Spanien

Mehrere Krisen mit einer Klappe

d'Lëtzebuerger Land vom 12.08.2022

Am letzten Freitag im Juli trat Pedro Sánchez ohne Krawatte vor die Presse. Eigentlich sollte er das erste Trimester resümieren, doch zuerst lenkte der spanische Ministerpräsident die Aufmerksamkeit auf seinen Hemdkragen: „Ich möchte Sie sehen lassen, dass ich keine Krawatte trage.“ Was nicht hemdsärmelig wirken, sondern ein Bruch mit alten Gewohnheiten ausdrücken soll, kann helfen, Energie einzusparen. In den Straßen Barcelonas lag an jenem 29. Juli die Lufttemperatur wieder bei gut 30 Grad, nachts ging sie nur bis auf knapp 25 Grad zurück. Einzig wenn man an einer der weit geöffneten Ladentüren vorbeiging, sorgte ein kalter Luftzug aus der Klimaanlage für Abkühlung. Mit Energiesparen tut sich Spanien zu allen Jahreszeiten schwer. Auch und gerade die vielen, im Immobilienboom der letzten Jahrzehnte schnell hochgezogenen Neubauten sind kaum gegen Hitze oder Kälte isoliert. Noch augenscheinlicher glühten und brannten im Januar und Februar selbst bei frühlingshaften 16, 17 Grad auf etlichen Terrassen Barcelonas gasbetriebene Heizlüfter. Während manche Gäste im
T-Shirt speisten. Per königliches Dekret soll es seit dieser Woche aber mit haarsträubender Energieverschwendung vorbei sein.

Am 1. August hatte die Ministerin für ökologischen Wandel, Teresa Ribera, nach der wöchentlichen Kabinettssitzung einige Sofortmaßnahmen angeführt. So darf nach einer siebentägigen Anpassungsperiode in Geschäften, kulturellen Einrichtungen und dem Verkehrssektor im Sommer nicht unter 27 Grad gekühlt und im Winter nicht über 19 Grad geheizt werden. Für öffentliche Gebäude und Büros gelten solche Temperaturbereiche bereits seit Mai und die Beamten sollen nach Möglichkeit im Homeoffice bleiben. Schaufenster dürfen nach 22 Uhr nicht mehr beleuchtet werden und in ungenutzten Räumen öffentlicher Gebäude wird das Licht ausgeschaltet. Die Umweltministerin erklärte die Maßnahmen mit den russischen Gaskürzungen: „Es ist an der Zeit für Solidarität, auf eine Erpressung zu reagieren und deutlich zu machen, dass jede Erpressung, jede Aggression gegen ein Mitglied der Europäischen Union sich gegen uns alle richtet.“ Obwohl sich die spanische Regierung anfangs gesträubt hatte, reagiert sie zuerst auf den eine Woche zuvor beschlossenen freiwilligen Gas-Notfallplan der EU, bei dem die Mitgliedsländer von August bis Ende März jeweils 15 Prozent Gas im Vergleich zum Durchschnitt der vergangenen fünf Jahre einsparen sollen.

Auch Ministerpräsident Sánchez will so „die Abhängigkeit vom Aggressor Putin verringern“, verrät aber noch eine zusätzliche Motivation für den Sinneswandel: die Inflation. Im Juli ist die jährliche Inflationsrate auf 10,8 Prozent gestiegen, die höchste seit September 1984. Auch wenn Diesel und Benzin zuletzt wieder billiger wurden, so treiben vor allem die Energie, aber auch deutlich gestiegene Lebensmittelpreise die Kosten. Nachdem der Strompreis am Großmarkt von 2010 bis 2019 relativ stabil zwischen 40 und 70 Euro pro Megawattstunde lag, explodierte er im März dieses Jahres auf nahezu 300 Euro. Zahlreiche Haushalte haben sich dabei noch immer nicht von der Wirtschaftskrise von vor zehn Jahren erholt und kaum Puffer gebildet. Weshalb die Regierung beim Strom die Mehrwertsteuer von 21 auf 10 Prozent und die elektrische Sondersteuer von 5,11 auf 0,5 Prozent absenkte. Auch dadurch ist der Strompreis wieder auf rund 150 Euro abgesackt. Konsumenten mit einem variablen Stromtarif zahlen so aktuell meist zwischen 0,30 bis 0,40 Euro pro Kilowattstunde.

Die Energiesparpläne scheinen aber nur indirekt durch Putin bewirkt. Mit wenigen, vernachlässigbaren Stromleitungen durch die Pyrenäen, aber auch beim Gas bilden Portugal und Spanien eine „Energieinsel“, die sogar vom Gas-Notfallplan der EU ausgenommen ist. Aus Russland stammen üblicherweise nur rund zehn Prozent des in Spanien verbrauchten Gases. In mehreren Häfen wird hingegen Flüssiggas aus dem nahegelegenen Algerien, Nigeria oder den USA angelandet. Zwar betonte die linksgerichtete Regierung auch die Solidarität mit den anderen EU-Mitgliedsstaaten und die Vorbereitung auf Herbst und Winter, doch lassen sich die Energiesparmaßnahmen auch gut mit dem im Regierungsprogramm ausgeführten Kampf gegen die Klimakrise in Einklang bringen. Mit anhaltenden Hitzewellen, einer verheerenden Dürre und einem Rekord an Waldbränden zeigt diese wieder sehr deutlich erste Auswirkungen. Deshalb soll ebenfalls die Prüfung der Energieeffizienz zahlreicher Gebäude vorgezogen werden. Bis Ende September müssen automatische Systeme die Türen schließen, wenn Heiz- oder Klimaanlagen laufen. Und zusätzlich zu mehr Homeoffice wird der öffentliche Transport gestärkt: Unter bestimmten Bedingungen fahren Pendler vom 1. September bis zum 31. Dezember kostenlos.

Solche massiven Eingriffe gefallen nicht allen. Wie schon bei den Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung will sich die Präsidentin der Regionalregierung von Madrid, Isabel Díaz Ayuso, mit einem Gegenkurs profilieren. Die Politikerin des konservativen Partido Popular kündigte sogleich an, ihre Regierung werde die Beleuchtung öffentlicher Gebäude und Schaufenster nicht ausschalten. Bei Twitter spielte sie auf der Klaviatur unzufriedener Teile der Bevölkerung und meinte, jenes Energiesparen schaffe „Unsicherheit”, schrecke „Tourismus und Konsum” ab und verursache „Dunkel, Armut, Traurigkeit”.

Chrëscht Beneké, Barcelona
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