Binge Watching

Am Abgrund

d'Lëtzebuerger Land vom 09.10.2020

Der Sender HBO gilt weithin als zentraler Akteur in der Geschichte des Fernsehens, der den Wendepunkt zum Quality TV – der Begriff ist durchaus umstritten – maßgeblich mitbestimmte. Im Gegensatz zu herkömmlichen Fernsehserien wird HBO von seinen Abonnenten finanziert und unterliegt so auch nicht den Vorschriften der Zensurbehörden. Streaming-Dienste wie Netflix oder Amazon Prime sind dem Beispiel gefolgt. Diese Qualitätsserien zeichnen sich gegenüber frühen Fernsehproduktionen durch aufwändigere Inszenierungen, komplexere narrative Strukturen und durch bekannte Schauspieler/innen und Regisseur/innen aus, die somit zu einem reiferen, anspruchsvolleren Fernsehangebot beitragen sollen. Der lang genutzte Werbespruch „It’s not TV. It’s HBO“ trifft den Punkt: HBO versteht sich aufgrund dieser Alleinstellungsmerkmale als deutlich prestigeträchtiger als das reguläre Fernsehen. Das trifft auch in besonderer Weise auf die 2014 gestartete Serie True Detective zu: 1995 führt die Entdeckung der Leiche einer Prostituierten in mysteriöser Gebetshaltung die beiden Ermittler Rust Cohle (Matthew McConaughey) und Martin Hart (Woody Harrelson) in ein Netz, das bis in die Strukturen hoher Machtinhaber der Politik und der Kirche Louisianas reicht. Die Handlung ist über drei Zeitschienen der Jahre 1995 – 2002 – 2012 strukturiert, die mittels Vor- und Rückblenden ineinander gearbeitet sind.

Diese komplexe narrative Struktur entstammt der Feder von Romanautor Nic Pizzolatto, der eine Miniserie konzipierte, die einem Film gleicht, der sich auf 480 Minuten in acht Folgen ausbreitet. Gestützt durch die Regie Cary Joji Fukunaga lässt True Detective die Grenzen zwischen Film- und Serienerlebnis diffus werden. Die Besetzung prominenter Schauspieler, die man eher aus Kinoproduktionen kennt, hat an dieser Wirkung ebenfalls Anteil: Woody Harrelson und Matthew McConaughey wurden effektvoll gegenbesetzt. Harrelson spielt Martin Hart, einen geselligen Familienvater, dem mit Rust Cohle ein angespannter, eigensinniger Partner zugeteilt wurde. Dieser Cohle ist ein augenscheinlicher nihilistischer Misanthrop, der gerne über die Nichtigkeit der menschlichen Existenz philosophiert, seine Gedanken sind als Kommentar, der sehr von der sanft-einhüllenden Stimme McConaugheys profitiert, über die Bilder gelegt. Harrelson und McConaughey entwickeln die Rollen zu einem Psychogramm zweier gebrochener Männer, denen keine stabilen Beziehungen mehr gelingen wollen, auch nicht zu sich selbst. Allein das Verbrechen bindet und das lässt, wie für den Krimi typisch, beide Männer tief in die Abgründe menschlicher Triebe blicken. Das zeigt sich allein schon an der rituellen Herrichtung des Opfers und dem mit mythischen Subtexten unterlegten Tatort – in dieser Neukombination von Versatzstücken aus mythischen Kontexten mit neuen, modernen Krimigeschichten liegt ein zentraler und wirkungsmächtiger Spannungsfaktor von True Detective.

Die visuelle Ästhetik der Serie, insbesondere die dramatisierende Nutzung von Landschaften, war maßgebend für viele weitere Krimifilme und -serien. Von der spanischen Produktion La isla mínima (2014) zu dessen Remake Freies Land (2019) von Christian Alvarts bis zu der luxemburgischen Serie Capitani. Immer wieder fliegt die Kamera von Adam Arkapaw über die düster aufgeladenen Landschaften von Louisiana: verfallene Gebäude und herabgekommene Schuppen, sumpfige Küstenmärsche, grell-grüne Mangrovenwäldern und qualmende Schornsteine einer desolaten Raffinerie. Die Intro-Sequenz verdichtet diese Bildmotive mit einem nahezu hypnotischen Song Far From Any Road des Musikerpaares The Handsome Family, zu einer Sogwirkung, die eindringlich in ihren Bann zieht. Die Serie wurde seitdem um eine zweite und dritte Staffel erweitert, diesmal mit Colin Farrell und Vince Vaughn mit dem Schauplatz Los Angeles oder noch mit Mahershela Ali oder Stephen Dorff in Arkansas, ohne dabei aber annähernd die Qualität der ersten Ausgabe aufrechtzuerhalten.

Auf Bluray und DVD verfügbar

Marc Trappendreher
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