In den letzten Jahren wurde die Luxembourg Pride von Unternehmen aus der Finanzindustrie vereinnahmt.
Glücklich darüber ist in der LGBTIQ+-Community offenbar niemand

Standortfaktor

Vergangenes Jahr zog die Luxembourg Pride rund 8 000 Besucher/innen an
Photo: Jeff Poitiers
d'Lëtzebuerger Land du 07.07.2023

Erwachsene Am Montagmittag sitzen sechs Mitglieder von Rosa Lëtzebuerg im Rainbow Center in der Rue du Saint-Esprit und essen Currys mit Reis und Nan, als eine mehrköpfige Familie an dem mit Regenbogenflaggen geschmückten Schaufenster vorbeiläuft. Ein blonder, vermutlich zehnjähriger Junge löst sich von der Gruppe und begibt sich in den kleinen äußeren Eingangsbereich des Rainbow Centers. Von seinen Eltern unbeachtet, trampelt er wie besessen mit beiden Füßen auf der regenbogenfarbenen Fußmatte, die vor der Tür liegt, als wolle er sie in den Boden stampfen. Dann entfernt er sich, kommt wenige Augenblicke später jedoch zurück, um seinen „Tanz“ zu wiederholen. „Das kommt nicht von ihm, Erwachsene haben es ihm beigebracht“, kommentiert die Leiterin des Zentrums für queere Kultur, Sandra Laborier, die Aktion, die alle anderen am Esstisch sprachlos zurücklässt.

Die allermeisten queeren Menschen haben schon Beleidigungen wegen ihrer sexuellen Orientierung und/oder ihrer Geschlechts-identität erfahren, manche sogar gewaltsame Übergriffe. Zahlen dazu existieren kaum, die großherzogliche Polizei listet sie in ihren Statistiken nicht getrennt auf. Von den 240 Fällen, die das Zentrum für Gleichbehandlung CET vergangenes Jahr wegen Diskriminierungsvorwürfen behandelt hat, bezogen sich fünf auf sexuelle Orientierung; von den 43 Beschwerden, die dem Motiv Geschlecht zugeordnet wurden, kamen neun von Transpersonen. Um „Phobie“ sei es dabei nicht gegangen, sondern um Benachteiligung am Arbeitsplatz, etwa um die Änderung von Namen und Personenstand, solange diese nicht auf den offiziellen Papieren vollzogen wurden, um das Benutzen von Umkleidekabinen und das Tragen von Uniformen, oder um Behandlungen, die die CNS bei Transpersonen nicht übernimmt, bei anderen Patient/innen aber schon, teilt das CET auf Nachfrage mit.

LGBTIQ+-Aktivist/innen sind der Überzeugung, dass das Dunkelfeld bei queerfeindlichen Übergriffen und Diskriminierungen groß ist, verbale Attacken und körperliche Angriffe oft nicht zur Anzeige gebracht werden, weil die Polizei dafür kein Verständnis hat und Beamte in diesem Bereich nicht geschult sind. Darüber hinaus müssen Anfeindungen gegen die LGBTIQ+-Community nicht immer explizit und gewalttätig sein, oft sind sie sehr subtil und in vielen Fällen strukturell verankert.

Seit Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender vor über 50 Jahren nach einer Polizei-Razzia im Stonewall Inn in New York City den Aufstand probten und daraus eine Bürgerrechtsbewegung gegen politische Unterdrückung, Gewalt und Cis-Heteronormativität entstand, wurden in vielen Ländern, insbesondere der sogenannten westlichen Welt, Fortschritte im Bereich der LGBTIQ+-Rechte erzielt. Um an die Riots von damals zu erinnern, wird im Sommer in vielen Städten der Christopher Street Day gefeiert. Die politische Dimension der Veranstaltung, die inzwischen meist unter dem Namen Pride läuft, ist aber in den vergangenen Jahren vielerorts in den Hintergrund geraten.

Die Veranstaltung im neoliberalen Luxemburg, die vor 24 Jahren unter dem Motto „Gay-mat“ von Rosa Lëtzebuerg ins Leben gerufen wurde, engagierte sich anfangs vor allem für die Einführung der gleichgeschlechtlichen Partnerschaft und das Recht auf Eheschließung. 2004 und 2014 wurden diese Forderungen umgesetzt, es wurden Antidiskriminierungsgesetze verabschiedet und Prozeduren vereinfacht, seit 2013 hat Luxemburg einen homosexuellen Premierminister, bis 2020 war auch einer der beiden Vizepremiers schwul. Luxemburg galt zeitweise als eines der fortschrittlichsten Länder in Europa.

Gentlemen Das Gay-mat, das von Rosa Lëtzebuerg 2019 in Luxembourg Pride umbenannt wurde, hat sich seit einigen Jahren immer mehr zu einer reinen Spaßveranstaltung entwickelt, politische Forderungen sind in den Hintergrund gerückt. Die Bezeichnung sei geändert worden, damit auch englischsprachige Besucher/innen verstehen, um welche Veranstaltung es sich handelt, erklärten die Organisatoren damals dem Tageblatt. Parallel dazu wurde die Pride durch große Konzerne vereinnahmt, die sie zu Marketingzwecken nutzen. Im letzten Jahr zählte sie laut offiziellen Angaben über 8 000 Besucher/innen und war damit erfolgreicher als viele Veranstaltungen der Europäischen Kulturhauptstadt. Die Kommerzialisierung der Pride ist in zahlreichen europäischen Großstädten zu beobachten. Supermarktketten, Automobilhersteller, Getränkeproduzenten oder Fluggesellschaften gehören häufig zu den Sponsoren. Am internationalen Bankenplatz Luxemburg kommen die Mäzene vor allem aus der Finanzbranche. Neben dem Hauptsponsor ING, der in vielen Ländern die Pride unterstützt und auch bei sportlichen und kulturellen Events für sich wirbt, sowie einigen nationalen und regionalen Unternehmen, gehören dazu drei der Big Four; Großbanken wie JP Morgan, HSBC und Deutsche Bank; Geschäftsanwaltskanzleien und Firmen aus dem Wertpapier- und Investmentfondsbereich. Ihre Motivation, sich sowohl finanziell als auch mit einer Delegation von Mitarbeiter/innen an der Pride zu beteiligen, ist nicht immer ersichtlich. Manchmal steht sie sogar im Widerspruch zu ihren Geschäftsaktivitäten, die sie auch in Staaten durchführen, in denen Homosexualität unter Strafe steht und LGBTIQ+-Rechte beschnitten sind. Die Niederlassungen von PWC und KPMG im mittleren Osten etwa posten in den sozialen Netzwerken nicht Regenbögen und Happy-Pride-Slogans, sondern Glückwünsche zum Vater- und Nationalfeiertag. Die Online-Plattform Popular Information fand vor zwei Jahren heraus, dass 25 Unternehmen, die mit der Regenbogenflagge warben, in den USA gleichzeitig Politiker finanziell unterstützten, die sich in Bundesstaaten wie Arkansas, Tennessee, North Carolina, Texas und Florida für Anti-Trans-Gesetze einsetzten. Unter ihnen fanden sich auch die Luxembourg-Pride-Sponsoren Deloitte und JP Morgan.

Insgesamt bietet die Pride großen Firmen die Gelegenheit, ihre häufig intransparenten und machmal skandalumwitterten Geschäftsgebaren zu verschleiern und den Eindruck zu vermitteln, sie seien auf der Seite von gesellschaftlich unterdrückten Minderheiten, die sie in ihrem Kampf für Rechte und Freiheit unterstützen. Die LGBTIQ+-Community ist inzwischen Teil des Nation Brandings. Ihre Mitglieder willkommen zu heißen, kann sich im globalen Kampf um Talente als Standortvorteil erweisen. Die frühere DP-Familienministerin Corinne Cahen erklärte vor einem Jahr in einem Interview mit Paperjam: „Plusieurs enquêtes d’ailleurs, réalisées au Luxembourg ou à l’étranger, ont prouvé qu’une entreprise inclusive a de meilleurs résultats économiques.“ All das kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Luxemburger Wirtschaft noch immer sehr stark von Cis-Männern dominiert wird. Vergangenes Jahr besetzten sie drei Viertel aller Verwaltungsratsposten in großen Unternehmen.

Pinkwashing Andy Maar und Laurent Boquet, Vorstandsmitglieder von Rosa Lëtzebuerg, erklären im Gespräch mit dem Land, sie seien sich der Gefahr von Pinkwashing durchaus bewusst. Gleichzeitig betonen sie, dass sie bei der Auswahl der Sponsoren darauf achten, dass diese betriebsintern tatsächlich die LGBTIQ+-Rechte respektieren. In manchen Unternehmen führe Rosa Lëtzebuerg regelmäßig Weiterbildungen durch, andere hätten sich durch die Unterzeichnung der Charte de la Diversité der Nichtregierungsorganisation Inspiring more Sustainability (IMS) zur Einhaltung bestimmter Diversitätskriterien verpflichtet. Laut IMS-Webseite haben bislang rund 300 private Betriebe sowie öffentliche Institutionen und kommunale Verwaltungen die Charta unterschrieben. Der Verwaltungsrat von IMS setzt sich zusammen aus Mitgliedern großer Unternehmen: ihr Präsident ist ein Vertreter von PWC, ihr Vizepräsident von Sodexo, ihre Sekretärin von der Spuerkeess. Unabhängig kontrolliert wird die Einhaltung der Charta nicht, Rosa Lëtzebuerg fehlen dafür die Ressourcen.

Fehlende finanzielle Ressourcen führen Laurent Boquet und Andy Maar auch an, um zu begründen, weshalb sie überhaupt auf private Sponsoren zurückgreifen. Von den 140 000 Euro, die die Pride dieses Jahr kostet, zahlen die Stadt Esch und die von ihr kontrollierte Asbl. Fresch jeweils 25 000 Euro. Weitere 25 000 Euro will Rosa durch den Verkauf von Getränken und Merchandise einnehmen. Die restlichen 65 000 Euro müssten über private Partner und Sponsoren eingetrieben werden, rechnet Boquet vor.

Dass die Stadt Esch die Pride mit lediglich 50 000 Euro unterstützt, während sie andere Veranstaltungen wie die Francofolies in diesem Jahr mit über 1,5 Millionen Euro subventioniert hat, stößt innerhalb der LGBTIQ+-Community auf Kritik. Wegen des hohen Budgets und bekannteren Bands zogen die sich über fünf Tage erstreckenden Francofolies 2022 zwar doppelt so viele Besucher/innen an wie die Pride, vor allem wegen ihr wurde Esch jedoch in das exklusive Rainbow Cities Network aufgenommen. Denn abseits der Pride Week hat Esch bislang wenig für die Community zu bieten: kein öffentliches LGBTIQ+-Zentrum, keine Safe Spaces, nicht einmal ein queeres Café.

Pinkwashing beschränkt sich nicht auf private Unternehmen, sondern wird auch von öffentlichen Akteuren und von Staaten betrieben. Während Premierminister Xavier Bettel sich auf europäischer Bühne als Kämpfer für Homosexuellenrechte inszeniert, rutscht Luxemburg im Rainbow Index immer weiter ab, weil die DP-LSAP-Grüne-Regierung es in den letzten drei Jahren verpasst hat, progressive und inklusive Reformen durchzuführen. In dem von der früheren DP-Familienministerin Corinne Cahen erstellten nationalen LGBTI-Aktionsplan wurden zwar vage Ziele und Idealzustände formuliert; bis wann und vor allem wie sie erreicht werden sollen, wurde jedoch nicht festgelegt. Die von Cahen für Frühjahr 2023 versprochene Evaluierung des Aktionsplans in Zusammenarbeit mit der Uni Luxemburg liegt noch nicht vor. Dass die Regierung zu grundlegenden Veränderungen nicht bereit ist, zeigt auch die zögerliche Haltung von Justizministerin Sam Tanson (Grüne) und Gleichstellungsministerin Taina Bofferding (LSAP), wenn es darum geht, den Geschlechtseintrag vom Personalausweis zu entfernen und ein drittes Geschlecht im Personenstandsregister einzuführen. Die Vereinigung Intersex und Transgender Lëtzebuerg (ITGL) fordert seit Jahren ein Verbot von Genitalverstümmelungen bei Intersex-Kindern. Mehrere europäische Länder haben es bereits umgesetzt. Nicht zuletzt bräuchte es tiefgreifende strukturelle Veränderungen, um Transpersonen – insbesondere Transfrauen – das Leben in der Gesellschaft zu erleichtern.

Intersektionalität Der Kampf für Gleichstellung und Selbstbestimmung ist ein intersektionaler. Diskriminierungen aufgrund von Hautfarbe, Ethnizität, Religionszugehörigkeit, sozialer Klasse, Alter, Behinderung, Gender und sexueller Orientierung hängen zusammen und verstärken sich gegenseitig. Deshalb plädieren Aktivist/innen wie die Studentin und Linke-Kandidatin Anastasia Iampolskaia und Ada vom Kollektiv Richtung 22 dafür, die LGBTIQ+-Bewegung stärker zu politisieren und die Luxembourg Pride zu entkommerzialisieren. Queere Verbände in Städten wie Freiburg oder Maastricht finanzieren ihre Prides ausschließlich über Spenden, Merchandise und Einnahmen aus Partys und können deshalb wesentlich radikalere Forderungen stellen.

Rosa Lëtzebuerg, das bislang das „Monopol“ für die Organisation der Veranstaltung hält, sieht sich wegen mangelnder finanzieller und personeller Ressourcen dazu nicht in der Lage. Seinem in der Satzungsänderung von 2021 formulierten Anspruch, der „Dachverband lokaler queerer Organisationen“ zu sein, kann der Verein nicht gerecht werden. Zwar formuliert Rosa durchaus politische Forderungen, klagt sie aber nicht offensiv genug ein. Als Luxemburgs einziges queeres Café infolge einer hanebüchenen Entscheidung der Stadt Differdingen im März schließen musste, verzichtete der Verein auf eine Stellungnahme.

An das Familienministerium gebunden ist Rosa Lëtzebuerg lediglich über eine Konvention, die aber nur punktuell Zuschüsse für Veranstaltungen wie Rundtischgespräche und Konferenzen vorsieht. Subventioniert werden lediglich das Cigale (mit 470 000 Euro) und das erst im April eröffnete Rainbow Center (294 000 Euro), die jedoch vor allem Beratung, Aufklärung und kulturelle Events anbieten. Ehrenamtliche, die sowohl die politische Arbeit leisten, als auch die Pride organisieren, hat Rosa Lëtzebuerg eigenen Aussagen zufolge nur noch ein halbes Dutzend. Laurent Boquet und Andy Maar wünschen sich, dass wieder mehr Leute sich engagieren, damit die Bewegung eine neue Dynamik erhält.

Politik Allerdings können vor allem junge Aktivist/innen sich nicht vorstellen, bei Rosa aktiv zu werden. Obwohl der Verein seit einiger Zeit aktiv dagegen ankämpft, haftet ihm weiterhin der Ruf an, ein Zusammenschluss homonormativer weißer Männer und politisch beeinflusst zu sein. Im Vorstand der Rosa Lëtzebuerg Event asbl., die die Organisation der Pride in Esch ermöglicht, sitzt seit der Gründung 2014 der frühere Escher LSAP-Schöffe Dan Codello, der inzwischen Koordinator für grenzüberschreitende Zusammenarbeit der Stadt Esch ist, der aktuelle DP-Schöffe Pim Knaff war bis vor wenigen Wochen ebenfalls Mitglied.

Alternative queere Bewegungen existieren in Luxemburg kaum. Das Cigale, das seit der Abspaltung von Rosa Lëtzebuerg mit progressiven Konzepten arbeitet, ist von der Finanzierung des Familienministeriums abhängig und hält sich mit politischen Aussagen zurück. Das Cid Fraen an Gender verfolgt zwar einen intersektionellen feministischen und trans-inklusiven Ansatz, will aber bei der Pride nicht unbedingt in der ersten Reihe stehen, sondern lässt lieber den explizit auf LGBTIQ+-Rechte ausgerichteten Organisationen den Vortritt. Das queerfeministische Laboratoire d‘études queer, sur le genre et les féminismes ist vor allem im Forschungsbereich und im Rahmen von Konferenzen aktiv und die LGBT+-Students‘ Association der Uni Luxemburg tritt für eine Student/innenorganisation sehr dezent auf (ein Gespräch mit dem Land scheiterte an der von der Vereinigung geäußerten, „nicht verhandelbaren“ Bedingung, den Artikel vor der Veröffentlichung lesen und Änderungen vornehmen zu können). Das Kollektiv Richtung 22 engagiert sich zwar auch im queeren Bereich, ist aber eher künstlerisch als rein politisch orientiert. Performative queere Events während der Pride Week finden lediglich am (heutigen) Freitag in der Kulturfabrik statt.

Am Ende eines Workshops, den die Cigale-Mitarbeiterin Elsa Fischbach am Samstag im Rainbow Center leitete, erarbeiteten die Teilnehmer/innen den Vorschlag, dass die Luxembourg Pride künftig nicht mehr von Rosa alleine, sondern von einer Plattform organisiert werden könne. Diese Plattform solle ähnlich funktionieren wie die Jif, die seit einigen Jahren am 8. März den Fraestreik veranstaltet, heißt es in dem Vorschlag. Die Jif ist ein Zusammenschluss von Feministinnen, queeren Aktivistinnen, Antirassistinnen, Menschenrechtlerinnen sowie Vertreterinnen des OGBL (der in diesem Jahr zum ersten Mal offiziell an der Pride teilnimmt) und linken politischen Parteien. Im Rahmen einer solchen Plattform könnten auch die LGBTIQ+-Verbände gemeinsam mit anderen Organisationen, die sich gegen jegliche Formen von Diskriminierung einsetzen, radikalere politischere Forderungen stellen, ohne dass eine Organisation alleine die Verantwortung trägt und Angst davor haben muss, dass ihre Konvention mit dem Ministerium aufgelöst wird oder ihre Subventionen gekürzt werden. Die Jif verzichtet gänzlich auf Sponsoren und organisiert auch keine Konzerte oder Partys. So weit muss die Pride nicht gehen. Mit einem kleineren Budget ließe sich bestimmt auch ein buntes und vielleicht sogar noch anspruchsvolleres und politischeres Unterhaltungsprogramm zusammenstellen.

Luc Laboulle
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