Die kleine Zeitzeugin

Warten auf den Messias

d'Lëtzebuerger Land du 09.10.2020

Starker Stoff, ein verheißungsvolles Raunen geht durch die Medien, Oberarme bieten sich an, Spritzen werden flott gezückt. Bis wieder ein Experte abwinkt, doch nicht, noch nicht, nicht wirklich. Er wird kommen, ja. Irgendwann, sicher, irgendwann sicher. Oder auch gar nicht. Nie. Aber oho, wir haben ja AHA! Bis dahin. Bis er da ist.

Aber schon winkt wieder jemand mit Stoff, dem besten, der derzeit zu haben ist, starker Stoff, haut sogar das Virus um. Nur noch ein paar Studien, nur noch ein paar arme Studierende, die ihn sich mal schießen lassen, nur noch freie und willige russische Soldaten, nur noch Legionen von billigen Willigen, nur noch ein paar Kamikaze-Idealist/innen, die machen es für die Welt, statt für Geld. Dann, dann ist er auf dem Supermarkt, auf den die Welt starrt, sie will endlich erlöst werden. Vaccines, herzflattert es an den Börsen.

Der russische Präsident opfert seine Tochter, wie biblisch ist das. Jetzt wird sogar gemunkelt, der amerikanische Präsident sei ein Versuchskaninchen gewesen. Man hätte eben alles versucht.

Mitten in der dräuenden Düsternis sucht uns eine Erscheinung heim. Sie kommt von oben, wie es sich gehört. Aus einem Helikopter steigt ein maskierter Mann, er trägt einen dunklen Anzug, ein weißes Hemd, die Jacke ist lässig geöffnet. Er erklimmt die Stufen, die zu einem imposanten Haus führen im imperialen Buttercrèmetortenstil. Es wird das weiße genannt. Er betritt den Balkon und steht da. Erst mal so, da, in der vertrauten, zugleich angespannten und pseudo-lockeren Haltung, der frontale Schiffsbughaarbusch auf Angriff getrimmt.

Er nimmt die Maske ab, mit einem Ausdruck der Genugtuung stopft er sie in die Jacketttasche. Er zwinkert der Fangemeinde vor den Bildschirmen zu, wirft einen Komplizenblick in die Runde, steht noch ein Weilchen in der typischen, zugleich starren und schlaffen Pose. Der Mann, der uns erscheint, ist ja keineswegs ein Unbekannter. Dennoch ist sein Auftauchen oder vielmehr sein Herabsteigen überraschend. Er zeigt nach oben zeigende Daumen, setzt routiniert den Krieger- Blick auf, winkt und trottet hinein. Kurz danach alles Retour, noch mal, noch mal Balkon, auf den Balkon, noch mal Einnehmen der Pose, noch mal Movie Star. Die Inszenierung der Inszenierung ist öffentlich. Sie findet vor der Kulisse statt.

Auf CNN wird in dieser Nacht diese Szene endlos wiederholt. „He didn’t wear a mask!“, wiederholen die Moderator/innen und Kommentator/innen genauso endlos. Genauso fassungslos. Mit der, seitdem der unfassbare Mensch dieses weiß genannte Haus bezogen hat, schon in ihre Gesichter eingemeißelten Mischung von Betroffenheit und Bestürzung und Abscheu. Diese Versteinerung, die sie nach der ersten Schockstarre vor vier Jahren befiel, präsentieren die paar wenigen Kommentator/innen bis heute. Das Angebot an Kommentator/innen und Expert/innen auf dem Globalsender CNN ist ja ein frappierend mickriges. Genauso frappierend wie die Tatsache, dass in einem Gebiet wie den USA, dem Freiheit und Auswahl offiziell ein so großes Anliegen sind, nur zwei tödliche Kandidaten aufeinandertreffen. Der leibhaftige Amtsinhaber und sein alles andere als herausfordernd wirkende Herausforderer.

Kaninchenstarren auf den Drachen, huch!, er ist wieder auferstanden. Aber er atmet schwer!, diagnostizieren die Beobachter/innen. Das Er-trug-keine-Maske-Mantra wird in allen Abstufungen und Tonarten vorgetragen, von zutiefst besorgt über hysterisch bis zynisch-verzweifelt. Wie Empörungsautomaten schütteln sie den Kopf über den gemeingefährlichen Schwachkopf, der Dauerempörungsredestrom ergießt sich über die Zuschauer/innen. Auf dass auch der Letzten in der letzten Bank dämmere, was für einen unverschämten, gemeingefährlichen Schwachkopf sie keinesfalls wählen soll. Parallel zu der immer wiederkehrenden Erscheinung des Mannes, der sich so nonchalant von der Maske befreit, läuft die Totenzählung.

Plötzlich erscheint ein Spot, der den Blick ins Universum öffnet, Sphärenklänge erklingen, frohe Kinderstimmen ertönen. Die Kinder schicken Grüße ins Universum. Die amerikanischen Kinder grüßen die Bewohner/innen des Weltalls.

Michèle Thoma
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