Hätte die Europäische Volkspartei mal auf die CSV gehört

Goodbye, Dictator?

d'Lëtzebuerger Land vom 11.12.2020

Es sollte Xavier Bettels kleiner Heldenmoment sein: Ein Student wollte vom Staatsminister in einem DP-Videochat Mitte Oktober wissen, was die Europäische Union konkret tue, um die europäischen Werte zu verteidigen. Er mache sich insbesondere Sorgen um Polen und Ungarn.

Beide Länder fallen seit mehreren Jahren mit Rechtsverletzungen, Hassreden und autoritärem Führungsstil auf und hatten zuletzt angedroht, einen an den 1,8 Billionen Euro schweren EU-Haushalt angedockten Mechanismus, der die Vergabe von EU-Geldern künftig eng an die Einhaltung von rechtsstaatlichen Prinzipien binden soll, per Veto zu blockieren.

Er habe drei Stunden in einer Versammlung mit der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel, Finnland, Dänemark, den Niederlanden und Frankreich gesessen, um auf eine Verbindung zwischen Rechtsstaatlichkeit und EU-Budget zu pochen.
„Weil ich nicht nachgelassen habe“, habe man dann festgehalten, dass der Paragraph in den Vorschlag komme, erzählte der Premier. Kurz darauf allerdings sei der ungarische Regierungschef Viktor Orbán vor die Journalisten getreten, um zu behaupten, der Rechtsstaatlichkeitsmechanismus sei nicht im Text enthalten. „Das ist falsch“, empörte sich Bettel.

„Luxemburg spielte da keine große Rolle“, winkt indes Außenminister Jean Asselborn (LSAP) ab. Der Vorschlag sei von der deutschen Ratspräsidentschaft gemeinsam mit Ratspräsident Charles Michel ausgehandelt worden. Allerdings: Luxemburg ist zwar klein – mit dem Streit um Rechtsstaatlichkeit ist es dennoch durch verschiedene Personen eng verbunden. Zum einen nimmt Asselborn selbst kein Blatt vor den Mund, geht es darum, Verstöße gegen die EU-Grundrechtecharta und die Menschenrechtskonvention anzuprangern. Er drängt seit Jahren darauf, die Rechtsstaatlichkeits-Ignoranten zu bestrafen. „Das ist kein Spiel mehr“, warnt der Außenminister.

Zum anderen hat vor allem die CSV als Delegation in der Europäischen Volkspartei eine lange Geschichte mit der Personalie Orbán. Seine Partei Fidesz zählt zur EVP. Unvergessen der Auftritt, als Jean-Claude Juncker Ungarns Premier mit „Hello, Dictator!“ begrüßte und ihm eine sanfte Ohrfeige gab. Für die Geste wurde der damalige Kommissionspräsident kritisiert, es sei nicht der Moment für Scherze, schrieb die Süddeutsche Zeitung. Ungarn hatte sich in der Flüchtlingskrise gemeinsam mit den Visegrad-Staaten gegen eine Verteilungsquote quergelegt.

Juncker war näher an der Wahrheit dran, als viele Beobachter das zu dem Zeitpunkt wahrhaben wollten – nicht zuletzt in seiner eigenen politischen Heimat, der EVP. Die EU-Kommission hat es nicht erst mit dem im September veröffentlichten EU-Rechtsstaatlichkeitsbericht schriftlich: Die Regierungen in Budapest und Warschau höhlen seit Jahren systematisch den Rechtsstaat in ihren Ländern aus. Es sind nicht die einzigen EU-Mitglieder mit Grundrechtsverletzungen: Griechenland verstößt massiv gegen das Asylrecht, in Malta verhindert eine korrupte Regierung die Aufklärung des Mordes an der Journalistin Daphne Cuarana Galizia. Aber in keinem anderen Land liebäugeln die Führungen so offen mit einem Umbau zentraler demokratischer Institutionen wie in Ungarn und Polen.

Die Berichte zur Rechtstaatlichkeit sind ein Instrument, das auf einen Vorschlag der Kommission unter Junckers Führung zurückgeht: Artikel 7 des Europäischen Vertrags, von Junckers Vorgänger José M. Barroso einst als „Atombombe“ bezeichnet, hatte sich all die Jahre als weitgehend wirkungslos erwiesen, ging es darum, Angriffe gegen Grundrechte innerhalb der EU abzuwehren. Weil Einstimmigkeit verlangt ist, um einem Mitgliedsland das Stimmrecht zu entziehen, nutzen Polen und Ungarn dies aus, indem sie sich gegenseitig per Veto Rückendeckung geben. Derweil festigten sie in ihren Ländern ihre Herrschaft und bauten den Staat nach ihrem Gusto um.

Ein noch unter der damaligen EU-Grundrechtekommissarin Viviane Reding Ende 2014 ausgearbeitetes dreiphasiges, dem Artikel 7 im EU-Vertrag vorgelagertes Verfahren kam bei Polen zur Anwendung, aber nicht bei Ungarn. Also sollte ein Mechanismus gefunden werden, der da ansetzt, wo es wehtut: beim Geld. Künftig soll die Auszahlung von EU-Hilfen an einen funktionierenden Rechtsstaat und die Einhaltung von EU-Recht gekoppelt werden. Der Vorschlag, der von Junckers Kommission ausgearbeitet wurde, wurde dem Rat vorgelegt, ohne Ergebnis.

Die deutsche Ratspräsidentschaft nahm gemeinsam mit dem Belgier Charles Michel einen neuen Anlauf und legte im Oktober besagten Vorschlag vor, der aber bei der Mehrheit der EU-Parlamentarier/innen für Wut und Empörung sorgte: Statt einen wirksamen Rechtsstaatlichkeitsmechanismus gegen alle Arten von Rechtsverstößen vorzusehen, beschränkte sich der von Merkels Diplomaten ausgearbeitete Entwurf auf Korruption und Betrug. Rat und Parlament rangen drei Wochen in Nachverhandlungen um jeden einzelnen Satz. Am 5. November wurde der Kompromiss vorgestellt: Jeder Bruch von EU-Recht würde vom Mechanismus gedeckt, auch Verstöße gegen die Unabhängigkeit der Justiz, gegen Grundrechte oder die Rechte von Minoritäten. Zudem sollten enge Fristen dafür sorgen, dass ein Verstoß zügig verfolgt würde. Stellt die Kommission einen Rechtsbruch fest, kann der Rat mit einfacher Mehrheit den Mechanismus auslösen. Eine qualifizierte Mehrheit kann die Umsetzung der Maßnahmen beschließen.

Einen Tag später drohten Polen und Ungarn, den mehrjährigen EU-Haushaltsplan sowie die 750 Milliarden Euro des Corona-Wiederaufbaufonds per Veto zu blockieren. Ihr Räsonnement: Weil Spanien und Italien unter den wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie besonders leiden, würden sie den Rat zu Zugeständnissen pressen können. Brüssel stellte seinerseits beiden Ländern eine Frist bis Mittwoch. Diplomat/innen versuchten derweil fieberhaft, doch noch einen Kompromiss auszuhandeln. Am Mittwochabend wurde die Zusatzerklärung bekannt, die verspricht, ausgerechnet „die nationale Identität“ aller Staaten zu respektieren. Zudem soll die EU-Kommission für das Verfahren Richtlinien entwickeln, die vom EU-Gerichtshof überprüft werden sollen, bevor der Mechanismus in Kraft tritt. Kurz: Ungarn und Polen gewinnen Zeit. Und verkauften den Kompromiss sogleich als ihren Sieg.

Dieses Spiel auf Zeit hat indes Methode. Bei den Verhandlungen ist Luxemburg als kleines Land nicht stimmentscheidend, aber CSV-Abgeordnete hatten eine Rolle während der zunehmenden Erstarkung Orbáns gespielt. Um zu verstehen, wie ein einziges Land in der EU so viel blockieren kann, muss man in die Geschichte der Europäischen Volkspartei schauen: Sie hat dem Treiben Orbáns viele Jahre nicht nur zugeschaut, sondern es ermöglicht.

CSV-Politiker wie der damalige EP-Abgeordnete und heutige CSV-Parteipräsident Frank Engel sowie die damalige EU-Kommissarin Viviane Reding hatten früh vor den Gefahren, die von Orbán und der rechtsextremen Fidesz ausgingen, gewarnt. Reding selbst brachte Ungarn vor den Gerichtshof. Die CSV war mit den schwedischen Konservativen eine der ersten Delegationen in der EVP, die den Ausschluss von Orban aus der Parteifamilie forderte. „Wir wären froh gewesen, wenn Fidesz vor fünf Jahren herausgeflogen wäre“, betont Engel. Ihn ärgert neben den „unsäglichen Rechtsverletzungen“, dass Orbán „seinen Prunk und sein Gefolge mit EU-Geldern finanziert“. Ungarn ist EU-Nettoempfänger und laut Transparency International nach Bulgarien das korrupteste Land der EU. Mehrfach versuchten EVP-Delegationen, parteiintern Sanktionen gegen Orbán zu erwirken. Vergeblich.Vor allem die deutsche CDU/CSU bremste, ebenso die Konservativen von Silvio Berlusconi und die Republikaner in Frankreich.

Es waren Manfred Weber, (verhinderter) EVP-Spitzenkandidat bei der Europawahl 2014, und EVP-Parteipräsident Joseph Daul, die aktiv die Wiederwahl von Orbán 2014 und 2018 unterstützten, obwohl die OSZE den Wahlkampf als unfair kritisiert hatte.
Laut Politikprofessor R. Daniel Kelemen von der Rutgers Universität in New Jersey, der seit vielen Jahren das Verhalten der EVP analysiert, gab es für die Unterstützung vor allem einen Grund: parteipolitische Vorteilssicherung. Daul und andere EVP-Politiker hoben Fidesz-Mitglieder auf wichtige Parteiposten und verteidigten Orbán jahrelang damit, dass er und seine Partei, komme es hart auf hart, stets mit der EVP im EU-Parlament abstimmten, ein Vorteil, den die Konservativen, deren Einfluss schwindet, unbedingt behalten wollen. Jószef Szájer, Vertrauter Orbáns und Chefideologe beim Umbau der ungarischen Verfassung, war bis zu seinem Rücktritt Vizepräsident der EVP. Szájer war kürzlich in Brüssel trotz Corona-Lockdown bei einer schwulen Sexorgie erwischt worden, als er vor der Polizei fliehen wollte.

Es waren die Europawahlen 2014, als Orbán den Bogen für die EVP das erste Mal überspannte. Damals attackierte er Spitzenkandidat Jean-Claude Juncker mit antisemitischen Plakaten, angeblich eine rote Linie der EVP; entschuldigt hat sich Orbán aber nie. Daraufhin fand sich erstmals eine Mehrheit in der EVP, die Mitgliedschaft der Fidesz-Partei auszusetzen: 13 Parteien, darunter die Luxemburger CSV, forderten den Ausschluss. „Ich bin so enttäuscht von der EVP“, sagt Viviane Reding. „Konservativ meint auch staatstragend. Ich kann nicht nachvollziehen, wie ein Mitglied, das massiv und wiederholt gegen demokratische Grundprinzipien verstößt, in der Partei bleiben kann.“

Offenbar halten Orbán vor allem deutsche Konservative, darunter Manfred Weber und Horst Seehofer, bis heute die Stange. Im Frühjahr handelte sich der ehemalige EU-Kommissar Günter Oettinger (CDU) heftige Schelte ein, als bekannt wurde, er werde als Sonderberater Orbáns den ungarischen Innovationsrat leiten.

Das war kurz bevor sich der Regierungschef im Rahmen der Corona-Pandemie mit einem Ermächtigungsgesetz von seiner Zwei-Drittel-Fidesz-Mehrheit im Parlament weitreichende Befugnisse übertragen ließ. Doch EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, der einst ein guter Draht nach Budapest nachgesagt wurde, unterließ es, Ungarn namentlich zu tadeln. Orbán tobte trotzdem und forderte den Rücktritt der weniger diplomatischen Justizkommissarin Vĕra Jourová. Derweil erhöhten Orbán-Gegner in der EVP den Druck. 

Aber auch das wusste Viktor Orbán zu kontern: Am Dienstag dieser Woche überraschte er mit dem Vorstoß, über den Austritt seiner Partei aus der EVP verhandeln zu wollen. Offenbar schwebt ihm ein Sonderstatus vor. „Jahrelang alles blockieren und dann einen Sonderstatus verlangen. Das ist ausgeschlossen“, empört sich Frank Engel. Das Ausschlussverfahren ist weiter anhängig, rausgeschmissen wurde die Fidesz aus der EVP noch immer nicht. Am Mittwoch, beim EVP-Fraktionstreffen, wurde eine Entscheidung ein weiteres Mal vertagt. Offenbar fürchtete man doch noch eine Blockade durch Orbán, wo sich gerade ein Kompromiss abzeichnete. Unklar ist aber, ob Länder wie die Niederlande, deren Parlament auf einen wirksamen Rechtsmechanismus pocht, dem zustimmen werden.

Politikprofessor Kelemen deutete den Vorschlag per Tweet so: Er lese ihn „als politisches Versprechen des EU-Rats und implizit der Kommission von der Leyen“, dass der Mechanismus für einige Jahre nicht ausgelöst werden wird, „was Orbán Zeit geben dürfte die Wahlen von 2022 zu manipulieren und zu stehlen“. Demnach kranke die EU weniger am Konsensmodell, wie es einige Kommentatoren analysieren, sondern vielmehr an der andauernden Unwilligkeit der EVP, konsequent gegen kleine Diktatoren in den eigenen Reihen vorzugehen.

Ines Kurschat
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