Das Projekt Joghurtfabrik macht Koalitionspartner und Opposition nervös. Dabei müsste über die Fage-Prozeduren hinaus entschieden werden, was „nachhaltige“ Industrie-Ansiedlungspolitik sein soll

Industriefreundlich

Eine brachliegende Fläche in der Industriezone Wolser 1 in Luxemburg
Photo: Sven Becker
d'Lëtzebuerger Land du 18.09.2020

Die 15 Hektar große Fläche, die der Joghurtkonzern Fage International dem Luxemburger Staat in der Industriezone Wolser 1 abgekauft hat, grenzt unmittelbar an die Flachglasfabrik Luxguard II. Dort liegt seit März der Glasofen still, Glashersteller Guardian will ihn nicht wieder hochfahren. An die 200 Arbeitsplätze weniger wird es dadurch in der Industriezone zwischen Bettemburg und Düdelingen geben. Etwa genauso viele verspricht Fage in seiner Joghurtfabrik zu beschäftigen, je hundert in den beiden geplanten Ausbaustufen der Anlage. Guardian geht, Fage kommt – dass das geschieht, ist ziemlich wahrscheinlich.

Dabei ist das Vorhaben seit Jahren hoch umstritten. Der Bettemburger CSV-DP-Grüne-Schöffenrat hat es Ende August in seiner mittlerweile vierten negativen Stellungnahme erneut mit viel Kritik abgelehnt. Es sei für Luxemburger Verhältnisse „überdimensioniert“. Das findet auch die Vertragsgemeinschaft der sieben Anrainergemeinden der oberen Alzette, Esch, Schifflingen, Roeser, Bettemburg, Kayl, Monnerich und Sassenheim. Der LSAP-Schöffenrat von Düdelingen dagegen hat dem Projekt prinzipiell zugestimmt, vorausgesetzt, Fage verbessere es noch.

Die diversen Avis aus den Gemeinden wurden in einer entscheidenden Phase geschrieben. Bis Ende August dauerte die öffentliche Konsultation zur Joghurtfabrik. Seit knapp zwei Wochen liegt das 900 Seiten in acht Ordnern umfassende Dossier bei Umweltministerin Carole Dieschbourg (Grüne) und Arbeitsminister Dan Kersch (LSAP). In der „Kommodo-Prozedur“ haben beide 45 Tage Zeit, Ja oder Nein zur Erteilung einer Betriebsgenehmigung für die Fabrik zu sagen. Der Bettemburger CSV-Bürgermeister Laurent Zeimet erklärte vor zwei Wochen, er sei „optimistisch“, dass die Zustimmung am Ende verweigert wird.

Die Kritiken an dem Projekt sind seit Jahren dieselben. Der Trinkwasserverbrauch der Fabrik, wenn sie voll ausgebaut ist, wird mit 2 500 Kubikmetern täglich dem Bedarf von mehr als 23 000 Einwohnern gleichkommen, rechnete der Bettemburger Schöffenrat erneut vor. Die Vertragsgemeinschaft der sieben Anrainergemeinden der oberen Alzette betonen, die 3 100 Kubikmeter Abwasser aus der Fabrik würden eine so hohe Zusatzbelastung für den kleinen und ohnehin nicht sehr sauberen Fluss bilden, dass vor allem die Ammonium-Betandteile im Fage-Abwasser zum Risiko werden können: Bei Niedrigwasser könne die Alzette regelrecht „ersticken“.

Andere Einwände gegen das Projekt sind prinzipiellerer Natur und ebenfalls nicht neu: Was ist davon zu halten, dass die geplante Jahresproduktion der Fabrik von 80 000 Tonnen Griechischen Joghurts für den EU-Markt gedacht ist, und davon, dass die dafür nötigen 180 000 Liter Frischmilch vollständig importiert werden sollen? Einer „nachhaltigen“ Land- und Lebensmittelwirtschaft entspreche das nicht, urteilte der Bettemburger Schöffenrat am 28. August in seinem Schreiben an den Direktor der Umweltverwaltung.

In Wirklichkeit aber sind diese Einwände zum Teil schon überholt. Bei der Umweltverwaltung existiert eine Arbeitsgruppe mit Vertretern der vom Fage-Projekt betroffenen Gemeinden. Die hat dem Projekt Auflagen erteilt. Die Belastung des Abwassers zum Beispiel, die der Vertragsverband der Anrainergemeinden der oberen Alzette anführt, hatte zur Folge, dass Fage auf dem Werksgelände eine Kläranlage errichten wird, die hochmodern ist und leistungsfähiger als jede in den sieben Alzette-Anreinergemeinden. Die Kläranlage muss garantieren, dass das von ihr in den Fluss eingeleitete Abwasser nicht schlechter ist als das Flusswasser ohnehin. So dass sich nun vor allem die Frage stellt, was geschieht, falls die Kläranlage einmal ausfällt – zugegebenermaßen ein spezielles Szenario. Abgesehen davon muss sichergestellt werden, dass das Abwasser aus der Joghurtfabrik höchstens um ein Grad Celsius wärmer ist als das Alzette-Wasser. Deshalb wird der in den Medien schon viel zitierte, rund einen Kilometer lange Kanal zwischen Fabrik und Fluss gebaut: Im Kanal unterwegs soll das Abwasser sich abkühlen.

Dass für Probleme technische Lösungen gesucht und offenbar auch gefunden werden, ist eine Reaktion auf die in Luxemburg geltenden Regeln, wenn es um die Neuansiedlung von Betrieben geht. Die „Kommodo-Gesetzgebung“ verpflichtet vor allem dazu, die „bestmöglichen verfügbaren Technologien“ zu nutzen. Das ist ein EU-Ansatz. „Leider“, sagt die grüne Kammer-Fraktionspräsidentin Josée Lorsché, „gibt die Gesetzgebung nicht viel her, was Umweltkriterien angeht.“ Deshalb könne ihre Parteikollegin, die Umweltministerin, nicht mehr tun, als zu prüfen, ob die technischen Lösungen dem besten Stand entsprechen.

In anderen Worten: Ablehnen kann Ministerin Carole Dieschbourg das Projekt schwerlich, obwohl sie politisch dagegen ist. Andernfalls könnte ein Verwaltungsrichter die Entscheidung wegen Amtsanmaßung annullieren. Doch nicht nur die „Kommodo-Prozedur“ läuft zurzeit. Es findet unter anderem auch eine Umweltprüfung statt, die das Fage-Projekt an Naturschutzbestimmungen misst. Als am gestrigen Donnerstag der parlamentarische Umwelt- und der Wirtschaftsauschuss in einer gemeinsamen Sitzung tagten, gaben Dieschbourg und ihre Beamten dort zu verstehen, dass 31,39 Hektar an Umwelt-Kompensationsflächen in der Nähe der Joghurtfabrik zu definieren bleiben. Das ist immerhin mehr als das Doppelte der 15 Hektar für die Fabrik selber. Dem Vernehmen nach sind die Kompensationen unter anderem nötig, weil sich auf dem Fage-Terrain Schwarze Milane aufhalten, eine geschützte Art. Die Kompensationsflächen müssen so gewählt werden, dass die Milane von allein dorthin migrieren. Die Ausweisung dieser Flächen wird vor allem Zeit kosten – wie die Dinge liegen, müssen Umklassierungen zwischen dem staatlichen Plan sectoriel für Gewerbe- und Industriegebiete und kommunalen Flächennutzungsplänen (PAG) in Bettemburg und Düdelingen vorgenommen werden.

Dass über den Planungen immer mehr Zeit vergeht, beginnt innerhalb der Koalition bei LSAP und DP für Nervosität zu sorgen. Abgesehen von allem Prozeduralen, das lediglich technisch klingt, steht die LSAP hinter dem Fage-Projekt. Wenngleich es allen lieber wäre, der frühere Wirtschaftsminister Etienne Schneider hätte die 15 Hektar in Wolser 1 nicht an Fage verkaufen lassen, sondern lediglich ein Nutzungsrecht dafür vergeben. Aber nicht nur die Sozialisten, sondern auch die DP hätte kein grundsätzliches Problem mit der Joghurtfabrik, sofern die allen gesetzlichen Forderungen entspricht. DP-Fraktionspräsident Gilles Baum findet: „Fage bekam immer wieder gesagt: Ihr müsst! Daraufhin passten sie sich an. Aber wenn man immer mehr von ihnen will, muss man sich irgendwann fragen, ob das noch geht.“ Sei ein Industrieunternehmen in Luxemburg „zu lange unterwegs mit einem Projekt, dann macht das keinen guten Eindruck. Dann entsteht womöglich ein Imageschaden“. Bei allem Verständnis für die Bedenken der Grünen, etwa wegen des hohen Wasserverbrauchs der Fabrik, „müssen sie sich fragen, was sie wollen, wenn andererseits das Gewicht des Finanzplatzes an unserer Wirtschaft für zu hoch gehalten wird“.

Was illustriert, dass Dieschbourg sich mit dem Fage-Dossier zwischen Baum und Borke befindet. Zwischen Koalitionspartnern, die ihr implizit vorhalten, sie politisiere Prozeduren, und der Opposition, die zu verstehen gibt, das Projekt gehöre eigentlich verhindert. „Es bringt keinen Mehrwert für unser Land!“, trumpft CSV-Fraktionspräsidentin Martine Hansen auf. Zum Google-Datenzentrum habe die CSV prinzipiell Ja gesagt, weil es in den Luxemburger IT-Cluster passe. Bereite es Probleme, müssten sie gelöst werden. „Dagegen würde die Milch für die Joghurtfabrik komplett importiert und auf dem Spot-Markt eingekauft, wo sie besonders billig ist. Der Joghurt wird exportiert. Damit bringt Fage auch unserer Landwirtschaft nichts.“

Nach der Sitzung der parlamentarischen Ausschüsse gestern Vormittag war Hansen noch fassungsloser. Denn dort war offenkundig geworden, dass beim Verkauf des Grundstücks in der Industriezone Wolser 1 an Fage für 30 Millionen Euro beziehungsweise 20 000 Euro den Ar zwar ein Vorkaufsrecht für den Staat vereinbart wurde – falls Fage aus irgendeinem Grund wieder verkaufen sollte. Nichts abgemacht wurde dagegen über den in diesem Fall geltenden Preis. „Da könnte Fage mehr verlangen“, empört Hansen sich. Kein Luxemburger Klein- und Mittelbetrieb bekomme ein Grundstück verkauft. Mit Fage aber habe die Regierung nicht nur „Fakten geschaffen“. Da rauszukommen, könnte außerdem teuer werden. Auch Josée Lorsché sagt lakonisch, „ein Ar Bauland kostet in Bettemburg 80 000 Euro“ – so dass von 20 000 Euro für den Ar Gewerbezonenland Luft nach oben zu bestehen scheint.

Dass Fage das Grundstück gehört und bei einem Scheitern des Projekts Joghurtfabrik dem Staat ein teurer Rückkauf drohen könnte und vielleicht obendrein Schadenersatzforderungen, ist ein Damokleschwert, das über den laufenden Prozeduren schwebt. Dabei stellt sich ganz abgesehen davon die Frage, wie in Zukunft die Ansiedlungspolitik neuer Industriebetriebe aussehen soll. „Etienne Schneider hat auf Prospektionsreisen Kontakte geknüpft, wie er wollte“, sagt Josée Lorsché, „aber vor zwei Jahren hat auch er gesagt, Fage sei das letzte Projekt der alten Generation gewesen.“ Im Koalitionsvertrag der Regierung steht, dass die Kommodo-Gesetzgebung abgeändert und dass ein „Nachhaltigkeits-Check“ für Neuansiedlungen eingeführt werde. Die grüne Fraktionschefin findet den Koalitionsvertrag deshalb „in diesem Punkt richtig super“.

Doch noch haben innerhalb der Regierung weder die Arbeiten an einem Kommodo-Gesetz begonnen, in dem stünde, wie viel Ressourcen ein neuer Industriebetrieb verbrauchen dürfte, noch an dem Nachhaltigkeitscheck. Und natürlich würde die Frage sich stellen, was „nachhaltig“ bedeuten soll. „Das bleibt zu diskutieren“, sagt der DP-Fraktionschef. Auch die CSV-Fraktion scheint in dem Punkt nicht grüner sein zu wollen als die Grünen, denn Martine Hansen erklärt, „nachhaltig“ bedeute nicht allein Ökologie, sondern auch Ökonomie und Soziales, und dass die neuen Regeln auf keinen Fall zu mehr Bürokratie dürften. Was sich fast anhört, als dürfe Fage zugemutet werden, was Luxemburger Klein- und Mittelbetrieben erspart bleiben soll.

Doch die Verhältnisse sind noch komplexer. Sowohl Martine Hansen als auch der Lénk-Abgeordnete David Wagner waren nach der Sitzung der parlamentarischen Ausschüsse gestern Vormittag nicht einverstanden damit, dass die Umweltministerin dort erklärte, im Falle einer Trockenheit sei es nicht am Staat, festzulegen, ob die Bevölkerung oder die Industrie Priorität beim Zugang zu Trinkwasser habe – sondern dass die interkomunalen Trinkwasserzweckverbände entscheiden entscheiden müssten. „Da kriegen im Prinzip die Gemeinden den Schwarzen Peter“, klagte Wagner gestern gegenüber RTL.

Gut möglich ist aber, dass Carole Dieschbourg Recht hat mit ihrer Einschätzung, denn Trinkwasserversorgung und Abwasserbehandlung sind in Luxemburg Sache der Gemeinden. Und 2018 war es der Süd-Trinkwasserzweckverband SES, der Fage versicherte, der Joghurtfabrik so viel Wasser zu liefern, wie von ihr verlangt, sei kein Problem. Als Dieschbourg kurz darauf andeutete, der SES müsse dafür seine Infrastruktur erweitern, was in den Mitgliedsgemeinden zu Wasserpreiserhöhungen führen werde, widersprach der SES mit seinem Präsidenten, dem Roeser LSAP-Bürgermeister Tom Jungen, kategorisch.

So dass die Frage, wie freundlich gegenüber der Industrie im Allgemeinen und wie freundlich gegenüber einer besonders „nachhaltigen“ Industrie Luxemburg auftreten will, auch davon abhängt, was der Staat steuern darf und was die Gemeinden. Woran sich auch entscheidet, wie viel politique politicienne dabei eine Rolle spielt. Vielleicht aber kommt es gar nicht dazu, dass über „nachhaltige“ Ansiedlungen nachgedacht wird. Vielleicht gilt angesichts von Corona-bedingter Rezession, was Etienne Schneider gegenüber dieser Zeitung vor zweieinhalb Jahren über seine Bemühungen erzählte, 2012 erst das Fage-Hauptquartier nach Luxemburg zu ziehen und vier Jahre später dem Joghurt-Multi zu produktiver „Substanz“ zu verhelfen: „Als ich das Mandat von Jeannot Krecké als Wirtschaftsminister übernahm, hatten wir Wachstumsraten von einem Prozent, und wir hätten alles dafür getan, mehr Wachstum zu schaffen“ (d’Land, 16.2.2018). Dazu passt auch, dass in dem Fage-Dossier offenbar ein wirtschaftspolitischer Verweis auf das Regierungsprogramm 2004 von CSV und LSAP steht, und auf das Ziel, die Wirtschaft zu diversifizieren, wo es nur geht.

Unterdessen ermittelt über Fage International die Staatsanwaltschaft, nachdem Paperjam vergangene Woche gemeldet hatte, der Konzern habe 53 Millionen Euro an fiktive Berater gezahlt. Justizsprecher Henri Eippers bestätigte dem Land, dass untersucht werde, „inwieweit diese Informationen richtig sind“.

Peter Feist
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