafel, ist in dem Rohbau, in dem Pedro und Carlos Cunia derzeit arbeiten, noch nicht angelegt. Es wird die letzte Etappe der Elektriker sein. In der Schalttafel fallen Metaphysik und Physik zusammen: Das elektrische Netzwerk, wie es sich Menschen ausdenken, wird dort zusammengebündelt; aus Kabeln und Schaltern wird Licht. Die Cunia-Brüder können dann den Bau verlassen, mit der Gewissheit Handfestes geleistet zu haben.

Stéphanie Majerus
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