Grossbritannien

Die Herde auf der Suche nach Integrität und Kompetenz

d'Lëtzebuerger Land vom 15.07.2022

Optimistisches Geschwafel war stets sein Markenzeichen. Auch bei seinem Rücktritt als britischer Premierminister blieb Boris Johnson vergangene Woche diesem Motto treu: „Selbst wenn die Dinge düster erscheinen, unsere gemeinsame Zukunft wird golden sein.“ Begonnen hatte der Lawinenrutsch in der Woche zuvor, aufgrund von Vorwürfen sexualisierter Gewalt gegen den konservativen Abgeordneten Chris Pincher, der damalige stellvertretende Whip der konservativen Fraktion im Unterhaus. Ein Whip ist ein britisches parteipolitisches Amt mit der Aufgabe, für den Fraktionszwang in einer Partei zu sorgen. Pincher hatte kurz zuvor in einer Bar eines konservativen Privatklubs nahe dem Regierungsviertel angetrunken zwei Männer begrapscht. Zwar trat Pincher von seinem Posten zurück und entschuldigte sich, doch es waren die irreführenden Aussagen aus 10 Downing Street zur Vergangenheit Pinchers, die schließlich am Dienstag letzter Woche zu den Rücktritten des britischen Finanzministers Rishi Sunak und des Gesundheitsministers Sajid Javid führten.

Erst kurz vor deren Rücktritten hatte Johnson zugegeben, dass er vor der Ernennung Pinchers auf seinen Posten im Februar über andere ähnliche Fälle sexueller Belästigung durch Pincher unterrichtet worden war. Für viele war damit das Fass der mangelnden Glaubwürdigkeit Johnsons voll. Abgeordnete hatten für Johnson schon im Zusammenhang mit den Partys, die entgegen den pandemischen Lockdownregeln der sozialen Distanz in 10 Downing Street gefeiert wurden, ein Auge zugedrückt. Und am 6. Juni hatte Johnson gerade nochmal ein Misstrauensvotum seiner eigenen Fraktion überlebt. Als Sunak und Javid in ihren Rücktrittsschreiben von einem Mangel an Integrität und Kompetenz Boris Johnsons sprachen, löste das einen Sturm von 45 Rücktritten in der Regierung aus. Johnson wollte dennoch weiter powern und ernannte neue Minister für die frei gewordenen Ämter. Doch bis Mittwochmorgen wuchs diese Zahl auf ganze 59 Rücktrittserklärungen an. Als Johnsons neuer Ersatzfinanzminister Nadhim Zahawi zudem noch einen Brief veröffentlichte, in dem auch er Johnson den Rücktritt empfahl, rundete der Premierminister schließlich selber durch seinen eigenen Rücktritt auf 60 auf.

Laut Johnson waren es keineswegs Fehler seinerseits, die diesen „exzentrischen Führungswechsel“ einleiteten, sondern einzig „der Wille der parlamentarischen konservativen Fraktion“ im Bann eines „Herdentriebs.“ „Wenn die Herde läuft, dann läuft sie“, philosophierte Johnson.

Bis zum 5. September soll nun in einem Auswahlverfahren ein Nachfolger oder eine Nachfolgerin gesucht werden. Spätestens bis 21. Juli sollen von acht Kandidat/innen nur noch zwei übrig bleiben. Seit Mittwoch sind nur noch sechs von ihnen im Rennen.

Wer tritt Johnsons Nachfolge an?

Als Favoriten gelten derzeit Penny Mordaunt und Rishi Sunak. Mordaunt, die ehemalige Handelsministerin, die auch bereits Verteidigungsministerin war und dem harten Brexit-Lager angehörte, plädiert für weniger Wichtigtuerei der Regierungsführung. Sie ist jedoch gleichzeitig im sozial-konservativen Lager anzusiedeln. Mit ihrer einstigen Unterstützung von Transrechten hat sie jedoch schon einige Stimmen verspielt. Der ehemalige Brexitminister David Davis unterstützt sie. Der bisherige Finanzminister Rishi Sunak ist ist nahezu der einzige Kandidat, der angibt, dass es aufgrund der bestehenden Inflation momentan nicht möglich sei, Steuern zu senken, sondern dies erst zu einem späteren Zeitpunkt Sinn mache. Dafür wird er von allen anderen angegriffen. So zirkulierte in konservativen Whatsapp-Gruppen ein Video, das ihn zu diskreditieren versuchte.

Auf der ultrakonservativen Seite bemüht sich die bisherige Generalstaatsanwältin Suella Braverman, die aus dem harten Brexitlager kommt und die Tochter einer indischtämmigen Familie aus Kenia ist. Auffallend ist ihre Absicht, aus dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte austreten zu wollen.

Die bisherige Außenministerin Liz Truss genießt die Unterstützung von einigen von Johnsons loyalsten Kabinettsmitgliedern wie Nadine Dorries und Jacob Rees-Mogg. „Wir müssen als Regierung liefern, liefern, liefern“, sagte sie in ihrem Promovideo und verspricht außerdem weiter, das Nordirlandprotokoll unilateral abzuändern.

Ihr politischer Gegenpol ist Kemi Badenoch, Tochter nigerianischer Eltern, die unter Boris Johnson als Kommunalministerin und als Gleichberechtigungsministerin diente, und sich als Stimme für einen minimalistischen Staat und als Verfechterin der Meinungsfreiheit gegen „Woke“ und „Entkolonialisierung“ versteht.

Afghanistanveteran Tom Tugendhat, der den auswärtigen Ausschuss im Parlament leitet, versucht sich als neue Stimme des Anstands und gegen zerteilende Politik. Ihm fehlt jedoch jegliche Kabinettserfahrung.

Die beiden Kandidaten Jeremy Hunt und Nadhim Zahawi sind am Mittwoch ausgeschieden. Hunt, Ex-Gesundheitsminister unter David Cameron, der 2019 das Rennen gegen Boris Johnson um Mays Nachfolge verloren hatte, gab sich als zentrischer und erfahrenster Kandidat. Er trat gemeinsam mit Esther McVay, der Mitbegründerin der Blue Collar Torys aus der Arbeiterklasse auf. Zahawi, der derzeitige Finanzminister der Übergangsregierung, ist dafür bekannt, das britische Impfprogramm erfolgreich vollzogen zu haben. Der als Kind aus dem Irak geflüchtete Tory ist Mitbegründer des Meinungsforschungsinstituts YouGov. Just zum Zeitpunkt seiner Kandidatur kamen Fragen über in Gibraltar registrierte Anteile zu möglichen Steuervorteilen auf. Das kostete ihn Stimmen, genau wie die Tatsache, dass er kurz vor dem Fall Johnsons Rishi Sunaks Stelle annahm.

Ben Wallace, der ursprüngliche Favorit für die Nachfolge Boris Johnsons, hatte sich schon nach wenigen Tagen zurückgezogen. Als Grund nannte er seine Familie und seine Pflicht als Verteidigungsminister.

Daniel Zylbersztajn-Lewandowski, London
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