LEITARTIKEL
 

Keine Zeit

d'Lëtzebuerger Land vom 17.03.2023

Im Spätkapitalismus ist neben Geld Zeit zur kostbarsten Ressource geworden. Das beweisen nicht nur die zahlreichen Sachbücher, die zu Zeitpolitik erscheinen – übrigens meistens von Frauen geschrieben, die die Nase ein wenig voll haben –, sondern auf unterschiedliche Weise auch das, was Politiker/innen jeglicher Couleur sich als familienpolitische Ansätze im Wahlkampf auf die Fahnen schreiben. Wie eng beide Ressourcen miteinander verstrickt sind, zeigt sich an den gegenwärtigen Debatten über Kinderbetreuung und Care-Work.
Tatsächlich liegt es nicht, wie einem das polierte Instagram-Accounts suggerieren, am eigenen Leistungsdefizit und somit am Individuum, wenn Familie und Arbeit heute nicht mehr unter einen Hut passen, sondern an gesellschaftlichem Gestaltungswillen. Wenn die CSV-Kofraktionspräsidentin Martine Hansen kürzlich in einer Art Heimspiel vor der CSV-Nord stand und die Einführung einer finanziellen Vergütung für Eltern forderte, die zuhause ihre Kinder betreuen, und damit reichlich Applaus erntete (es sei darauf hingewiesen, dass die allermeisten Anwesenden sich kaum mehr in der Rushhour des Lebens befinden), ist das ihre Art, ein moralisch aufgeladenes Themenfeld politisch zu besetzen. Immerhin hatte die ADR sich ebenfalls für eine solche Kompensation ausgesprochen.
Im Gespräch mit Radio 100,7 am Montagmorgen gab sich Hansen dann nuancierter, sprach über die Wichtigkeit der Qualitätssicherung von Betreuungstrukturen. Dabei streifte sie nur kurz den großen Elefanten im Raum, nämlich die durch die Wohnkosten verursachte Wahlunfreiheit vieler Familien, die es sich nicht leisten können, weniger zu arbeiten. Trotzdem, und dies wiederholte sie mehrmals, „de Staat soll nit Decisiounen huelen“. Die CSV versucht mit dieser Position, ihre konservativen Wähler/innen nicht an die ADR zu verlieren, und muss irgendwie den Spagat zwischen Pragmatismus und Attraktivität gegenüber der Basis schaffen.
Wie man es dreht und wendet, Familien brauchen Zeit für Fürsorgearbeit. Ob diese Zeit finanziell kompensiert werden soll, ist debattierbar, und wird übrigens auch von fortschrittlichen Frauenrechtler/innen immer noch unterschiedlich bewertet. Beim Begriff Mammerent à la Juncker läuft es vielen den Rücken kalt runter – immerhin liegt das Risiko für Frauen, in Altersarmut abzurutschen, auch hierzulande in Untersuchungen konsequent höher als bei Männern – doch die zu entlohnende Arbeit sollte vom Geschlecht entkoppelt gedacht werden. Das kann man als utopisch bezeichnen, denn in der Realität würde es aller Wahrscheinlichkeit nach darauf hinauslaufen, dass vorrangig Frauen Geld für ihre Arbeit zuhause in Anspruch nähmen. Auch deshalb sind politische Maßnahmen in diese Richtung mit Vorsicht zu genießen.
In den Diskurs der CSV und ADR spielt nämlich auch eine normierte Vorstellung der perfekten, ausgeglichenen Mutter mit rein, die problemlos und mit einem Lächeln auf den Lippen die unaufschiebbaren Bedürfnisse ihrer Kinder jederzeit zufriedenstellt. Auch wenn diese Denkstruktur veraltet ist, steht fest, dass niemand, der gestresst ist, ein Kind trösten kann, weder in einer Betreuungstruktur noch auf der Couch im eigenen Wohnzimmer. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass eine auf Empathie ausgelegte Familienpolitik ohne zeitliche Entlastung der Eltern und ohne Flexibilisierung der Arbeitswelt nicht möglich ist. Quasi ein intelligenter Gegenentwurf, um der Entgrenzung zwischen Privatem und Arbeit vorzubeugen. Eine Gesellschaft, die sich ad absurdum beschleunigt und grundlegende Bedürfnisse nicht mehr zufriedenstellen kann, ist für niemanden wünschenswert.
Auf ihrem Kongress hatte sich die LSAP letzte Woche implizit für eine allgemeine Arbeitszeitreduzierung bei vollem Lohnausgleich ausgesprochen, andere Länder seien dadurch „regelrechte Magnete für junge Menschen und Talente geworden“, so Parteipräsidentin Francine Closener. Da die Regierungsparteien ein Elterngeld, wie es CSV und ADR vorschlagen, ausschließen, wollen sie über andere Wege an der Work-Life-Balance schrauben. Etwa über das Steuerrecht oder Elternurlaube, wie déi Gréng vage formulieren. Man darf in diesem Wahljahr konkretere politische Visionen zur Vereinbarkeit erwarten.

Sarah Pepin
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