Redemption Now stellt die bisherige Tradition des Jüdischen Museum Berlin in Frage, die Ausstellung von Yael Bartana provoziert

Erlösung durch Zerstörung und Neuerfindung

d'Lëtzebuerger Land du 03.09.2021

Eine Rachegöttin hat Berlin erobert – und das im bislang mehr als alles andere auf Versöhnung setzenden Jüdischen Museum. Auf einem Esel sitzend, reitet sie durch die alt-neue „Reichs“-Hauptstadt und schreitet historisch brisante Orte ab. Die Siegessäule, der deutsche Bundestag, das Strandbad Wannsee, die Gleise in Grunewald sind mit einem Mal geprägt von jüdischen Symbolen, die Straßenschilder sind hebräisch und heißen unter anderen. „Platz der Befreiung“. Bewaffnete Soldaten laufen durch die Stadt. Bücher und Stühle fliegen in Zeitlupe aus Berliner Wohnhäusern. Die Malka Germania setzt auf Symbolik und das Auslösen von Assoziationen – bis hin zum Auftauchen von Albert Speers Modell der Stadt Germania aus dem Wannsee. Die allgegenwärtige Präsenz des Jüdischen im öffentlichen Raum überrascht und bietet das Gegenbild. Implizit ist darin die Frage: Wie wäre es, wenn es die Shoah nicht gegeben hätte? Diese Utopie stellt jedenfalls die Installationskünstlerin Yael Bartana in einer der zentralsten Videoarbeiten der Ausstellung vor; eine in weißer Unschuld gekleidete „Göttin“ oder „Gesandte“ besucht die historisch verbrannten deutschen Orte, eine messianische Erscheinung. Ist dies über 70 Jahre nach der systematischen Vernichtung jüdischen Lebens eine Form der Erlösung und Befreiung? Malka Germania ist mit gut 40 Minuten das Herzstück der neuen Wechsel-Ausstellung Redemption Now im Jüdischen Museum Berlin (JMB). Die Ausstellung vereint 50 frühe und neuere Arbeiten, kreist thematisch um das Auftragswerk.

Sehnsucht nach kollektiver Erlösung zieht sich als Leitmotiv durch die Ausstellung. Die zwischen Berlin und Amsterdam lebende Künstlerin Yael Bartana bringt durch ihre Arbeiten das Realitätsempfinden durcheinander. Dabei erforscht sie kollektive Identitäten und fordert die emotionalen und intellektuellen Fähigkeiten der BesucherInnen heraus. Bartana nutzt ihre Kunst als Skalpell; gezielt beleuchtet sie verinnerlichte Machtstrukturen und setzt auf diese, um sie zu entlarven und infrage zu stellen, stets mäandernd auf der Linie zwischen Politischem und Vorstellungskraft.

Ihre Arbeiten verwirren die BetrachterInnen aber auch durch die kunsthistorischen Bezüge. Zu Beginn des Ausstellungsrundgangs stößt man so etwa auf einen fünfminütigen animierten Film, in dem die Kriegsgeschädigten aus den Gemälden von Georg Grosz, jene deutschen Kriegsversehrten, die Großmachts-Fantasien folgend bereits im Ersten Weltkrieg an die Front zogen, wie aufgezogene Puppen zum Leben erweckt werden. Der jüdische Künstler Grosz (der 1919 während der Novemberrevolution Mitglied der KPD wurde) hatte in seinen Kunstwerken, die im Nationalsozialismus verbrannt werden sollten, die Deutschen kriegslüstern, fresssüchtig und als Schweine voller Kriegsfantasien in den Köpfen gemalt. Bartana erweckt die einst aus dem öffentlichen Leben Deutschlands verbannte Kunst zu neuem Leben und nennt ihre Arbeit Entartete Kunst lebt.

Die Ausstellung zeigt die Mechanismen, die – anhand von Bartanas Zerlegung und Neuordnung des Kollektiven, der nationalen Rituale, Kulturen und Erinnerungen – eine kollektive Erlösungsfantasie entstehen lassen. Sie spielt das endzeitliche Spektakel nach, von dem religiöse und politische Führer um ihrer Autorität willen seit Anbeginn der Menschheit erzählen.

Rauschende Verwirrung und Provokation vermittelt so die Soundinstallation Simone, die Unergründliche (2015). In der 15-minütigen Klanginstallation lässt die feministische Künstlerin die Grenzen verschwimmen. Die Eroberung des Tempelbergs vollzieht hier ebenfalls eine Göttin, die wie die Malka Germania mit aller Kraft in ein Schofar (Widderhorn) bläst und die Erde zum Beben bringt. Ausgerechnet an der Klagemauer, einem der symbolträchtigsten Orte für das nach Geschlechtern getrennte jüdische Gebet in Jerusalem, zelebriert sie symbolisch den Zerfall der Geschlechter: „Diejenigen mit männlichen Körper beginnen zu menstruieren, diejenigen mit weiblichem Körper fangen an, Spermien zu produzieren.“ In der Ausstellung selbst fällt es allerdings schwer, dem verrauschten und mit provokativen Inhalt überfrachteten Text zu folgen. Dennoch ein Anstoß für die BesucherInnen, ihre eigene Rolle in der Gesellschaft zu reflektieren, einschließlich ihrer geschlechtlichen und politischen Orientierung.

Eindrücklich sind auch Bartanas Videoarbeiten über Israel, in denen sie sich kritisch mit der Militarisierung der Gesellschaft und dem Einfluss von Ultra-Orthodoxen auseinandersetzt. Der Druck und die Angst sind Alltag in einem Land, in dem Krieg allgegenwärtig ist und das seit seiner Gründung vor über 70 Jahren ständig von Auslöschung bedroht ist. Die Menschen kanalisieren die Anspannung angesichts der Bedrohung unterschiedlich. In der Videoarbeit Kings of the Hill sieht man, wie Männer aggressiv in Jeeps über eine Bergkette brettern und ständig in Kuhlen hängenbleiben. Während die Reifen durchdrehen, drücken sie weiter aufs Gaspedal. Ein machistisches Vater-Sohn-Ritual, bei dem Frauen und Töchter außen vor bleiben.

Besonders in Erinnerung bleibt Bartanas Videoarbeit And Europe will be stunned. Zwischen 2006 und 2011 arbeitete sie in Polen und schuf mit ihrer Trilogie ein Projekt über die Geschichte der polnisch-jüdischen Beziehungen und deren Einfluss auf die heutige polnische Identität. Die Trilogie repräsentierte Polen auf der 54. Internationalen Kunstausstellung in Venedig (2011). In einem der Videos spricht eine nach Israel ausgewanderte Frau und fordert ihre polnische Staatsangehörigkeit zurück.

Der Ausstellungskatalog, das Buch der Malka Germania, eignet sich hervorragend zur Kontextualisierung und Vertiefung: Er folgt der Methodik des jüdischen Talmuds – einer Sammlung der zentralen mündlichen Lehren des rabbinischen Judentums und Quelle jüdischen Lernens. Im Mittelpunkt des Buches steht Malka Germania als allegorische Gestalt. In der Ausstellung sind es die BesucherInnen, die Malkas potenzielle AnhängerInnen oder GegnerInnen sind und damit potentielle Gefolgsleute eines jeden Erlösers. Die Buchkapitel ergeben sich aus der Vorstellung eines Vox Populi, einer Menschenmenge, die das kollektive Unbewusste zum Ausdruck bringt, indem sie Malka bejubelt oder ausbuht: „Sie ist Hoffnung“, „Sie ist Anführerin“, „Sie ist Messias“, „Sie ist Geschichte“, „Sie ist Fake“.

Den BesucherInnen stellt sich die Frage, wer Malka Germania wirklich ist. Die Künstlerin selbst findet Erlösung in der Anhäufung von Bildern: „Künstlerisches Schaffen ist für mich, glaube ich, mehr als alles andere die Erlösung. Die Bilder sind die Erlösung, die Anhäufung von Bildern, die Assoziationen zu bestimmten Geschichten, zur Gegenwart oder zu zukünftigen Möglichkeiten schaffen. Mit Malka Germania bin ich nicht so sehr der direkten Logik des Messias gefolgt, einer Logik der Epiphanie und der Erlösung. Vielmehr löst das Erscheinen von Malka die Diskussion um Geschichte, Erlösung und die Person, die sie bringt, aus“, so Bartana im Interview.

Der Gang durch Redemption Now ist berauschend – nicht nur durch die Hinterfragung politischer Machtverhältnisse, historischer Sieger- und Geschlechter-Narrative, sondern vor allem durch das Gestaltende, proaktiv Provokative. Im Laufe des Entstehungsprozesses und im Zuge der Covid19-Pandemie sowie der Black-Lives-Matter-Bewegung habe das Buch über die von Yael Bartana imaginierte Ankunft eines weiblichen Messias in Berlin „einen bizarren Beigeschmack“ bekommen, wie das Kuratoren-Team Harten und H. Lersch selbstkritisch einräumt; dennoch ist die erste Wechselausstellung im Jüdisches Museum Berlin unter der Leitung der neuen Kuratorin Hetty Berg, die nach einer vierjährigen Tanzausbildung in London und Amsterdam Theaterwissenschaften studierte, einen Master im Management in Utrecht erwarb und über eine reiche Erfahrung am Jüdischen Historischen Museum in Amsterdam verfügt, unverkennbar darauf gerichtet, mit der Tradition des versöhnenden Blickes zu brechen.

Yael Bartana – Redemption Now ist noch bis zum 10. Oktober 2021 im Jüdischen Museum Berlin zu sehen. Weitere Informationen zur Ausstellung unter: www.jmberlin.de/ausstellung-yael-bartana

Anina Valle Thiele
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