Die Primaner nähern sich dem Übergang, über den sie seit Jahren hören, dem Premièresexamen. Besuch am Lycée Hubert Clement in Esch

Examen, Lloret, Dinnerdance

d'Lëtzebuerger Land vom 28.04.2023

Im bosnischen Mostar springen seit 400 Jahren junge Männer von der 24 Meter hohen Brücke ins eiskalte Wasser des Neretva-Flusses. Eine Tradition, die nicht nur als Mutprobe sondern auch als Initiationsritual zu verstehen ist. Bei den afrikanischen Massai war es Usus, Jungen mit einem Speer bewaffnet in die Wildnis zu schicken, um einen Löwen zu erlegen. Brachten sie eine Mähne nach Hause, waren sie offiziell Jäger – und Männer. Offiziell eine Frau ist man in einigen nicht-westlichen Kulturen, wenn man beginnt, zu menstruieren. Um diesen Zeitpunkt herum organisieren die Sioux etwa die viertägige Zeremonie Isnati Awica Dowanpi, während der Mädchen von ihren Müttern und anderen älteren Frauen der Gemeinschaft gefüttert werden, Blumen und Heilpflanzen für die Abschlusszeremonie sammeln und über das Leben als erwachsene Frau lernen.

Mit dieser Art von Übergangsritual hat das, was die Primaner/innen in den nächsten Wochen durchleben, wenig gemeinsam. Derzeit drücken sie die Schulbank noch, eine Woche und zwei Tage verbleiben, bis sie die Examen schreiben und anschließend zum Teil nach Lloret de Mar reisen, um sich die Kante zu geben. Das luxemburgische Schulsystem hat sie praktisch seit der Einschulung auf diesen Abschlussritus eingestellt. An einem Freitagnachmittag sitzen am Lycée Hubert Clement in Esch (LHCE) eine Handvoll Primaner im Informatiksaal, sie stammen aus verschiedenen Sektionen und arbeiten unter der Leitung der Deutsch-Sekundarlehrerin Enesa Agovic (die für die LSAP bei den Gemeindewahlen in Esch kandidiert) im Optionskurs an der Schülerzeitung LHCE Times. Diese Woche ist Motto-Woche, jeden Tag verkleiden sich die Schüler, heute lautet der Dresscode schick. Weißes Hemd und schwarze Hose für die jungen Männer, langes Ballkleid und hohe Schuhe für viele der jungen Frauen, und damit fast eine Anprobe für das bevorstehende Dinnerdance nach der Diplomüberreichung.

Am ersten Tisch sitzen Yannick und Alex und recherchieren für einen Artikel über Missbrauch an Minderjährigen. Yannick will Veterinärmedizin oder Physiotherapie studieren, angemeldet hat er sich in Frankreich und Deutschland. Alex weiß schon länger, dass er nach dem Abschluss die zweijährige Berufsausbildung zum Polizisten absolvieren will. „Das Examen hat immer sehr weit gewirkt, jetzt steht es vor der Tür“, sagt Yannick. Gestresst sei er nicht, sagt er – was würde es bringen, sich unter Druck zu setzen für etwas, wo man eh nur sein Bestes geben und auf ein gutes Resultat hoffen könne. Shelly, die hinter ihnen arbeitet, sieht das anders, von Anfang habe es „sehr viel Druck“ gegeben, den sie sich zugegebenermaßen auch selber mache. „Das Abschlussjahr ist aber das Jahr, in dem die eigene Persönlichkeit wächst“, was nötig sei, meint sie. Auch wenn man nicht wisse, was auf einen zukommt, käme die Veränderung gelegen, immerhin würde man dadurch auch neue Facetten an sich entdecken. Zu Beginn des Schuljahres wusste sie noch nicht, wo sie hinwill, nun hat sie sich auf Psychologie in Frankreich festgelegt. Alle drei freuen sich auf Lloret de Mar (ein Ferienort mit Schmiss und Schwung schrieb das Luxemburger Wort bereits 1976) – wo das Ziel im Grunde sei, „sech ewech ze geheien“.

In seinem Buch Rites of Passage unterscheidet der Ethnograf Arnold van Gennep drei Phasen der Transitionen, erst die Trennungsphase, dann die liminale Phase, die den eigentlichen Übergang darstellt, und schließlich die post-liminale Phase, die Reintegration. „Whoever passes from one to the other finds himself physically (…) in a special situation for a certain length of time: he wavers between two worlds. It is this situation which I have designated a transition, and one of the purposes of this book is to demonstrate that this symbolic and spatial area of transition may be found in more or less pronounced form in all the ceremonies which accompany the passage from one social (…) position to another.“ Victor Turner, britischer Ethnologe, baute auf van Genneps Arbeit auf, mit einem Fokus auf die liminale Phase, in der man weder dem Vorangegangenen angehört, noch ganz in einem neuen Abschnitt angekommen ist. Die Primaner/innen steuern auf diese ambivalente Phase zu, nach den Examen entfernen sie sich aus ihrem üblichen Umfeld, um das Unbekannte anzusteuern – sie stehen auf einer Schwelle.

Luana arbeitet weiter hinten im Saal an einem Artikel über Lebensmittelverschwendung. Sie findet es schwierig, mit dieser Art von Ungewissheit umzugehen. „Ich mag es, wenn ich die Dinge unter Kontrolle habe“, sagt sie. Sie schaut den Examen mit viel Nervosität entgegen und oszilliert zwischen Verdrängen und Panik. Auch sie hofft, Psychologie in Frankreich studieren zu können. Almira macht ihre Première zum zweiten Mal und ist umso aufgeregter, weil sie es jetzt unbedingt schaffen will, um nach Köln Germanistik studieren zu gehen. Die letzten Wochen hat sie zudem den Ramadan während des Lernens eingehalten. Das Schwierigste daran sei gewesen, kein Red Bull zu trinken.

„Übergänge erfolgreich zu meistern, ist im Prinzip eine Entwicklungsaufgabe für das ganze Leben“, sagt Isabelle Albert, Assistenzprofessorin für Entwicklungspsychologie an der Universität Luxemburg. Die Phase, in die sich die Absolvent/innen nun hinein begeben, also jene zwischen 18 und 25, bezeichnet der US-Professor für Psychologie Jeffrey Arnett seit Beginn der Nullerjahre als emerging adulthood. Als Konzept sei es nicht unumstritten in der Forschung, erklärt Isabelle Albert, denn es ist vor allem in westlichen, industrialisierten Kulturen beobachtbar, bei jungen Erwachsenen, die einen höheren Bildungsabschluss anstreben.

Albert spricht von einer Phase, die davon gekennzeichnet ist, dass man „vieles noch ausprobieren“ kann, die Pflichten jedoch weniger zahlreich sind als später im Leben. Das sei positiv, berge aber auch Probleme. „Die Vorgabe lautet: Entfalte dich, so gut es geht – zu wissen, was die optimale Entscheidung, ist aber für viele nicht so einfach, da man das eigene Handeln durch den Druck anders bewertet.“ Den eigenen Weg zu finden, ist schwieriger geworden, sagt sie. Die Grundlagen für ein erfolgreiches Meistern der multiplen Aufgaben seien vielfältig, zum einen sei ein sicherer Hafen, also eine gute Bindung zu den Eltern wichtig, aber auch das restliche Umfeld wie Freunde und Partner spielten hier eine wichtige Rolle. Resilient müsse man sein, das viel beschworene Buzzword, und das hänge zum Beispiel damit zusammen, wie man in der Vergangenheit gelernt hat, seine Emotionen zu regulieren, oder ob man kognitiv umstrukturieren kann, wenn etwas nicht wie geplant verläuft. „In der Vergangenheit war stärker festgelegt, was wann passiert, und man hat diese Übergänge oft religiöser Natur mit anderen gemeinsam gefeiert.“ Da heutzutage nicht mehr alle alles zur selben Zeit machen, viele Normierungen verschwunden sind, kann auch Identitätsstiftendes wegfallen.

Im Foto-Optionskurs in Esch hockt eine weitere Handvoll Primaner an ihren Computern und bearbeitet von ihnen geschossene Bilder. Die meisten wirken aufgeschlossen, erzählen bereitwillig über ihre Freuden und Niederlagen der letzen Monate. Seit Corona habe sich zunehmend durchgesetzt, dass einzelne Freundeskreise gemeinsam verreisen und nicht mit nach Lloret fahren, erzählt Matthis. „Well iergendwéi ass et och langweileg, einfach nëmmen duerch ze saufen.“ Auch er beabsichtigt, Psychologie zu studieren, um später als Therapeut zu arbeiten. Dass sie sich weniger anstrengen oder später keine Vollzeitwoche mehr in Kauf nehmen würden, lehnt Matthis ab. Disziplin habe man schon im letzten Jahr Gymnasium inne und müsse man ja auch während des Studiums zeigen. Der Konkurrenzdruck, immer besser zu sein, komme von überall, im Sport, bei manchen von den Eltern, von Social Media. Seine Mitschülerin Jana und er haben Tiktok, Snap und Insta von ihren Handys desinstalliert, um sich besser aufs Lernen konzentrieren zu können. Jana will genauso wie ein paar andere Interviewte erstmal ein Gap Year einlegen: Sie fängt in Neuseeland mit ihrer Weltreise an.

Zur Praxis des Gap Years oder des Studienabbruchs oder -wechsels gibt es hierzulande keine Daten. Mike Engel, Direktor der Maison de l’orientation, glaubt an die Wichtigkeit von handfesten Erfahrungen während der Schulzeit, um sich besser vorstellen zu können, was zu einem passt und was man machen will. Vor allem im klassischen Lyzeum fehle es den Schüler/innen zum Teil an handfesten Erfahrungen zur Berufsorientierung. Er bestätigt, dass immer mehr junge Menschen in die Maison de l‘orientation kommen, die ein Jahr Pause machen wollen, um entweder zu arbeiten und herauszufinden, was sie studieren wollen, oder um ein freiwilliges soziales Jahr einzulegen. „Eigentlich wiederholt sich der Zyklus immer wieder, den die Jugendlichen machen müssen – er besteht in der Selbstreflexion und der anschließenden Informationssuche.“ Dass die jungen Erwachsenen oft nur am gegenwärtigen Moment interessiert seien, könne den Prozess komplexer machen.

Als die modernisierte Schulglocke im LHCE läutet, verschwinden die Schüler/innen schneller zum Bus und Auto, als man Mention très bien sagen kann. Ihre Sekundarlehrerin Enesa Agovic bleibt im Saal zurück. Sie beobachtet, dass viele ihrer Schüler/innen sich im Hinblick auf das Abitur verrückt machen und mit dem Druck des Examens immer schlechter zurecht kommen – und das, obwohl die akademischen Anforderungen eigentlich gesunken seien. „Ich sage ihnen im Moment öfter, dass sie weder die ersten noch die letzten sind, die dieses Examen schreiben werden.“

Sarah Pepin
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